In der Industrie herrscht die «absolute Friedenspflicht». Der Kampf gegen die Auslagerung seines eigenen Jobs ist illegal. Die «Streikenden» von ABB Sécheron haben dies nicht akzeptiert und kämpften erfolgreich gegen das Gesetz, den Konzern und die Tradition der Sozialpartnerschaft.

Vom 6. bis am 13. November 2017 legte die komplette Belegschaft des Industriebetriebs ABB Sécheron SA in Genf ihre Arbeit nieder. Sie wollten ihre Jobs vor der Auslagerung nach Polen retten. Obwohl Streiks in Industriebetrieben hierzulande selten sind, wurde von dieser Arbeitsniederlegung nur wenig berichtet. Was geschah im November in Genf und kann es als Erfolg gewertet werden?

Kampf in der Industrie
Die ABB Sécheron SA war ein gewinnbringendes Unternehmen. Die Aktiengesellschaft ist in Genf selbständig geführt, doch ihre Aktien sind zu 100% in den Händen der ABB Group. Die Auslagerung des Betriebs beweist: die Profitabilität ist erste Priorität. Ist die Produktion in anderen Ländern billiger, können auch die regelmässigen Steuersenkungen für Unternehmen in den letzten 25 Jahren die schleichende Deindustrialisierung nicht stoppen. Die Auslagerung war eine erschütternde Neuigkeit für die Angestellten.

Da das Unternehmen dem Gesamtarbeitsvertrag der Maschinen, Elektro und Metallindustrie (MEM-GAV) untersteht, herrscht für die Angestellten die Friedenspflicht – sprich ein absolutes Streikverbot. Die Verteidigung des eigenen Arbeitsplatzes war ihnen also juristisch verboten. Deshalb entschieden sie sich für eine sechstägige «kollektive Beratung» und nicht für einen Streik. Das gab ihrem Kampf eine (halb-) legale Basis, setzte der Aktionsform aber enge Grenzen.

Kampf zwischen Kapitalisten
Das Genfer Traditionsunternehmen war eine Ausnahme bei der ABB. Der CEO Jean-Luc Favre ist Präsident der Genfer Arbeitgeberorganisation UAPG und Ex-Präsident der Industriellenvereinigung UIG. Er repräsentiert eine traditionelle, paternalistische Sicht auf die Sozialpartnerschaft: regelmässige (Hinterzimmer-) Verhandlungen mit den Gewerkschaften und Arbeitsbedingungen, die gerade gut genug sind, um sich die Gewerkschaften vom Hals zu halten.

Als Bourgeois mit politischem Kalkül kam ihnen diese Auslagerung sehr unrecht. Die UAPG kämpfte an vorderster Front für die USR 3. Dass ein gewinnbringendes Unternehmen rücksichtslos auslagert – welches dazu noch von ihnen geleitet wird – kam ihnen höchst ungelegen.

Ein unvorbereiteter, harter Arbeitskampf
Die Gewerkschaft Unia war schwach verankert im Betrieb: weniger als 10% der Angestellten waren bei der Gewerkschaft. Die Personalkommission war weder besonders aktiv, noch für ihre Kampffreudigkeit bekannt.

Als klar wurde, dass der Betrieb schliessen würde, konnte die Unia aber schnell Kontakt aufnehmen. Die Personalkommission war gezwungen, einen sehr schnellen Lernprozess durchzumachen, um den «Streik» erfolgreich führen zu können. Der Arbeitskampf ist also ein Beweis dafür, dass es auch in der Schweiz möglich ist, kurzfristige und unvorbereitete Arbeitskämpfe zu führen und mit der bewährten Methode der Arbeitsniederlegung «etwas» zu erkämpfen. Resultat und Methode besprechen wir weiter unten.

Die Belegschaft vor dem Streik
Die Führung des Betriebs war in den letzten zehn Jahren gezeichnet vom Zwist zwischen der lokalen Leitung mit ihrem Führungsstil und der Konzernführung der multinationalen ABB Group. Entgegen den Zielen der Konzernleitung hielt sich die lokale Führung immer eine Tür offen, um den Betrieb im Kanton zu behalten. Der Konzern bereitete dagegen die Auslagerung vor und setzte einen Einstellungsstopp durch. Das führte dazu, dass der Anteil Temporärer in der Produktion explodierte (auf ca. 40%).

Drei Viertel der Angestellten arbeiteten in der Produktion der Transformatoren für Lokomotiven, etwa 15 im Projekt des schnellladeakku-betriebenen Trolleybusses TOSA für die Genfer Verkehrsbetriebe. Der Rest teilt sich auf in Ingenieure und Administrativpersonal.

Einheit macht stark
Laut einem Gewerkschafter war es die Einheit der Belegschaft – zwischen den Temporären und den Festangestellten und zwischen den manuellen ArbeiterInnen und den Ingenieuren und der Administration -, welche den Kampf und die schwierige «kollektive Beratung» zum Erfolg führten. Wieso die Belegschaft so geeint gekämpft hat, soll im folgenden erklärt werden.

Der Schock der Ankündigung
Am 29. Oktober wird bekannt, dass Favre das Unternehmen verlässt. Den Angestellten wird über Nacht bewusst, was es bedeutet, wenn ihr CEO mit «den Plänen» der Konzernleitung nicht einverstanden ist: Die Schließung steht bevor.

Bereits am Dienstag darauf wird zusammen mit der Unia die erste Protestpause organisiert. Dem neuen CEO Thierry Lassus geben sie Zeit bis am Freitag, um die Weiterführung des Betriebs zu garantieren. Das Ultimatum verstreicht und die Belegschaft ruft für den Montag 6. November zur Vollversammlung auf, wo über einen möglichen Streik diskutiert werden soll.

Am Montag verkündet Lassus die Werksverlegung nach Łódź in Polen und die schrittweise Entlassung (respektive «Vertragsbeendung» für die Temporären) von 140 KollegInnen. Die Französischkenntnisse des Vertreters der «Konzernleitung von Zürich» reichten nicht aus, seine Ansprache ist auf English. Der Kontrast zu Favre könnte nicht grösser sein. Das Tüpfchen auf dem I gibt der Inhalt des Sozialplans: keinerlei Entschädigung, nur wer am Ende seiner Arbeitslosenunterstützung noch nichts gefunden hat, soll CHF 10’000 erhalten. Alle im Betrieb realisieren, dass die «schönen alten Zeiten» vorbei sind. Schock und Beleidigung sitzen tief.

Eine lange Beratung
Für die Angestellten ist klar, so einfach lassen sie sich nicht kleinkriegen. Sie wollen die Weiterführung des Betriebs – oder mindestens eine Abfindung für alle. Sechs Tage dauert ihre Arbeitsniederlegung. Das Resultat hätte besser sein können – einige Monatslöhne für alle und die Verzögerung der Schliessung um ein Jahr. Es ist jedoch viel mehr als das grosse Nichts vom Anfang. Nach sechs Tagen, am Montagabend, 13. November, entscheidet sich die Belegschaft geeint für die Beendigung ihres Kampfes: 130 zu 10 stimmen für das Verhandlungsresultat.

Das grösste Hindernis für den Kampf war das Streikverbot. Der Betrieb ist dem MEM-GAV unterstellt und dieser verbietet jeden Streik. Eine Betriebsschliessung gilt nicht als Vertragsbruch – ein Streik schon! Was wäre passiert, hätte sich die Belegschaft für einen Streik entschieden? Ein «legaler» Streik braucht laut Bundesgericht die Begleitung einer Gewerkschaft. Den Bürgerlichen liegt die besänftigende Macht der ArbeiterInnenorganisationen offensichtlich am Herzen. Die Unia, als nationale Vertragspartnerin dieses GAVs, wäre nicht bereit gewesen, mit dem Streik einen offenen Vertragsbruch zu begehen. Bei der Unia entscheidet die nationale Geschäftsleitung über Streiks (welche länger als zwei Tage dauern) und nicht die lokalen GewerkschafterInnen. Hätte sich die Unia vom Streik zurückgezogen, wäre dieser wieder illegal gewesen.

Das Beispiel zeigt auf, dass es für eine Belegschaft im Industriesektor keine Möglichkeit gibt, sich legal gegen eine Werkschliessung zu wehren. Das gleiche gilt für unzählige weitere Branchen und Kämpfe. Gerade für unerfahrene Belegschaften ist die Unterstützung durch eine Gewerkschaft sehr wichtig. Knowhow, aber auch die Aussicht auf eine teilweise Kompensation des Lohnverlustes durch die Streikkasse sind wichtige Elemente, die Selbstvertrauen und Mut geben. Sie bilden oft das Zünglein an der Waage für den Entscheid zum Streik. Aber die Sozialpartnerschaft und die heutige Gewerkschaftspraxis entwaffnen die ArbeiterInnen völlig.

Die Belegschaft und die Genfer Uniavertreter entschieden sich also für diese verlängerte «kollektive Beratung». Hier muss klar sein, dass dies keine juristische Kategorie ist. Nur dank der Einheit und dem Kräfteverhältnis konnte sich die Belegschaft dieses Recht nehmen. Der internationale Sicherheitsspezialist von ABB – sprich der weltweite Streikdrangsalierer des Konzerns – hat dies am ersten Streiktag getestet. Er rief die Polizei. Doch der zuständige Regierungsrat Maudet – persönlicher Bekannter von Favre – erklärte, dass er sich nicht in Arbeitskämpfe einmische.

Mit der Zeit fühlten die Streikenden aber die engen Grenzen dieser Zwischenform. Ihnen war jede «Kampfmassnahme» verboten, denn das wäre ein Indiz gewesen, dass es sich sehr wohl um einen Streik handelte. Dazu gehören alle öffentlichen Aktionsformen: Streikposten, Solidaritätskomitee, Demonstrationen etc. Dazu kommt, dass man sich nach spätestens 72 Stunden «Beratung» nicht mehr viel zu sagen hat. Die Belegschaft fühlte sich zunehmend eingeschlossen – in ihrem Betrieb, aber auch in der juristischen Kampfform.

Blockade der Produktion
Was schlussendlich den wichtigsten Verhandlungstrumpf bildete, war die wirtschaftliche Blockade der Produktion. ABB Sécheron hat mit ihren Klienten (Alstom, Bombardier) enge Lieferverträge und -fristen. Ihr Warenlager ist beschränkt. Nach etwa einer Woche Produktionsstopp beginnen die Lieferengpässe. Die ABB muss hohe Vertragsstrafen bezahlen, wenn die Liefertermine nicht eingehalten werden. Das setzte die Betriebsleitung unter Druck, denn die Arbeitsniederlegung war komplett. Es ist jedoch umstritten, wieweit sie bereit gewesen wäre, solch schmerzliche Bussen zu bezahlen. Der Blockade verdankten die «Beratenden», dass sie am letzten Streiktag ihre Abfindung nochmals merklich in die Höhe treiben konnten.

Dies zeigt uns, dass nicht die juristische Form des Kampfes das Wichtigste ist, sondern der wirtschaftliche Schmerz, den man dem Betrieb zufügt. Hier haben die Angestellten vortreffliche Arbeit geleistet, gerade weil sie geschlossen gekämpft haben.

Sécheron macht Mut
Es handelte sich nicht um die erste Auslagerung eines Industriebetriebs in der Schweiz. Umso beängstigender ist die Hilflosigkeit – nett ausgedrückt – der nationalen Gewerkschaftsführung in solchen Situationen. ABB Sécheron zeigt, dass auch unvorbereitete Belegschaften, mit der Unterstützung von ehrlichen Gewerkschaftern, bereit sind, für ihre Jobs zu kämpfen und durch die unklare juristische Situation auch ein erhebliches Risiko auf sich nehmen. Es ist dabei nicht unbedingt das Verhandlungsresultat, welches im Vordergrund steht. Viel wichtiger ist die Erfahrung des Streiks, der Crashkurs im Klassenkampf, welchen die ganze Belegschaft, speziell auch die Personalkommission durchgemacht haben. «Der Kampf war für die Belegschaft nicht eine schöne Erfahrung» sagt ein Gewerkschafter, «doch sie sind stolz auf das Resultat, denn sie wissen, sie haben es sich selber erkämpft».

Caspar Oertli
JUSO Stadt Zürich