Der dialektische Materialismus, die Philosophie des Marxismus, steht am höchsten Punkt einer langen Entwicklung der Philosophie. Um seine revolutionäre Bedeutung zu verstehen, müssen wir seine Geschichte verstehen. Vierter und letzter Teil: Die philosophische Revolution von Karl Marx. Hier geht es zu Teil 1, Teil 2 und Teil 3.

Der Marxismus ist eine materialistische Philosophie. Er erklärt die Natur und die Gesellschaft aus sich selbst heraus und anerkennt keine höheren geistigen Kräfte, welche die Welt antreiben. Wie wir in dieser Artikelserie gezeigt haben, entwickelte sich der philosophische Materialismus im stetigen Kampf mit seinem Gegenspieler: dem Idealismus. Beide dieser grossen philosophischen Hauptrichtungen haben sich gegenseitig bedingt, bestimmt und durchdrungen, aber gerade durch diesen Prozess auch zunehmend ihre absolute Unvereinbarkeit bewiesen. Der dialektische Materialismus, zuerst formuliert von Karl Marx und Friedrich Engels, hat den Materialismus nach dieser langen Entwicklung des menschlichen Denkens und der Wissenschaft zum ersten Mal zu seiner vollen Schlüssigkeit und Reife gebracht. Der Marxismus ist die erste Form des Materialismus, die in jedem Sinne konsequent materialistisch ist und damit die letzten Reste des idealistischen Mystizismus abstreift.

Vom Kopf auf die Füsse: Die Dialektik wird materialistisch

Im vorherigen Teil dieser Artikelserie haben wir erklärt, wie Hegel die Grenzen des bürgerlichen mechanischen Materialismus durch die Dialektik von idealistischer Seite her angriff. So gigantisch Hegels Beitrag zur Entwicklung der Philosophie war, verkehrte er als Idealist das wirkliche Verhältnis von Natur und Denken und schuf ein neues religiöses System. 

Karl Marx und Friedrich Engels knüpften direkt an Hegel und seiner Dialektik an, allerdings unter neuen gesellschaftlichen Bedingungen und mit umgekehrten philosophischen Vorzeichen. Marx’ dialektischer Materialismus ist eine wesentlich historische Auffassung. Ganz wie bei Hegel richtet sich der Blick auf die Dinge in ihrer Entwicklung und ihrem inneren Zusammenhang. Alles ist in Bewegung, angetrieben durch die inneren Widersprüche und den Kampf der Gegensätze in allen Dingen. Allerdings ist, wie Marx selbst es ausdrückte, seine «dialektische Methode der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil». Die idealistische Dialektik von Hegel musste auf ihre materialistische Grundlage – vom Kopf auf die Füsse – gestellt werden, wie Marx kommentierte.

Die Grundlage der Dialektik von Hegel ist der Geist, die «absolute Idee». Bei Hegel wird das wirkliche Leben aus dem Entwicklungsgang der Ideen erklärt. Der «Weltgeist», also Gott, ist der innere Motor der dialektischen Entwicklung der Weltgeschichte. Die Dialektik vom Kopf auf die Füsse zu stellen, bedeutete, den Gang der Ideen umgekehrt aus der Entwicklung des wirklichen Lebens zu erklären. Bei Marx sind die Ideen nur die Widerspiegelung der wirklichen Widersprüche in der Entwicklung der Natur und der Gesellschaft in den Köpfen der Menschen.

Wie bei jedem grossen Durchbruch im Denken der Menschen knüpfte also auch Marx direkt an den Ideen seiner Vorgänger an. Aber jeder qualitative Sprung in der Entwicklung des Denkens wird in letzter Instanz ermöglicht durch Veränderungen in den materiellen Verhältnissen der Gesellschaft. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde immer offensichtlicher, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse in Europa entscheidend verändert hatten: Der Kapitalismus trat mit der Entstehung der grossen Industrie in seine reife Phase, offenbarte mit seinen Überproduktionskrisen seinen anarchischen Charakter und schuf mit dem Proletariat eine neue Klasse, die durch ihre Lohnarbeit den gesamten kapitalistischen Reichtum hervorbringt. Es wurde deutlicher und deutlicher, dass die ideologischen und politischen Konflikte ihre Wurzel in unterschiedlichen Stellungen in der ökonomischen Produktion hatten. Die Arbeiterklasse trat 1830 in Frankreich zum ersten Mal als selbständige Kraft mit eigenen politischen Interessen auf. Der Klassenkampf zeigte sich zunehmend als das, was er tatsächlich war: ein Kampf zwischen gesellschaftlichen Klassen mit entgegengesetzten Interessen, ein Kampf zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten.

Es waren diese Entwicklungen, die Marx und Engels ermöglichten, die Dialektik Hegels aus dem abstrakten Reich der Ideen auf den Boden der Natur, der Gesellschaft und des Klassenkampfes herunterzuholen. Ganz ähnlich wie zuvor der bürgerliche oder der antike Materialismus ist also auch der dialektische Materialismus letztlich der ideelle Ausdruck des Aufkommens einer neuen aufstrebenden Klasse in ihrem Kampf gegen die bestehende Ordnung: dem Proletariat.

Dialektik der Natur: Der Materialismus wird dialektisch

In ihrer Rückkehr zum Materialismus blieben Marx und Engels nicht auf dem Standpunkt des bürgerlichen Materialismus stehen. Indem sie die dialektische Methode materialistisch «umstülpten», entstand gleichermassen auch eine neue Auffassung der Materie und damit eine neue Form des philosophischen Materialismus. 

Der bürgerliche Materialismus ging vom korrekten Standpunkt aus, dass die Natur gegenüber dem Denken das Primäre ist. Aber wie wir im zweiten Teil dieser Serie erklärt haben, hatte er eine mechanische Auffassung der Materie und der Natur: Die Materie schien ihm träge und leblos. So musste die Bewegung von aussen in die Natur hineingetragen werden, bedurfte also doch wieder einem göttlichen Antrieb. Mit der dialektischen Auffassung konnten diese idealistischen Aspekte des bürgerlichen Materialismus abgestreift werden. «Die Bewegung ist die Daseinsweise der Materie», erklärte Engels. «Materie ohne Bewegung ist ebenso undenkbar wie Bewegung ohne Materie. Die Bewegung ist daher ebenso unerschaffbar und unzerstörbar wie die Materie selbst… Bewegung kann also nicht erzeugt, sie kann nur übertragen werden.» Diese grundlegende Einsicht des dialektischen Materialismus wird durch die Erkenntnis der modernen Physik bestätigt, dass Energie weder erschaffen noch zerstört werden kann, sie verändert nur die Form ihrer Bewegung. Damit wird jede Vorstellung eines göttlichen «Bewegers» überflüssig. So hat auch die Natur eine Geschichte und bleibt sich nicht einfach statisch gleich. Sie entwickelt sich, mitunter sprunghaft und nicht nur graduell, durch die unendliche Bewegung und Interaktion ihrer verschiedenen Bestandteile. 

Diese doppelseitige Bewegung – die Dialektik wird materialistisch, der Materialismus wird dialektisch – ist nichts weniger als eine philosophische Revolution. Und indem Marx den dialektisch-materialistischen Standpunkt auf die Geschichte der Menschheit anwandte und die Menschen als besonderen Teil in der allgemeinen Entwicklung der Natur begriff, bekam diese philosophische Revolution ihre volle Bedeutung. Erst durch diesen Schritt wurde es möglich, die «grosse Grundfrage aller Philosophie» wirklich zu lösen: «die Frage nach dem Verhältnis des Denkens zum Sein, des Geistes zur Natur» (Engels).

Der Mensch: ein arbeitendes, gesellschaftliches Wesen

Der Idealismus in all seinen verschiedenen Formen geht davon aus, dass das Denken bestimmt, was der Mensch ist und wie er handelt. Während diese Auffassung manchmal in durchaus weltlichem Gewand daherkommen mag, reduziert sie sich letztlich doch auf die religiöse Vorstellung: Der Geist schafft den Menschen. Der bürgerliche Materialismus erklärte dagegen ganz richtig, dass der Mensch und seine Ideen Teil der Natur sind. Der Mensch ist Produkt seiner Umstände, geformt durch die Einwirkungen seiner objektiven Umstände auf ihn. Das ist ein grundlegender Ausgangspunkt jedes Materialismus, auch des dialektischen von Marx. 

Mit seiner dialektischen, historischen Auffassung erkannte Marx jedoch die Beschränktheit dieses Materialismus. In seinen Thesen über Feuerbach erklärte Marx, dass aller bisherige Materialismus daran leidete, dass er den Menschen nur als passives Objekt seiner Umstände begriff – statt als Objekt der Natur, das jedoch gleichzeitig auch als tätiges Subjekt auf seine natürliche Aussenwelt einwirkt. So war es umgekehrt der Idealismus (namentlich derjenige Hegels) der jene subjektive, tätige Seite entwickeln musste, die der Materialismus selbst nicht zustande brachte – wenngleich er als Idealismus die menschliche Praxis doch nur in der Form des Denkens verkennen konnte. Wiederum sehen wir also diese eigentümliche dialektische Entwicklung, dass gerade sein philosophischer Gegenspieler dem Materialismus die Waffen bereitstellte, um dessen eigenen Schwächen zu bekämpfen.

Die bürgerlichen Materialisten lösten den Menschen aus seinen gesellschaftlichen Umständen und seiner geschichtlichen Entwicklung heraus. Marx brach mit dieser abstrakten und einseitigen Auffassung des Menschen und brachte den Materialismus so vom korrekten Ausgangspunkt endlich zu seiner konsequent materialistischen Vollendung: Es reicht nicht, zu sagen, dass die Umstände den Menschen bestimmen. Der Mensch ist ein materielles, lebendiges Produkt der natürlichen Entwicklung. Im Streben, seine Bedürfnisse zu befriedigen, führt er seinem Organismus Stoffe aus der ihn umgebenden Natur zu. Aber er tut das als aktives Wesen. Durch die Arbeit wirkt er auf die Natur ausser ihm und verändert sie. Und indem er das tut, «verändert er zugleich seine eigene Natur» (Marx). Die Arbeit ist das zentrale Wesensmerkmal des Menschen, das ihn von der übrigen Tierwelt unterscheidet. Es ist durch die Arbeit und die Werkzeugproduktion, wie die Vorfahren des Menschen zum Menschen geworden sind. Und vom allerersten Moment an war diese «Produktion und Reproduktion des Lebens» keine individuelle, sondern eine kollektive und gesellschaftliche Angelegenheit.

Der Kampf der Menschen, zu ihrer eigenen Bedürfnisbefriedigung die Natur durch die Arbeit ihrer zunehmenden Kontrolle zu unterwerfen, ist die grundlegende Triebkraft der geschichtlichen Entwicklung. Wie Marx erklärte, machen die Menschen das nicht frei wie es ihnen beliebt. Sie arbeiten, handeln und denken im Rahmen objektiver gesellschaftlicher Verhältnisse, die von ihrem Willen unabhängig sind, und die der Entwicklung ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Diese ökonomische Struktur bildet auf jeder Stufe der menschlichen Entwicklung die Basis für alle übrigen gesellschaftlichen Verhältnisse.

Die Umstände machen also nicht nur den Menschen. Diese Umstände sind selbst zu einem grossen Teil gesellschaftliche Umstände, die durch die arbeitenden Menschen selbst hervorgebracht wurden. Eine zeitlose «menschliche Natur» kann es deshalb nicht geben. Was der Mensch ist, wird bestimmt durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen er lebt – und diese verändern sich im Laufe der Geschichte durch die Entwicklung der Produktivkräfte der Menschen.

Revolution in der Erkenntnistheorie

Indem Marx vom lebendigen Menschen ausging, der in der Geschichte arbeitet und handelt, indem er also diese Geschichte materialistisch auffasste, löste sich auch das scheinbare philosophische Rätsel über die Herkunft der Ideen. 

Die Realität existiert objektiv, das heisst ausserhalb und unabhängig vom Denken der Menschen. Wirkliche Erkenntnis muss von der Sinneswahrnehmung ausgehen, durch die sich die Aussenwelt in unseren Köpfen widerspiegelt. Objektiv wahr ist eine Idee, wenn sie die objektive Welt korrekt widerspiegelt. Die Gesetze der Natur werden nicht aus dem Kopf geschöpft, sie müssen aus der objektiven Funktionsweise der Natur selbst entdeckt werden. Das ist die Grundlage und der Ausgangspunkt jeder materialistischen Erkenntnistheorie, auch der marxistischen. Aber die Frage der menschlichen Erkenntnis ist unlösbar vom bürgerlichen Standpunkt eines passiven und isolierten Individuum, das aus seiner geschichtlichen Entwicklung herausgerissen wurde. Der Mensch erkennt seine Umwelt nicht durch die bloss passive Anschauung, sondern indem er durch die kollektive Praxis auf sie einwirkt und sie bearbeitet.

Mit Marx begreift die Philosophie zum allerersten Mal, dass alles menschliche Denken fundamental der kollektiven Praxis der Menschen in der Geschichte entspringt und bestimmt wird durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie handeln. Im Arbeitsprozess, durch und mit ihm, haben die Menschen die Fähigkeit zu abstraktem Denken herausgebildet – und mit der Sprache ein Medium, um ihre Gedanken zu kommunizieren. Die Notwendigkeit, die objektive Welt und ihre Gesetzmässigkeiten zu verstehen, wird den Menschen aufgezwungen durch die Notwendigkeit, die Natur ihrer Beherrschung zu unterwerfen. In der gesellschaftlichen Erfahrung durch das tätige Einwirken auf ihre objektive Aussenwelt entsteht und entwickelt sich wirkliches Wissen der Menschheit über die Beschaffenheit der Materie und ihre Funktionsweise. 

Und umgekehrt kommen die Ideen der Menschen nicht nur aus ihrer Praxis, sie werden auch durch sie getestet und korrigiert. Die Wahrheit einer Theorie kann nicht in der Studierstube eines Philosophen bewiesen werden, indem losgelöst von der menschlichen Praxis spekuliert wird. Wenn die Menschen mit ihrem praktischen Einwirken auf Vorgänge ihrer Umwelt die Zwecke erreichen, die sie beabsichtigt und vorausgesehen hatten, dann beweisen sie damit auch die Richtigkeit ihres Verständnisses dieser Vorgänge. Je weiter die Menschen ihre technologischen Mittel zur Bearbeitung der Natur entwickeln, desto weiter können sie in die innersten Geheimnisse der Natur vordringen und damit ihre Fähigkeit steigern, die Natur ihrer bewussten Kontrolle zu unterwerfen.

Damit wird der Erkenntnisprozess der Menschen in die geschichtliche Entwicklung eingeordnet. Was eine Gesellschaft wissen kann, hängt ab vom Entwicklungsstand dieser Gesellschaft und ihrer sozialen Ordnung. Mit der materialistischen Auffassung der Geschichte verlieren die Ideen den Schein ihrer Selbständigkeit. «Ideen fallen nicht vom Himmel», fasste Labriola zusammen. Sie sind das Produkt der Gesellschaft auf einer bestimmten geschichtlichen Entwicklungsstufe, die letztlich durch den Stand der Produktivkräfte und die entsprechenden Produktionsverhältnisse bestimmt wird. Ein Arbeiter in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft hat nicht die gleichen Vorstellungen wie ein Sklave in der Sklavenhaltergesellschaft der Antike. «​​Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt» (Marx). 

Von der Utopie zur Wissenschaft

Man kann den Menschen und seine Geschichte nicht verstehen, indem man von den subjektiven Vorstellungen ausgeht, welche die Menschen über sich und ihre Gesellschaft haben. Man muss ihre Ideen und Vorstellungen umgekehrt aus den jedesmaligen wirklichen, objektiven Lebensverhältnissen erklären. Damit wird unser Verständnis der Geschichte auf ein wissenschaftliches Fundament gestellt – und mit ihm auch unser Verständnis, wie die Menschen ihre Gesellschaft verändern können. 

Wenn Marx den berühmten Satz formulierte – «die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt drauf an, sie zu verändern» –, verneinte er nicht die Wichtigkeit der Interpretation und der Analyse der Welt. Er attackierte den verkehrten idealistischen Glauben, der Hebel zur Veränderung liege in der Kritik der vorherrschenden Ideen. Aber die Welt verändert sich nicht, wenn wir anders über sie denken oder sprechen, sondern durch die revolutionäre Umwälzung der materiellen Verhältnisse, die diese Ideen überhaupt hervorbringen.

Über den idealistischen Ansatz der Veränderung des Bewusstseins waren auch die bürgerlichen Materialisten nicht hinausgekommen – und ebensowenig die frühen «utopischen Sozialisten» in deren direkter Folge. Indem sie die Triebkräfte der Veränderung nicht in der objektiven Entwicklung der Produktivkräfte und des Klassenkampfes erkannten, mussten sie ihre Vorschläge für eine bessere Gesellschaft aus ihrem eigenen Kopf erzeugen und darauf hoffen, dass die Menschen die Überlegenheit ihres Projektes erkennen.

Marx und Engels begriffen, dass die Bedingungen und die Mittel zur Überwindung des Kapitalismus aus der objektiven Entwicklung des Kapitalismus selbst hervorgehen: aus dem Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Produktion des gesamten Reichtums durch die Arbeiterklasse und der privaten Aneignung dieses Reichtums durch die Kapitalisten, die privaten Eigentümer der Produktionsmittel. Es geht nicht darum, die Mittel zur Beseitigung der Missstände der Klassengesellschaft «aus dem Kopfe zu erfinden, sondern vermittelst des Kopfes in den vorliegenden materiellen Tatsachen der Produktion zu entdecken» (Engels). Diese Mittel sind die politische Machtergreifung des Proletariats und die Enteignung der Produktionsmittel der Kapitalisten, die eine demokratische Planung und Verwaltung der Wirtschaft ermöglichen. Das ist das Programm des wissenschaftlichen Sozialismus, das die Marxisten verteidigen: keine Utopie, sondern die bewusste Ausformulierung der Aufgaben der Arbeiterklasse, die sich aus ihrer objektiven Stellung in der geschichtlichen Entwicklung ableiten. 

Die Kraft der korrekten Ideen

Das bestimmt auch die Rolle der marxistischen Revolutionäre. Es ist die historische Aufgabe der Arbeiterklasse, sich und die Menschheit von der Ausbeutung und Unterdrückung der Klassengesellschaft zu befreien. Sie kann das nur, wenn sie sich von der Ideologie der herrschenden Klasse löst, die die bestehenden Verhältnisse verschleiert. Die Arbeiterklasse braucht ein Verständnis ihrer eigenen Kraft und ihrer historischen Rolle und damit ein Bewusstsein über die objektive historische Entwicklung. 

Die Massen der Arbeiterklasse werden dieses Bewusstsein nicht durch ein intensives Studium der Werke von Marx erlangen. Sie verändern ihr Bewusstsein in ihren eigenen Erfahrungen, insbesondere wenn sie in den aktiven Klassenkampf treten. Es ist nicht die perfekte Idee oder die erfolgreiche Überzeugungsarbeit der Revolutionäre, die die Massen der Arbeiterklasse in den Kampf treibt. Es sind die objektiven Bedingungen des Kapitalismus mit seinen Krisen und Angriffen auf die Arbeits- und Lebensbedingungen, welche die verschiedenen Schichten der Arbeiterklasse früher oder später in den Kampf zwingen – ob sie das wollen oder nicht. Auf der Grundlage der Erfahrungen im kollektiven Kampf lernen die Massen ihre eigene Kraft und ihr Potenzial kennen und erkennen die objektiven Trennlinien in der Gesellschaft: Zwischen der Arbeiterklasse auf der einen und der Bourgeoisie und ihrem Staatsapparat auf der anderen Seite.

Die Aufgabe der Revolutionäre ist es, dem Streben und dem unbewussten Willen der Arbeiterklasse einen bewussten Ausdruck zu geben und damit diesen Lernprozess der Arbeiterklasse zu fördern und abzukürzen. Durch das wissenschaftliche Verständnis der geschichtlichen Entwicklung haben die Marxisten den übrigen Teilen der Arbeiterklasse die theoretische «Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung» voraus (Marx/Engels). Darin liegt die ganze Kraft der Methode und der Ideen des Marxismus. Die Rolle der organisierten marxistischen Revolutionäre ist es, in allen Kämpfen und Bewegungen der Klasse das Bewusstsein der Arbeiterklasse über ihre eigene Stärke voranzutreiben, indem sie die Mittel und die nächsten Schritte auf dem Weg aufzeigen, der zur Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse führt.

Dialektischer Materialismus und Revolution

Der dialektische Materialismus ist die höchste Blüte der langen Entwicklung der Gesellschaft und des menschlichen Denkens. Als vollendeter Materialismus gibt er uns die Methode für das wissenschaftliche Verständnis der Natur und der Gesellschaft in ihrer gesetzmässigen Entwicklung. Das ist die mächtigste Waffe im Arsenal der Arbeiterklasse, die unabdingbare theoretische Grundlage für alle ernsthaften Revolutionäre.

Der dialektische Materialismus ist wesentlich revolutionär, weil er in der bestehenden kapitalistischen Gesellschaft die Bedingungen ihres notwendigen Untergangs erkennt; weil er sieht, wie in ihrem Schosse ebensosehr das Potenzial einer neuen, sozialistischen Gesellschaft herangewachsen ist wie eine revolutionäre Kraft, die dieses Potenzial durch ihre eigene Aktion zur Verwirklichung bringen kann: die Arbeiterklasse.

Der Fortschritt der Produktivkräfte im Kapitalismus hat die materiellen Voraussetzungen geschaffen für eine neue Kulturstufe, die allen Menschen eine sichere Existenz ohne Mangel garantieren kann und damit die Grundlage schafft für eine vollere und freiere Entfaltung des Potenzials aller Menschen. Indem die Produktionsmittel aus dem privaten Eigentum der Kapitalisten ins gesellschaftliche Eigentum überführt werden, erlangen die Menschen die bewusste gesellschaftliche Kontrolle über die Produktion ihrer eigenen Lebensbedingungen. Mit diesem «Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit» (Marx) werden die Menschen zum ersten Mal bewusste Herren der Natur und der sie umgebenden Umstände: die wirklich menschliche Geschichte beginnt! 

Der Marxismus und seine Philosophie des dialektischen Materialismus sind deshalb weit mehr als «nur» ein politisches Kampfwerkzeug gegen die Bourgeoisie. Denn mit dem Erlangen der bewussten Kontrolle über ihr eigenes gesellschaftliches Schaffen wird umgekehrt auch die materielle Grundlage gelegt fürs Abstreifen der letzten Reste des Mystizismus; es ist die Grundlage dafür, dass sich ein wissenschaftliches, materialistisches Weltbild als Selbstverständlichkeit in der gesamten Gesellschaft durchsetzen kann. Diese Befreiung der Wissenschaft und des Denkens von ihren idealistischen Fesseln durch die Befreiung von der Klassengesellschaft wird eine ungekannte Blüte der menschlichen Kultur und Schöpfungskraft auslösen.

Für den Sieg der proletarischen Revolution brauchen wir den dialektischen Materialismus – und nur der Sieg der proletarischen Revolution kann die Grundlage dafür legen, dass das menschliche Denken und die Wissenschaft von den Fesseln des Idealismus und Mystizismus befreit werden und die Menschen auf allen Ebenen ein bewusstes Verständnis der Welt und ihrer Rolle darin erlangen.

Die Redaktion, Der Funke
23.12.2021