Er galt als unwählbar! Corbyn war nur aus Erbarmen der Parteirechten und um der „Demokratie willen“ auf die Kandidatenliste der Labour gelandet. Und dann rollte er das Feld mit Erhalt von knapp 60 % der Stimmen von hinten auf – ein Meisterstreich, welcher die Bürgerlichen dazu bringt, einen einzelnen Mann als Böllimann der Nation darzustellen. Gleichzeitig verloren die Blairisten durch ihren Einschätzungsfehler öffentlich ihre linke Maske. Mit grotesken Drohgebärden über Putschpläne verleihen sie ihrer Misere Ausdruck.

Corbyns Sieg ist kein Zufall. Seine Wahl zum Vorsitzenden der Partei ist Ausdruck dessen, welch drastisches Ausmass die Entfremdung zwischen der Führung der Labour und den sich zunehmend radikalisierenden Massen angenommen hat. Diese wurden hauptsächlich durch seine klaren Antiausteritätsaussagen angesprochen. Des Weiteren hatte er seinen Wahlsieg einem Kalkülfehler der führenden Bürokraten der Labour zu verdanken. Sie wollten den Einfluss der traditionell linksorientierten Gewerkschaften und StammwählerInnen minimieren. Dazu wurde ein neuer Zugang zur Stimmabgabe zugelassen: SympathisantInnen konnten sich, ohne offiziell Mitglied zu sein, für 3 Pfund das Stimmrecht kaufen. Sinn und Zweck dessen war es eigentlich, eher rechts ausgerichtete WählerInnen anzuziehen und somit die Mitglieder, die tendenziell eher links stimmen, auszustechen. Dadurch wurde das Abstimmungsergebnis im Vorfeld der Wahlen zu einem Mysterium, denn mindestens 120‘000 Stimmberechtigte, die weder dem einen noch anderen Spektrum zugeordnet werden konnten, wählten. Wie sich herausstellte, waren die meisten dieser neuen Wähler jung, bisher nicht der Partei angehörig, die sich eben genau aufgrund von Corbyns Antiausteritätsaussagen für ihn entschieden.

Die Wahlergebnisse bezeugen das enorme politische Potential der ArbeiterInnenbewegung in Grossbritannien, welches von der Labour Partei seit Tony Blair nicht mehr aktiviert werden konnte. Mittlerweile haben sich auch drei grosse britische Gewerkschaften hinter Corbyn gestellt.

Sieg der Antiausterität

Corbyn gewann seine Wahl mit unvorhergesehener Unterstützung: knappe 60% der zugelassenen Wähler standen hinter ihm. Seit der 2000er-Wende kämpfte die Labour Partei damit, die Mitgliederzahlen nicht unter 200‘000 fallen zu lassen. Nach Corbyns Wahl sind innerhalb weniger Wochen 70’000 Vollmitglieder beigetreten. Dies entspricht effektiv einem dreissigprozentigen Mitgliederwachstum, was den enormen Anklang seiner Wahlplattform verdeutlicht.

Weshalb Corbyn eine solch breite Unterstützung geniesst, ist offensichtlich: er war der einzige Kandidat mit einer klaren Linie; der zentrale Aspekt aber, der ihm aber zum Wahlsieg verhalf, war seine Antiausteritätsplattform. Welch immensen Anklang die Positionierung gegen Austerität findet, widerspiegelt sich in der britischen Arbeiterbewegung momentan sehr klar. So empfingen 60‘000 ArbeiterInnen die Tories an ihrem Parteikongresstag am 4. Oktober in Manchester mit dem Slogan ,No to Austerity! Yes to Workers’. Einmal mehr wurde der enorme Unmut, der sich in Grossbritannien zu manifestieren beginnt und nicht mehr zu unterdrücken ist, bestätigt. Das Bedürfnis nach einer klaren, unerschütterlichen linken politischen Alternative und die nötige Unterstützung dafür ist in der ArbeiterInnenbewegung vorhanden. Und Corbyn ist auf jeden Beistand von unten angewiesen – sei es auf die Gewerkschaften oder die der Labour Youth, denn nur mit einer breiten und geschlossenen Unterstützung hat er gegen die Rechten, die Blairisten, eine Chance.

Parteiinterne Isolation

Corbyn hat jetzt die Unterstützung der Massen, in der Parteiführung steht er aber allein da. Er will durch eine ‚Politik von Unten’ erreichen, dass der Sozialismus wieder das tragende Element der Partei wird, wozu er die aktive Mitarbeit eines jeden Mitglieds benötigt. Wie er in seiner ersten Ansprache als Parteivorsitzender betonte, soll die Ausrichtung der Partei wieder durch Mitglieder entschieden werden und nicht mehr durch den Vorstehenden oder die SchattenministerInnen.

Die ParlamentarierInnen, die SchattenministerInnen sind, könnten eigentlich ein direktes Sprachrohr der Basis in den Departementen des Parlaments darstellen. Das Schattenparlament besteht aus „OppositionsparlamentarierInnen“, die den jeweiligen MinisterInnen zugeordnet werden. Sie können deren Politik öffentlich im Parlament hinterfragen und Alternativen darstellen.

Die Krux aber ist, dass die ParlamentarierInen ausschliesslich Blairisten sind. Die Umsetzung Corbyns neuer Parteilinie steht daher auf wackligen Beinen. Wenn die ParlamentarierInnen sich weigern, die durch die Parteimehrheit vorgeschriebene Linie umzusetzen, bleibt ihm nichts anderes übrig als deren bittere Pille zu schlucken oder diese Repräsentanten aus der Partei auszuschliessen; mit der Folge, dass sie ihre Sitze als Unabhängige behalten, da die ParlamentarierInnen nur durch ihre Wahlkreise gewählt und abgesetzt (mandatory re-selection) werden können. Wozu dies führen kann, wurde bereits am 14. Oktober bei der Parlamentsabstimmung über die Torie Budget Charta demonstriert. Die Charta skizziert die Ausgaberegelung für die Tätigkeiten des vom aktuellen Premierminister ausgewählten Kabinetts, der Exekutive (Government). Mitglieder des Kabinetts sind die MinisterInnen, welche wiederum die  Staatsdepartemente leiten. Die meisten sind ebenfalls ParlamentarierInnen. Die neu erlassene Charta fordert einen Haushaltsüberschuss, welcher nur mit neuen Austeritätsmassnahmen erreicht werden kann. Da die Charta somit Austeritätsmassnahmen indirekt verankert hat, war es eine zentrale Abstimmung für den neuen Labouranführer, um seine Parteilinie im Parlament kundzutun. Das Ergebnis: 16% der Labour-ParlamentarierInnen stimmten entweder gegen Corbyns Parteilinie oder waren offiziell abwesend.

Doch bereits am ersten Parteitag mit Corbyn als Vorsitzenden traten die Differenzen zwischen den verschiedenen Parteiflügeln offen zutage. Gewisse Blairisten proklamierten direkt nach der Wahl öffentlichen, dass Corbyn durch Putschmanöver seinem Posten enthoben werden soll. Von diesen wechselten sie zu einer ,wait and stab’-Taktik.

Balanceakt zwischen linker Basis und rechter Führung

Corbyn seinerseits versuchte am Parteitag mit Eingeständnissen und strategischem Stillschweigen zu verschiedenen Themen der anderen Seite die Hand zu reichen. Mehrere zentrale Punkte seiner Wahlplattform wurden nicht von ihm angesprochen – inklusive der heiklen Trident-Käufe, welche er stark bekämpft. Allerdings wird er, wenn diese im Parlament zur Abstimmung kommen, seine Leute trotzdem nicht an die Parteilinie binden (free vote). Dass die Gradwanderung zwischen linker Parteibasis und rechter Führung mit solchen Aktionen langfristig gelingt, ist unwahrscheinlich.

Die trotzigen Bürgerlichen prophezeien eine kurze Karriere. In neidtriefenden Hetzen betonen sie, dass Corbyns ständiges Hinweisen auf den enormen Parteizuwachs eine Reflektion seiner eigentlichen Schwäche sei (sic.). Zudem habe er zur konkreten Politik nichts beizutragen, denn mit Menschenrechten würde kein Premierministersitz errungen werden und er sei sowieso so links, dass er niemals in die Downing Street einziehen werde. Andere Entwertungsversuche ihrerseits lassen sich nicht vollständig zurückweisen. Sie heben beispielsweise hervor, dass der defizitäre Staatshaushalt oder die gesamtwirtschaftliche Situation am ersten Parteitag mit Corbyn an der Spitze nie angesprochen wurden.

Corbyns rechte Hand, McDonell, sowie Corbyn selbst, hatten ein Ende von Unternehmenssteuerhinterziehung und der Bevorteilung von Unternehmen angekündigt. Diese Massnahmen sollen, in Verbindung mit Quantative Easing, die Finanzierung von geplanten Reformen sichern.Schlussendlich wird aber klar, dass weder Corbyn noch McDonnell systemische Antworten geben, die über die altbekannten keynesianischen Ideen hinausgehen. Im Namen sind sie Sozialisten, aber sie vertreten die Idee, dass Austerität ein politischer Entscheid ist und schiessen dabei am sozialistischen Ziel vorbei. Dennoch hat die Bewegung mit der Gründung der eigenen, neuen Fraktion ‚Momentum’ grosses Potential, die ihn unterstützende Parteibasis strategisch zu organisieren. Der Versuch der systematischen Organisation der Massen durch eine linke Fraktion kann der erste Schritt sein, welcher für eine signifikante politischen Wende nötig ist.

Parallelen des Fortschrittes?

Diese Entwicklung ist ein riesiger Fortschritt für Grossbritannien. Das Land wurde gleichermassen als immun gegen politische Radikalisierung dargestellt wie die Schweiz, die bis anhin so wahrgenommen wird. Wie die meisten sozialdemokratischen Parteien in Europa hat die Labour das Vertrauen der WählerInnen als eine linke Alternative verloren. Sie war seit Tony Blair dominiert von dessen Ideen, welche nur noch minimal von jenen der Tories abwichen. Dementsprechend wurde in ihrem Namen der  gleiche Abbau an Sozialleistungen, Liberalisierungen und unternehmensbegünstigenden Reformen durchführt. Angesichts dessen ist die Wahl Corbyns ein Ausdruck eines enormen Vertrauenszugeständnisses.

Die Situation der Schweiz unterscheidet sich nicht wirklich von der Grossbritanniens. Auch hier spricht die SP ihren Wählern Radikalität ab und schreibt ihnen zu, dass ihre Ausrichtung die politische Mitte mit Kompromissen sei und führt aufgrund dieser Annahme munter Sparmassnahmen durch. Doch auch die Schweizer Bevölkerung radikalisiert sich unter der Oberfläche zunehmend. Dies bezeugen die tausende von Menschen, welche in den letzten Monaten immer wieder in Empörung über das Handhaben der Flüchtlingskrise auf die Strasse gingen. Die Linke hat dazu keine systematische Antwort, keinen klaren Standpunkt, wie die Situation gehandhabt oder verbessert werden kann. Und schlussendlich wurden die Solidaritätskundgebungen auch nicht konkret unterstützt oder in den Wahlkampf miteinbezogen. Es ist damit klar, dass die politische Aufmerksamkeit der Massen gross ist, aber die Führung der Linken ihre Wählerschaft dennoch nicht in diesem Licht sehen will.

Die durch die Sparmassnahmen folgenden Einschnitte in den Lebensstandard hierzulande werden langfristig tendenziell dazu führen, dass sich dieser dem europäischen Standard anpasst. Damit wird sich die politische Aufmerksamkeit und Radikalisierung noch verstärken, denn der Unmut ist bereits vorhanden. Die Linke muss sich nun darauf vorbereiten und sich endlich wieder nach dem Puls ihrer Wähler, den Lohnsabhängigen, richten. Wenn sie es verpasst den Wählern eine Stimme zu geben, gräbt sie sich ihr eigenes Grab. Doch falls die Linke eine klare politische Alternative zur kapitalistisch bedingten Austerität bieten würde, könnte sich eine ähnlich explosive Bewegung zur Unterstützung, wie wir sie derzeit in Grossbritannien beobachten können, auch hier in der Schweiz entfalten. Eine konsequente Antiausteritätspolitik würde ihnen eine Plattform geben und könnte darum die Anfänge einer politischen Umwälzung ermöglichen. Darum müssen wir Corbyns Politik, seine Fraktion und die konsequente Umsetzung seiner Antiausteritätspolitk hierzulande sowie international fordern und unterstützen.

Salome Grolimund
Juso St. Gallen