Am 15. Mai fanden international Solidaritätsveranstaltungen zu Nuit Debout unter dem Motto #GlobalDebout statt. In der Schweiz wurden Versammlungen in Basel, Genf und Zürich abgehalten. In Zürich war die Juso Mitorganisatorin der Nuit Debout. In der Praxis hat sich aber gezeigt, dass es nicht möglich ist, eine solche Bewegung aus dem Boden zu stampfen. Dieser Artikel ist eine Auswertung der Bewegung in Frankreich, der Nuit Debout und eine Stellungnahme zur Frage, welche Schlüsse die Juso ziehen muss.

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Die kapitalistische Krise bedeutet für die ArbeiterInnenklasse untere anderem Entlassungen, Lohnkürzungen und Sparprogramme. Kurz: Die Verschlechterung des Lebensstandards. Diese Angriffe auf die Lebensbedingungen der Menschen hinterlassen ihre Spuren im Bewusstsein. Die politische Radikalisierung der Massen entwickelt sich dabei nicht schrittweise und linear, sondern sprunghaft und explosiv. Das konnte bereits in Griechenland (Syriza) und Spanien (Podemos), Großbritannien (Corbyn) und den USA (Sanders) beobachtet werden. Die Bedeutung all dieser Phänomene ist klar: Politische Alternativen können enorm an Anziehungskraft gewinnen. Der Kapitalismus hat den ArbeiterInnen nichts mehr zu bieten, ausser dem weiteren Absturz in die Prekarisierung.

Die Vollversammlungen der Jugend in Frankreich
In Frankreich wurden im Zuge der letzten Monate in den meisten Schulen und Fakultäten Vollversammlungen abgehalten – lange vor dem Phänomen Nuit Debout. Dies war eine Reaktion auf die El-Khomri-Reform (eine Arbeitsgesetzreform, welche die Verlängerung der Arbeitszeiten, Lohnkürzungen, Verschlechterung des Kündigungsschutzes und Anderes beinhaltet, siehe Die Jugend Frankreichs will nicht schlafen). Die SchülerInnen und StudentInnen diskutierten in den Unis und Schulen den Inhalt des neuen Gesetzes und mögliche Kampfmassnahmen, welche dagegen eingesetzt werden könnten.

Diese Vollversammlungen an Fakultäten und Gymnasien (frz.: Lycées) waren vorbildlich organisiert. Die Sitzungsleitung wurde gewählt und über jeder Frage, die gestellt wird, wurde abgestimmt. Diese Versammlungen haben die Bildungsstreiks und Demos beschlossen, organisiert und verwirklicht.

Fakultäts-Vollversammlungen mit weniger als 500 Teilnehmenden stellen jeweils einen, Versammlungen mit mehr als 500 Teilnehmenden zwei Delegierte für die nationale Delegiertenversammlung, welche die landesweite Koordination sicherstellt. Dieses System ist sowohl auf regionaler als auch auf nationaler Ebene effektiv und zielführend. Es stellt sicher, dass die Kämpfe demokratisch beschlossen und geführt werden.

Die Vollversammlungen haben eine grosse Autorität bei den SchülerInnen und StudentInnen und weisen einen ausgeprägt demokratischen Charakter auf. Ihren Ursprung findet diese Form in den Bewegungen von Mai 68. Bei den Protesten von 2006 gegen den Erstarbeitsvertrag (frz.: CPE) und 2010 gegen die Pensionsreform wurden die Vollversammlungen weiter verbessert.

Die Geburt der Nuit Debout
Als am 31. März mehr als 1,5 Millionen Menschen gegen die Reform demonstrierten, die Regierung aber nicht zurückwich, radikalisierte sich die Bewegung weiter. Aufgrund des Ausnahmezustandes, welcher nach den Anschlägen im November 2015 verhängt wurde, verhält sich die Polizei noch repressiver als zuvor. Unzählige DemonstrantInnen wurden verhaftet und die Polizisten sind bis an die Zähne bewaffnet (unter anderem mit Sturmgewehren). Ein Teil der sich politisierenden Bevölkerung antwortete darauf mit Nuit Debout, der Besetzung von öffentlichen Plätzen, wo die Aufgaben der Bewegung diskutiert wurden.

Dabei zeigten sich konkrete Schwierigkeiten. Die konsensorientierte Herangehensweise von Nuit Debout – im Gegensatz zu den Vollversammlungen – kann nur sehr schwerfällig und langsam Entscheide finden. In der Realität bedeutet das oft, dass nicht einmal ein Beschluss gefasst werden kann, wenn 99% der Anwesenden einer Meinung sind. So wird die Beschlussfassung störanfällig gegenüber der Sabotage von verschiedenen Kräften.

Die Form der Organisation
Das Auftreten des Phänomens Nuit Debout und ihr riesiges Ausmass, ist Ausdruck der Abwesenheit jeglicher politischen Führung, welche dem massiven Protest gegen das Gesetz einen konkreten Plan zum Bezwingen der Regierung vorgeschlagen hätte. Da die Regierung trotz Millionendemos keinen Millimeter zurückwich haben die Protestierenden realisiert, dass eine andere Strategie nötig ist. Es war aber niemand da, der eine anzubieten hatte.

Schauen wir uns die wichtigsten Linksparteien an, welche dazu in der Lage gewesen wären:

Einerseits die Parti Socialiste (PS), die französische Sozialdemokratie. Diese stellt seit 2012 die Regierung unter Präsident Francois Hollande. Hollande ist nicht umsonst der unbeliebteste Präsident seit 1958. Mit den ununterbrochenen Sparmassnahmen und Gesetzesreformen hat sich die PS in den Augen der Jugend und der Arbeitenden völlig diskreditiert und hat die anfänglichen Sympathien der Bevölkerung verspielt.

Andererseits gibt es beziehungsweise gab es die Front de Gauche. Diese bestand aus verschiedenen linken Parteien und stiess im ersten Wahlgang 2012 auf grosse Sympathien in der Bevölkerung. Doch ihr wichtigstes Mitglied, die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF), scheut sich nicht, bis zum jetzigen Zeitpunkt immer noch Wahlallianzen mit der Parti Socialiste einzugehen. So verpasst sie es, sich vor den enttäuschten Massen als Alternative zu präsentieren.

Die Führung der Gewerkschaften verhielt sich lange passiv und misstrauisch, weil sie wenig Einfluss auf die Bewegung haben, die sich gegen die El-Khomri-Reform gebildet hat. Sie spielen eine hemmende Rolle, während die Gewerkschaftsbasis sie weiter vorantreibt. Deshalb herrscht in Nuit Debout zum Teil den Gewerkschaften gegenüber eine kritische Stimmung.

Alle grossen linken Parteien haben die Angriffe auf den Lebensstandard der arbeitenden Klasse mitgetragen oder waren nicht in der Lage, den Angriffen einen organisierten Widerstand entgegenzusetzen. Nuit Debout ist der Versuch, aus einem Parteiensystem auszubrechen, dessen Führungen die Interessen der ArbeiterInnen, SchülerInnen und StudentInnen systematisch verraten haben.

Die Massen erkennen die Notwenigkeit der kollektiven Organisation und Entscheidungsfindung aus ihrer täglichen Erfahrung. Die Nuit Debout in Frankreich ist ein Phänomen, welches nur entstehen konnte, weil keine der bestehenden Organisationen den Anliegen der Bewegung Ausdruck verleihen konnte. Die Abscheu der traditionellen Organisationen gegenüber der Nuit Debout zwingt die Bewegung in neue Strukturen und Organisationsformen. Diese werden im diametralen Gegensatz zur Organisationsform der reformistischen Parteien konzipiert: flache Hierarchien, wenig Struktur, keine Mehrheitsentscheide und offen für alle.

Seither hat sich die Situation weiter verändert. Durch den enormen Druck der Basismitglieder der Gewerkschaften ist eine Streikbewegung entstanden, welche gewisse Sektoren beinahe lahmlegt (Energie, Öffentlichen Verkehr). Dabei sind gewisse Gewerkschaften (vor allem der CGT und FO) zum Bezugspunkt des radikalsten Teils der ArbeiterInnen geworden. Die Energie des Protests peitscht die Führung gnadenlos voran.

Dabei muss man verstehen, dass die aktuelle massive Streikbewegung durch die alten gewerkschaftlichen Strukturen entstanden ist, obwohl diese eigentlich eine Bremse darstellen, denn es gibt keine Alternative! Die wichtigste Frage ist also, wie wir eine solche aufbauen können.

Internationale Solidarität, denn der Kampf ist der gleiche!
Am 15. Mai wurde, unter dem Slogan #GlobalDebout, der internationale Solidaritätstag zur Nuit Debout ausgerufen. Es wurde versucht, die Bewegung aus Frankreich nach Genf, Basel und Zürich zu importieren. Dass die Juso in Zürich die Nuit Debout initiierte, war ein lobenswerter Beispiel der internationalen Solidarität.

Während in Genf und Basel nur wenige Dutzend TeilnehmerInnen anzutreffen waren, versammelten sich in Zürich auf dem Bürkliplatz etwa 200 – zumeist junge – TeilnehmerInnen. Viele Anwesende waren bereits politisch organisierte AktivistInnen,  andere waren nicht in Organisationen aktiv. Die politischen Diskussionen drehten sich vor allem um die Sparpakete, insbesondere in der Bildung, und die Flüchtlingsfrage. Doch es wurde viel Zeit mit einer müssigen Diskussion über Medienarbeit verloren.

Der Zuspruch zeigt, dass der Kampf gegen die Reform auch einen Teil der Jugend in der Schweiz inspiriert. Die Juso muss sich nun dafür einsetzen, ihn in die Schweiz übertragen. Dazu braucht es eine klare Betrachtungsweise, was in Frankreich geschieht, um die richtigen Schritte zu gehen. Als linke Partei sollten wir vom Kampf gegen die El-Khomri-Konterreform nicht die improvisierte Organisationsform der Nuit Debout übernehmen. Den diese ist ja gerade Ausdruck des schmerzlichen Fehlens einer revolutionären Organisation. In der Schweiz hätte die Juso das Potential, diese Organisation zu sein!

Anstatt die Versammlungen der Nuit Debout auferstehen zu lassen, wäre es eine Möglichkeit gewesen, dass die Juso eine SolidaritätsschülerInnendemo an den Streiktagen in Frankreich organisiert. Dann hätte wir nicht die diffuse Seite der Bewegung kopiert, sondern die der heldenhaften Lycée-SchülerInnen und StudentInnen, welche mit ihren Vollversammlungen und selbstorganisierten Demos die Bewegung erst ins Rollen gebracht haben. Gleichzeitig wäre es ein Versuch gewesen, ihren Kampf mit dem unsrigen zu verbinden. Denn die beste internationale Solidarität ist es, den Kampf gegen die Angriffe der herrschenden Klasse hier zu führen.

Wieso bauen wir die Juso auf?
Bewegungen zeichnen sich durch ihre Explosivität; den schnellen Wechsel von Inaktivität zu enormer Aktivität aus. Sie haben aber keine Konstanz und bedeuten ein Aufflackern des Widerstandes. Weil die Radikalisierung der Jugend in der Schweiz noch am Anfang steht, gab es bisher nur wenige Ausdrücke davon – zum Beispiel um die kantonalen Sparmassnahmen. Nur die Tanz-Dich-Frei- und Occupy-Bewegung hatten einen annähernd landesweiten Charakter.

Organisationen konservieren und überliefern die Erfahrungen und Kampfmethoden im Klassenkampf. Der Aufbau der Juso geht schon seit Jahrzehnten vonstatten, sie hat Erfahrungen gemacht im Kampf gegen den Irakkrieg, den Atomkraftwerken sowie in den Occupy- und Freiraumbewegungen. All diese Bewegungen sind aufgeblüht und wieder verwelkt. Die Juso hat all diese Bewegungen erlebt und ist daran gewachsen. So schafft sie Strukturen, erzeugt politische Konstanz und verankert sich in der Jugend. Die Juso ist also eine organisierte und erfahrene Kraft.

Die Erfahrung ist nicht abstrakt – es sind die GenossInnen, die sie erwerben und weitergeben. Gerade jetzt, wo der Widerstand in Frankreich vorrevolutionäre Ausmasse annehmen könnte, ergibt sich die Möglichkeit, Solidaritätsreisen in französische Städte zu organisieren, wie das die Strömung „Der Funke“ wiederholt gemacht hat. Die Impressionen, welche die Schweizer GenossInnen dort gewinnen konnten, waren lehrreich, motivierend und inspirierend.

Die Organisation gibt uns eine grosse Schlagkraft. Das Aktionsprogramm der Juso gibt uns das geeignete Werkzeug und die richtigen Positionen. GenossInnen mit Erfahrung im Klassenkampf erlauben es uns, den Einfluss unserer Partei auf die Bewegungen zu stärken.

Unsere Aufgaben in der Bewegung
Durch die Intervention in die Bewegung wird ermöglicht, der Bewegung zusätzliche Schlagkraft zu verleihen. Einerseits indem die GenossInnen aufrichtig in der Bewegung arbeiten, andererseits durch die Vorteile einer organisierten Vorgehensweise. Zusätzlich auch, indem sie ihre Erfahrungen der Bewegung vermittelt.

Gleichzeitig erklären wir den breiteren Kontext der kapitalistischen Krise. Die Angriffe erfolgen in allen Lebensbereichen. Die KapitalistInnen können die Krise nicht anders bewältigen, als die Kosten der breiten Masse aufzubürden. Der Kampf ist nach einem Teilsieg nicht zu Ende, sondern muss am nächsten Tag weitergeführt werden.

Mit dieser Orientierung lassen sich die vielseitigen Kämpfe mit ihren unterschiedlichen Zielen zu einem verallgemeinerten, gezielten Klassenkampf vereinen, in dem die Interessen der ArbeiterInnen, Lernenden, SchülerInnen und StudentInnen – also der Mehrheit der Menschen – konsequent vertreten werden.

Ziel der Partei muss es also sein, der Radikalisierung der Jugend, im kleinen oder grossen Rahmen, einen sozialistischen Inhalt zu vermitteln. Der steigenden Radikalisierung treten wir nicht mit dem suchenden Ausdruck der Nuit Debout entgegen, sondern mit konkreten Kämpfen gegen die hiesigen Sparmassnahmen.

Nuit Debout hat gezeigt, dass die Juso offen auftreten muss. Wir haben ein politisches Programm, welches wir in die Bewegung hineintragen und dort demokratisch mit den verschiedenen vorhanden politischen Antworten messen. Dabei sind wir überzeugt, dass unsere demokratisch erarbeiteten Antworten die besten sind, um die Bewegung zum Sieg zu führen. Als Juso wollen wir die Führung der Bewegung übernehmen. Nicht als Selbstzweck, sondern weil wir davon überzeugt sind, dass die Bewegung mit unserem Programm und unseren Methoden ihr Ziel erreichen kann.

In der konkreten Aktion können wir die Vorteile unserer Organisierung beweisen und unsere Erfahrungen mittels des Programmes einbringen. So werden wir die Unorganisierten überzeugen sich unserem Kampf anzuschliessen. Dann kann sich die bevorstehende Radikalisierung der Jugend in der Juso ausdrücken und die Juso ihr einen revolutionären Ausdruck geben.

Wo immer sich Jugendliche organisieren, wollen wir präsent sein. Die Organisation der Jugend sind wir!“ (Aktionsprogramm, 2014)

Jonas Nerú
Juso Winterthur