[dropcap]D[/dropcap]er Marxismus ist nicht nur eine der bedeutendsten politischen Strömungen der Menschheitsgeschichte, er hilft auch Entwicklungen menschlicher Gesellschaften zu verstehen. Ein besonders nützliches Werkzeug dazu ist Trotzkis Gesetz von der ungleichmässigen und kombinierten Entwicklung.

Für uns MarxistInnen ist Geschichte nicht eine Aneinanderreihung einzelner grosser Ereignisse, die von historischen Lichtgestalten vorangetrieben werden. Noch ist sie eine Abfolge von Zufällen.
Der Weg, den Gesellschaften einschlagen, ist nicht willkürlich. Er ist ebenso Produkt der uns umgebenden Umstände, wie unsere Umwelt entscheidend dafür war, welchen Weg die menschliche Evolution einschlug und folgt damit gewissen Gesetzmässigkeiten.

Historisch betrachten
Für den jungen Marx war die Frage danach, wie Gesellschaften sich entwickeln und welche Kräfte bei dieser Entwicklung eine Rolle spielen, zentral.

Doch anders als die idealistischen SchülerInnen Hegels (zu denen Marx in jungen Jahren auch gehörte), welche Ideen und letztlich die Vernunft als die Triebkraft der Geschichte verstanden, entdeckten Marx und Engels die Bedeutung der Entwicklung der Produktivkräfte für die Entwicklung menschlicher Gesellschaften und legten damit den Grundstein für die materialistische Geschichtsschreibung.

Die Art, wie Zivilisationen entstehen, wachsen und wieder in sich zusammenstürzen, ist nicht Folge von göttlichem Willen, von Ideen oder Werten. Vielmehr bietet die uns umgebende Materie den Rahmen, in dem wir unsere Geschichte selber schreiben.

Materialistisch betrachten
Ideologien und Gottwesen sind nicht Ursprung, sondern Folge dieser Entwicklungen. So schreiben wir Menschen unsere Geschichte zwar immer selber, doch tun wir das nicht frei. Wir sind immer an die Bedingungen gebunden, in die wir hineingeboren wurden. Das fängt schon an mit den grundlegendsten menschlichen Unzulänglichkeiten, wie der Deckung unserer Bedürfnisse nach Nahrung oder Sicherheit. Wir entwickeln Werkzeuge, Methoden und letztlich auch gesellschaftliche Organisationsformen auf eine Weise, die es uns ermöglicht, unsere täglichen Bedürfnisse zu decken.

Mit Tontöpfen und Ackerbau waren die kleinen Gruppen von Menschen, die über das Land zogen, dazu in der Lage, Überschüsse zu produzieren und zu speichern. Diese Produktionsbedingungen für die Güter unseres täglichen Bedarfs sind es, die bestimmen, wie Gesellschaften organisiert sind. So wurden aus Grüppchen, in denen sich niemand mehr nehmen konnte, als gebraucht wurde – da ansonsten das Überleben der gesamten Gruppe in Gefahr geraten wäre – Dorfgemeinschaften, in denen sich einige einen grösseren Teil der produzierten Güter aneignen konnten.

Doch das angeeignete Mehrprodukt wollte verteidigt werden. Man bezahlte andere mit Gütern, damit sie einem den Besitz schützten. Konkurrierende Gemeinschaften traten auf. Wer grösser wurde, konnte sich besser schützen und fremde Güter rauben. So wurde das Privateigentum zur Triebkraft, welche die Bedingungen für die ersten Zivilisationen schuf.

Das Gesetz der ungleichen und kombinierten Entwicklung
Solche Entwicklungen verlaufen aber nicht linear und gleichmässig. So finden wir in Ländern wie Indien und China modernste Industrie und archaisch anmutende Landwirtschaft auf kleinem Raum gleichzeitig nebeneinander.

Diese Prozesse sind immer wieder von Brüchen und Impulsen gekennzeichnet, die von innen wie aussen kommen, das Geschehen beeinflussen und die Entwicklung einer Gesellschaft mit der anderer kombinieren. Genau darum geht es bei dem Gesetz der ungleichmässigen und kombinierten Entwicklung: Darzustellen, dass gesellschaftliche Entwicklung nicht überall nach demselben Muster abläuft, sondern komplexe und vielfältige Formen annimmt, Impulse von aussen aufnimmt und in ungleicher Form verinnerlicht.

Beispiel Feudalismus
Ein Beispiel für diesen kombinierten Charakter stellt die Herausbildung des mittelalterlichen Feudalismus dar. Während nämlich in der bürgerlichen Geschichtsschreibung versucht wird, diese Gesellschaftsform des Mittelalters unter einer homogenen Idee zusammenzufassen, verlief die Feudalisierung in Europa je nach Region und vorgefundenen materiellen Bedingungen völlig anders. Als Archetyp für dieses Lehnswesen gilt das Feudalwesen Frankreichs mit klar herausgebildeten Hierarchien aufgrund der Verleihung von Land durch einen Lehnsherrn. Das entscheidende Produktionsmittel dieser Epoche und dieser Region war Grund und Boden. Völlig anders sah die Entwicklung in Südeuropa aus, wo die Überreste römischer Gesellschaft und Verwaltung stärker waren. Feudalherren konnten hier Macht nicht auf gleiche Weise wie im mittelalterlichen Frankreich ausüben. Mehr Land war Eigentum von Vasallen und die Bedeutung der Städte war grösser. Das Bürgertum spielte so schon viel früher eine Rolle als Klasse von freien Handwerkern.

Anders verlief die Entwicklung im Norden Europas, wo aufgrund der grösseren Überbleibsel germanischen Stammeswesens die Zahl der Freibauern, die selber Land besassen, grösser war und sich Leibeigenschaft teilweise gar nicht durchsetzte – in solchen Regionen entstand eine zentrale Königsmacht erst spät. Diese Umstände hatten Auswirkungen auf die gesamte Entwicklung Europas und liessen diese Gesellschaften stets einen ungleichen Weg hin zur kapitalistischen Produktionsweise beschreiten.

So verlief die Feudalisierung je nach materiellen Gegebenheiten anders und zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Doch der Übergang zu einer anderen Produktionsweise fand stets im Kontext dessen statt, dass man Gesellschaften, mit denen man handelte und Kontakt hatte, Impulse gab, die dort Entwicklungen anstossen konnten.

Dialektisch betrachten
Solche Prozesse verlaufen aber nicht einseitig, sondern dialektisch, also wechselseitig. So gab das koloniale Plantagenwesen mit seinen Grossbetrieben und festen Arbeitsabläufen sowohl Impuls für den Aufbau imperialistischer Kolonialmacht als auch zum Aufbau von Fabriken als Produktionsstätten eines sich industrialisierenden Europas. Das Gesetz von der ungleichmässigen und kombinierten Entwicklung zeigt, dass der Marxismus als wissenschaftliche Methode viel mehr ist, als ein tumber ökonomischer Determinismus, der alle Entwicklungen mechanisch auf die Entwicklung der Produktivkräfte zurückführt.

Er ist Instrument, um komplexe aufeinander wirkende Prozesse zu analysieren und zu verstehen – um damit die wichtigste unserer Fragen zu beantworten: Wie können wir diese Welt verändern?

Flo Sieber
JUSO Thurgau