In einer Krise werden die herrschenden RepräsentantInnen, die am besten sichtbar sind, als erste getestet und oft abgewählt. Es ist aber eine Illusion, dass es damit zu einem natürlichen Reinigungsprozess kommt und neue, bessere, weniger verdorbene Steuermänner und -frauen den Weg aus der Krise finden. Die bürgerliche Demokratie ist nicht fähig, kapitalistische Krisen vollends zu überwinden.

Bürgerliche Demokratie ist Luxus!
Die bürgerliche Demokratie ist die ideale Rechtsform für den Kapitalismus, um sich zu entfalten. Das Kapital kann darin seine Macht zwar indirekt, aber umso sicherer ausüben. Die Grundwerte basieren auf der Gleichheit vor dem Gesetz sowie in den politischen Rechten und der Freiheit in der Verfügung über den eigenen Besitz, dem Privateigentum. Natürlich kommen diese zwei Bereiche (Politik und Ökonomie) in Konflikt mit dem Interesse der Kapitalisten, den eigenen Besitz so stark als möglich zu vermehren. Das Grundgesetz des Kapitalismus ist genau, dass sich Kapital vermehren soll – die Akkumulation von Kapital.

Im Versuch, den eigenen Besitz zu vermehren, ist es sehr oft nützlich, die politische Gleichheit zu umgehen oder sie hinter die individuelle Freiheit des Profitstrebens zu stellen. Dazu gibt es zwei Möglichkeiten. Einerseits mittels direkter, offener Korruption, indem Privilegien und Vorteile bei hohen BeamtInnen oder Exekutivmitgliedern erkauft werden. Andererseits mittels der indirekten Korruption; Engels und Lenin sprachen von “Allianzen der Regierung und Börse” oder einfach von Personalunion der beiden. Die moderne Form davon ist das Lobbying oder der Einsitz von ParlamentarierInnen in Verwaltungsräten.

Die bürgerliche Demokratie teilt ihre politischen Subjekte eben nach dem ein, was die BürgerInnen ausmacht: der Besitzstand. Sie hat eine schwere Veranlagung zur Korrumpierung, nur tritt diese nicht immer zutage. Niemand stört sich grundlegend daran, wenn trotz Korruption der Lebensstandard steigt. Wenn der Wohlstand wächst, und dieser dem grössten Teil der Bevölkerung zu Gute kommt, und keine anderen Krisen auftreten, haben weder die Lohnabhängigen noch die Bürgerlichen Anlass, die Demokratie zu bemängeln.

Colin Crouchs Buch «Postdemokratie» ist ein wichtiger Beitrag, der die reformistische Ansicht stützt, die (bürgerliche) Demokratie habe während dem Nachkriegsaufschwung ihren Hochpunkt erreicht. Der ehemalige Berater von Tony Blair schreibt, die Demokratie hätte einen langen Aufstieg gehabt, der in den 60er und 70er Jahren gipfelte und seither, vor allem ab den 90er Jahren, wieder abstiege.

Gute Politik und böse Wirtschaft
«Postdemokratie» prägte ein zentrales Deutungsmuster mit, das in der Linken grosse Verbreitung findet. Es geht darum, dass in der bürgerlichen Gesellschaft Ökonomie und Politik zwei getrennte Sphären sind. An dieser Feststellung ist nichts zu beanstanden. Aber es muss klar sein, dass diese Trennung künstlich ist. Schwierig wird es, wenn man annimmt, die beiden wären in der bürgerlichen Demokratie ursprünglich gleichberechtigt gewesen.

Crouch schreibt, dass die Ent-Demokratisierung daher komme, dass die Wirtschaft immer mehr Macht über die Politik habe. Damit werde die Demokratie untergraben. Wenn das Kapital immer offener regiert, können nur noch jene ihre Interessen durchsetzen, die das notwendige Geld haben. Die Korruption nimmt also Überhand. Korruption kann, laut Crouch, für eine Messung der Schwäche demokratischer Systeme dienen. Denn «[s]ie zeigt, dass die politische Klasse zynisch und amoralisch geworden, nicht länger kritischer Überprüfung ausgesetzt und von der breiten Öffentlichkeit abgeschnitten ist».

Wir bestreiten keineswegs Crouchs Feststellungen, dass das Kapital seit den 80er Jahren seine Macht offener gebraucht als zuvor. Doch sehen wir darin nur begrenzt eine Veränderung der Machtverhältnisse und sicher nicht eine grundsätzliche Abkehr von bürgerlicher Demokratie.

Die Veränderung besteht vor allem in der Grösse des Bereiches, über den die bürgerlich-demokratischen Repräsentativgremien entscheiden können. An der Art und Weise, wie darüber entschieden wird und welche Legitimation die Gremien haben, ändert sich nichts. Weiter stellen wir uns klar gegen Crouchs begrenzte Vorstellungskraft, dass der Idealfall in gutem Zusammenspiel von Wirtschaft und Politik bestehe. Für echte Demokratie müsste genau diese Trennung aufgehoben werden. Die Demokratisierung muss darauf abzielen, gesellschaftliche Kontrolle über die allgemeine Bedürfnisbefriedung zu erlangen – eine in Räten von der gesamten Bevölkerung demokratisch geplante Wirtschaft.

Symptome der Demokratiekrise
Nehmen wir an, die Krise äussere sich vor allem darin, dass sich die WählerInnen nicht mehr vertreten fühlen von den Gewählten. Wenn die MandatsträgerInnen den Bogen überspannen, werden sie wohl nicht mehr wiedergewählt. Doch was dann? Wer garantiert, dass es eine echte Alternative gibt? Genau die Farblosigkeit und die mangelnden Unterschiede zwischen Personen und Parteien sind Hinweise auf die Krise der Demokratie.

Während also auf der Ebene der Stimmberechtigten sinkende Wahlbeteiligung und mangelndes Interesse Symptome der Demokratiekrise sind, stehen dem die Bürokratisierung und Technokratisierung des politisch-parlamentarischen Betriebs gegenüber. Elitäre KommentatorInnen rügen: «Von einem mündigen Bürger darf man nicht nur erwarten, dass er sich selbst in politischen Dingen informiert, nein: Man muss es sogar von ihm verlangen» (FAZ). Entweder begreifen sie nicht oder sie vertuschen klassenbewusst, dass nicht grundsätzlich kein Interesse an der Mitbestimmung besteht, sondern schlicht keine oder nur sehr beschränkt eine Möglichkeit mitzubestimmen gesehen wird.

Ideologische Auseinandersetzungen werden in der bürgerlichen Demokratie marginalisiert. Der Parlamentarismus beschäftigt sich mit bodenständiger Sachpolitik. Ideologische Kämpfe können schwer in Gang gesetzt werden. Vor allem haben sich die linken Parteien in Europa seit den 90er Jahren fast völlig der bürgerlichen Deutungshoheit unterworfen. Ihre aktive Basis haben sie weitgehend eingebüsst.

Die lange totale Fixierung auf die bürgerliche Demokratie heute schwerwiegende Konsequenzen für die Linke. Plötzlich, seit Krisenausbruch zunehmend, sind nicht einmal mehr alten Spielregeln (Konkordanz) gesichert. Zugeständnisse an die Linke bleiben weitgehend aus.

Folgen der Krise
Heute sticht die Demokratie nicht mehr als Trumpf, um jede Entscheidung zu rechtfertigen. Und diese Entwicklung ist alles andere als wünschenswert für das Kapital. Denn die formale Legitimation der EntscheidungsträgerInnen durch Mehrheitsentscheid schützt weitgehend vor Widerstand gegen unbeliebte Vorlagen. Solche werden dann vielmehr bereitwillig hingenommen, selbst wenn der eigene Lebensstandard betroffen sein sollte.

Doch in einer ökonomischen oder organischen Krise, kann das Kapital nicht erlauben, dass die eigenen Interessen aufs Spiel gesetzt werden. Die demokratischen Rechte werden zum Risiko. Die bürgerliche Demokratie kann nur gedeihen und erhalten bleiben, wenn sie eine materielle Grundlage hat, d.h. wenn die Kapitalisten Profite einfahren können. Der Luxus der Demokratie bedingt die profitbringende Kapitalverwertung. Da sich eine klassenkämpferische Linke in der Schweiz vermissen lässt, wird die Diskussion über die Krisenrezepte bürgerlich geführt. Dabei gibt es zwei zentrale Positionen: Die Liberalen fordern mehr Demokratie, Offenheit und Sicherung der Existenz. Dem steht die Forderung nach autoritären, restriktiven Massnahmen gegenüber. Im Moment kann oder will keine der beiden Seiten den Kampf für sich entscheiden. Denn das autoritäre Vorgehen birgt eine grosse politische Gefahr. Es werden demokratische Rechte erhalten, aber gleichzeitig steigen sozialer Druck, Überwachung und Repression.

Dem Staat kommt also in der Krise eine zunehmend wichtige Rolle zu. Während in friedlichen, profitablen Zeiten die Verfügung über den Staatsapparat als gemeinschaftlich und demokratisch erscheint, ändert sich das nun: Der wahre Charakter des bürgerlichen Staates als Werkzeug der herrschenden Klasse tritt verstärkt zutage. Das kann verschiedene Formen annehmen und die unterschiedlichen Bereiche, über die moderne Staatsapparate verfügen, miteinbeziehen: Repression gegen soziale Proteste, die Interventionspolitik der Nationalbanken sowie perfide Verschärfungen der sozialen Absicherung (verschärfte Prüfpraxis bei Sozialleistungen, Ausweiten der Zumutbarkeit von Arbeitsplätzen (RAV)).

Die bürokratisch geführten Angriffe auf die Lohnabhängigen sind schwieriger zu bekämpfen als politische, die klare, personelle GegnerInnen schaffen. Die Argumentationen für die staatlichen Angriffe sind fast durchgehend die Finanzen. Schliesslich erlaube der enge Spielraum der Budgets einfach kein anderes Vorgehen. Vielmehr erwarten die FinanzdirektorInnen noch Applaus, wenn sie möglichst «sozial sparen» konnten.

Reaktionen der ArbeiterInnenbewegung
Die angestammten Parteien der Linken haben die Krise weder erwartet, noch haben sie wirklich Rezepte gefunden, um die organische kapitalistische Krise und damit die Krise der Demokratie zu überwinden. In der Schweiz biedert sich die SP bei den «progressiven» Bürgerlichen an.

Der Schwerpunkt der SP, und weiter Teile der Linken, ist die Anti-SVP-Politik. Im Kern lässt sich die, natürlich legitime, Kritik darauf reduzieren, dass die SVP den Rechtsstaat nicht respektiere. Der Rechtsstaat ist die Verkörperung liberal-bürgerlicher Ideologie Doch um ihn zu verteidigen, ist die SP, aber eigentlich die gesamte reformistische Linke, bereit fast alle politischen Prinzipien aufzugeben.

Die Konsequenz ist eine Volksfront gegen die Feinde der bürgerlichen Demokratie. Die Linke geht damit bereitwillig eine Selbstbevormundung ein. Kämpfe gegen die bürgerliche Ordnung sind so nicht mehr möglich. Die Vorraussetzung für ein Bündnis mit Bürgerlichen für deren Demokratie ist, dass die Waffen ruhen. Doch damit begeht die Linke einen schweren Fehler: Die Forderung nach Demokratie isoliert. Die Demokratie kann sich nur ausbreiten, wenn sich die Gesellschaftsform mitverändert. Doch die Trennung von Politik und Ökonomie ist eine Grundeigenschaft der bürgerlichen Gesellschaft.

Es ist korrekt, Demokratiedefizite anzuprangern. Einer korrekten Analyse folgend, müssten diese aber als normale Entwicklungen der bürgerlichen Demokratie begriffen werden. Der Luxus demokratischer Mitbestimmung wird rasch entzogen wenn der Kapitalismus in die Krise gerät.

Der Kampf für Demokratie muss also ein Kampf für eine qualitativ grundlegend andere Gesellschaft sein. In der bürgerlichen Gesellschaft ist keine Demokratie möglich, die alle Bereiche miteinbezieht. Die Forderung nach Demokratie ist eine nach gesellschaftlicher Kontrolle, vor allem darüber wie unsere Gesellschaft unseren Wohlstand produziert. In diesem Kampf können wir uns nicht auf die Bürgerlichen verlassen, sondern müssen auf unsere eigene Stärke, auf eine starke Linke, setzen. Alles andere ist blosse Selbstkorrumpierung und wird keine Demokratisierung zustande bringen.

Michael Wepf
Juso Basel-Stadt