[dropcap]I[/dropcap]m Mai 1917 scheint die Sozialrevolutionäre Partei Russlands auf dem Höhepunkt ihrer Macht zu sein. Sie stellt mit Alexander Kerenski den Kriegsminister und späteren Ministerpräsidenten und hatte rund eine Million Mitglieder. Dennoch versagen die SozialrevolutionärInnen an ihrer eigenen Inkompetenz und inneren Zerstrittenheit.

Die sozialrevolutionäre Partei (SR) entstand im Winter 1901/02 durch die Vereinigung verschiedenster sozialrevolutionären Gruppierungen. Eine wichtige Gruppe waren dabei die sogenannten Narodniki. In ihrem Selbstverständnis waren die SozialrevolutionärInnen eine BäuerInnenpartei und sahen in der Bauernschaft das revolutionäre Subjekt. Aber sie hatten Mühe, in der bäuerlichen Landbevölkerung Fuss zu fassen. Vielmehr waren die aktivsten und tonangebenden SozialrevolutionärInnen überwiegend Teil der städtischen Intelligenz (LehrerInnen, ÄrztInnen, JuristInnen, IngenieurInnen usw.).

Die russische Bauernschaft
Obwohl die Bauern 1917 die grosse Mehrheit der russischen Bevölkerung darstellten, spielten sie in der Revolution keine eigenständige Rolle. Die Bauernschaft war in sich tief gespalten. Es gab reiche Bauern, landlose Bauern, arme Bauern und viele dazwischen. Die verschiedenen Schichten standen sich teilweise sehr feindlich gegenüber und vertraten unterschiedliche Interessen. Während die landlosen BäuerInnen endlich ihr eigenes Land erkämpfen wollten, verteidigten die reichen BäuerInnen ihre Privilegien. Daher unterstützte die Bauernschaft in der Revolution unterschiedliche Parteien beziehungsweise Fraktionen der SozialrevolutionärInnen. Die armen und landlosen BäuerInnen konnten sich mit dem Programm der SR identifizieren, da sie sich davon endlich Land erhoffen. Doch an der Macht, weigerten sich die SR, Landenteignungen beziehungsweise Landumverteilungen durchzuführen. Denn eine solche Massnahme hätte, wie später geschehen, die gesamte besitzende Klasse gegen die Revolution aufgebracht. Die RevolutionärInnen konnten also nicht einfach eine Landreform durchführen, ohne in direkte Konfrontation mit dem kapitalistischen System zu geraten. Die Menschewiki und grosse Teile der Sozialrevolutionäre waren zu diesem Kampf aber in keiner Art und Weise bereit. Denn grosse Teile der SR hatten die Position der Menschewiki übernommen, wonach zuerst der Kapitalismus aufgebaut werden müsse um erst dann den Sozialismus umzusetzen. Mit dieser Haltung hatten die Sozialrevolutionäre die Bauernschaft verraten. Die Landreform wurde erst später unter der Führung des Proletariats durchgeführt, die Bauernschaft schloss sich der Sowjetregierung an. Doch der Reihe nach.

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Vorläuferorganisationen – Die Narodniki
Narodniki bedeutet aus dem Russischen übersetzt in etwa Volkstümler oder Volksfreunde. Diese «anarchistische» Vorläuferorganisationen der SozialrevolutionärInnen existierten von 1860 bis 1895, waren aber nie eine homogene Organisation. Sie bestanden aus verschiedensten Zirkeln und Gruppen. Ihr Fokus lag auf den speziell russischen Dorfgemeinschaften, in welchen sie Elemente einer sozialistischen Gesellschaft sahen. Ein Teil der Narodniki gründete 1879 die Geheimgesellschaft Narodnaja Wolja, auf Deutsch Volkswille. Diese Geheimorganisationen operierte mit dem Terror und ermordete unter anderen auch Zar Alexander II im Jahr 1881.

Narodniki und Marxismus
Programmatisch übernahmen die Narodniki durchaus einige Ideen von Karl Marx. Insbesondere die Idee des gemeinschaftlichen Besitzes und der gemeinschaftlichen Produktion. Auch lehnten sie das Privateigentum an Produktionsmittel ab. In zwei zentralen Punkten nahmen die anarchistischen Narodniki aber eine völlig andere Position ein als die MarxistInnen. Erstens glaubten sie an eine Art Agrarkommunismus und verneinten die Rolle des Proletariats. Dies kann auch damit erklärt werden, dass das Proletariat in den 1860er bis 1890er Jahren noch sehr viel kleiner war als später während den Revolution 1917. Zweitens gingen die Narodniki davon aus, dass die Dorfgemeinschaften auch ohne das Vorhandensein einer modernen Industrie direkt zum Sozialismus übergeführt werden könnte. Ein weiter Unterschied zwischen den Narodniki und den MarxistInnen bestand in der Frage des Terrors: Teile der Narodniki versuchten mittels Attentate den Zarismus zu stürzen und eine Revolution herbeizuführen. Die MarxistInnen, insbesondere Lenin, lehnten diese Methode entschieden ab. Lenin erklärte seine Haltung wie folgt: Der «individuelle Terror» führe lediglich dazu, dass ein Minister einfach durch einen anderen Minister ersetzt werde. Schlussendlich bewirke der Terror mehr Repression gegen die RevolutionärInnen aller Couleur. Die programmatischen und taktischen Differenzen zwischen den Narodniki und den MarxistInnen war aber kein rein russisches Phänomen. Diese Differenzen zeigen sich auch bei der Spaltung der ArbeiterInnenbewegung in AnarchistInnen und MarxistInnen seit der Ersten Internationionalen.

Die Anfänge der Sozialrevolutionäre
In vielerlei Hinsicht übernahmen die SozialrevolutionärInnen das Programm der Narodniki. Zwar wollten sie nun nicht mehr den direkten Weg von den Dorfgemeinschaften zum Sozialismus - unter Überspringung des kapitalistischen Stadiums - gehen, doch verharrten sie im Grunde auf der Position des «rückständigen» Agrarsozialismus. In der Revolution 1905 spielten die Sozialrevolutionäre noch keine grosse Rolle. In den Jahren 1906 und 1907 nahmen sie an den Duma-Wahlen teil, dem Scheinparlament, das vom Zar auf Druck der Revolution 1905 geschaffen und 1907 wieder verboten wurde. Im Jahr 1907 zählten die SozialrevolutionärInnen etwa 42'000 Mitglieder. Die Mitgliedschaft bestand in etwa aus 40% Bauernschaft, 40% Arbeiterschaft und 20% Intelligenz.

Bauernaufstände und Spaltungen
Als es in den Jahren 1906 und 1907 zu verschiedenen lokalen BäuerInnenunruhen und Aufständen kam, versuchten die SozialrevolutionärInnen diese anzuführen. Doch die Aufstandsversuche scheiterten, und den SR gelang es nicht, die BäuerInnen zu organisieren. Es blieb bei einer relativ oberflächlichen Sympathie für die Sozialrevolutionäre seitens eines Teils der Bauernschaft. Die Partei, die niemals einen wirklich homogenen Block darstellte, wandte innert kürzester Zeit und häufig gleichzeitig alle möglichen Strategien an: Von der Teilnahme an der Duma bis zu versuchten Aufständen, von reiner Propagandaagitation bis hin zu Terroraktionen. Diese verschiedensten Taktiken wurden in der Partei selber jeweils von verschiedensten Fraktionen unterstützt. Diese Differenzen führen denn auch zu verschiedensten Abspaltungen und zu einer Schwächung der Partei nach den revolutionären Ereignissen in den Jahren 1905-1907.

Terrorismus und die Sozialrevolutionäre
In ihrem Parteiprogramm propagierte die Partei den individuellen Terror als taktisches Mittel, welches sie auch wiederholt durch die eigene Kampforganisation einsetzte. Ein berühmtes Beispiel ist der Anschlag auf den Ministerpräsidenten Stolypin 1911, bei dem neben dem Minister dutzende Unbeteiligte ums Leben kamen. Im Jahr 1918 verübten die Sozialrevolutionäre ein Attentat auf Lenin. Von dessen Folgen erholte er sich bis zu seinem Tod 1924 nicht mehr richtig.

Die Sozialrevolutionäre und die Russische Revolution 1917
Im Juli und August 1917 stellten die Sozialrevolutionäre zusammen mit den Menschewiki die Mehrheit in den meisten Sowjets. Mit dem Eintritt Kerenskis in die Partei waren sie auch Regierungspartei. Die Frage stellt sich, wieso diese Partei, die in den ersten Monaten der Revolution einen enormen Rückhalt genoss und die im Juli und August auf dem Höhepunkt ihrer Macht stand, nicht fähig war, die Macht zu übernehmen. Und es fragt sich, weshalb sie nach September 1917 relativ schnell an Unterstützung und Bedeutung verlor. Einige der folgenden zentralen Punkte geben Antworten:

1.   Die Sozialrevolutionäre versagten bei der Frage des Friedens und der Frage der Bodenreform. Denn die Sozialrevolutionäre billigten grossmehrheitlich die Fortführungen des Krieges und schoben die Bodenreform, DER zentrale Punkt ihres Programms, immer weiter hinaus. Ministerpräsident Kerenski und Parteiführer Tschernow liessen immer wieder verlauten, dass zuerst der Krieg beendet werden müsse, bevor die Landfrage gelöst werden könne. Die Regierung versuchte auch die spontanen Landaneignungen der BäuerInnen zu verhindern.

2.    Mit ihrem Verständnis der Bauernschaft als revolutionäres Subjekt schafften es die Sozialrevolutionäre nicht, eine feste Klassenbasis zu schaffen. Die Unterstützung der BäuerInnen war nur solange gegeben, wie diese glaubten, die Sozialrevolutionäre würden die Landverteilung auch angehen. Obwohl die Partei anfänglich eine breite Unterstützung unter den BäuerInnen genoss, gelang es ihr nicht, diese auch in der Partei zu organisieren. Die soziale Struktur der Partei verschob sich während der Revolution weiter zu Ungunsten der BäuerInnen.

3.    In der Partei gab der rechte Parteiflügel den Ton an, unter anderem auch weil Cernov, einer ihrer populärsten Führer, zwischen linken und rechten Positionen schwankte. Die Schwäche der Führung der Partei hatte auch eine starke Fraktionierung zur Folge. In der Partei gab es ein breites Spektrum an Positionen, sie reichten von Vaterlandsverteidigern über sehr linke Sozialrevolutionäre, die mit der Zimmerwaldner Linken sympathisierten und den Bolschewiki nahestanden, Dies hatte zur Folge, dass die SozialrevolutionärInnen keine einheitliche Partei bildeteten, sondern in sich selber tief gespalten waren. Somit konnten sie die Chance, die sich ihnen nach dem misslungenen Putsch von General Kornilow im Juli 1917 auftat, die Macht in den Sowjets zu übernehmen, nicht ergreifen.

Obwohl die Sozialrevolutionäre in den Monaten nach der Februarrevolution die mitgliedermässig stärkste Partei Russlands wurden, führte die Unfähigkeit ihrer Führer, Versprechungen einzuhalten, und die starke innerparteiliche Zerstrittenheit zu einer Abkehr ihrer Basis. Der Hauptgrund, weshalb die Sozialrevolutionäre schlussendlich scheiterten, muss aber in ihrem Programm, das wie bereits ausgeführt, im Kern einen «rückständigen» Agrarsozialismus forderte, gesucht werden. Sie erkannten nicht, dass die treibende Kraft der Revolution die ArbeiterInnenklasse ist,.

Oktoberrevolution und Konterrevolution
In den Tagen der Oktoberrevolution spaltete sich ein Teil der Sozialrevolutionäre, die linken Sozialrevolutionäre, von der Partei ab. Die linken Sozialrevolutionäre traten in die revolutionäre Sowjet-Regierung ein, während die SozialrevolutionärInnen in Opposition zu den Kräften der Oktoberrevolution gingen. Die übriggebliebenen rechten SR verloren in der Folge massiv an Unterstützung. Ihre vormaligen Anhänger und Sympathisanten unter der Bauernschaft gingen zu den Linken SR und zu den Bolschewiki über, während die SR sich der Konterrevolution anschlossen und die weissen Armeen unterstützten. Mit der Niederlage der konterrevolutionären Kräfte 1921 hörte die Partei de facto auf zu existieren. Die linken Sozialrevolutionäre blieben bis zum Separatfrieden von Brest-Litowsk im März 1918 in der Revolutionsregierung. Da sie die Friedensbedingungen des deutschen Imperialismus ablehnten, traten sie aus der Regierung aus und fingen an, diese offen zu bekämpfen. Im Juni 1918 versuchten sie einen bewaffneten Aufstand anzuzetteln und verübten Terroranschläge. Daraufhin wurden sie von den Sowjets militärisch geschlagen und lösten sich 1921 auf.

Jannis Brugger
Vorstand JUSO Graubünden