Die Strategen der Bourgeoisie waren davon ausgegangen, dass die Betriebseinstellungen wegen Covid-19 die ohnehin schon schwache Weltwirtschaft lediglich pausiert hätten. Sobald die Wirtschaft geöffnet würde, könnte sie wie zuvor weiter torkeln – ganz so als hätte man „Play“ auf der Fernbedienung gedrückt. Die Realität ist eine andere: Chaos hält die Weltwirtschaft gefangen.

Wir schreiben das Frühjahr 2020. Die Pandemie hat begonnen. Große Teile der Weltwirtschaft werden heruntergefahren. Sowohl die Produktion als auch die Nachfrage brechen auf ein historisch niedriges Niveau ein. Der Ölpreis implodiert und Verträge über künftige Öllieferungen (sogenannte Öltermingeschäfte) werden zu negativen Kursen verkauft. Die soziale Lage ist äußerst angespannt, und das vor dem Hintergrund eines für die herrschende Klasse unheilvollen Jahres 2019. Die Risikobewertungsagentur Verisk Maplecroft schätzte, dass 2019 ein „Viertel aller Länder der Welt einen deutlichen Anstieg der sozialen Unruhen erlebte“. Dieselbe Agentur sagte voraus, dass dies bis 2020 zur „neuen Normalität“ werden könnte. Die Zentralbanken und Regierungen in aller Welt waren sich der Tatsache bewusst, dass extreme soziale Unruhen und möglicherweise Aufstände gegen die bestehende Ordnung eintreten würden, wenn Millionen von Arbeitern und Arbeiterinnen von einem Tag auf den anderen ihre Existenzgrundlage verlieren sollten. Sie beschlossen daher, „Rettungspakete“ zu schnüren und Billionen von Dollar an Schulden und gedrucktem Geld in die Weltwirtschaft zu leiten.

Im Laufe von zwei Monaten wurden allein in den Vereinigten Staaten mehr als 10 Billionen Dollar in die Wirtschaft gepumpt. Der Betrag überstieg die Rettungspakete der ersten zwei Jahren nach der „Großen Rezession“ zwischen 2008 und 2010 um das Zehnfache. Dieses Geld floss nicht nur in die Kassen des Finanzsektors, sondern auch in die Taschen der Verbraucher. Ein Großteil davon in Form von sogenanntem „Helikoptergeld“, wie zum Beispiel die Coronavirus-Hilfsschecks, die Trump jedem US-Bürger überreichte. Finanziert wurde das alles durch Schulden und die Geldschöpfung und führte zu einer Explosion der Geldmenge.

Die Gouverneure der Zentralbanken und die Strategen des Kapitals wussten, dass diese Politik vom Standpunkt der bürgerlichen Wirtschaft aus gesehen zutiefst unverantwortlich war. Wenn die Geldmenge erhöht wird, ohne dass die Produktion Schritt hält, führt dies zwangsläufig zu Inflation und wirtschaftlicher Instabilität. Doch angesichts der Gefahr sozialer Unruhen und der tödlichen Angst, hier und jetzt alles zu verlieren, bevorzugte die Bourgeoisie, die langfristigen wirtschaftlichen Probleme auf die lange Bank zu schieben. Mit den negativen Folgen der gigantischen Rettungspakete würde dann umgegangen werden, wenn sie sich abzeichnen.

Anfänglich wirkten die massiven Anreize. Die Nachfrage explodierte vor allem im Westen schnell. Die Leute renovierten ihre Häuser, kauften Fahrräder, Autos und Computer. Die Nachfrage stieg im Handumdrehen von Null auf Hundert. Doch die Konsummuster änderten sich. Nachfrage in Höhe von Billionen von Dollar und Euro verlagerte sich von einem Sektor zum anderen, insbesondere von den Dienstleistungen (die wegen der Betriebseinstellungen nicht zugänglich waren) zu den Konsumgütern. Gleichzeitig wurden verschiedene Teile der Produktion zeitweise stillgelegt, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen. Der gesamte mühsam aufgebaute Mechanismus der weltweiten Lieferketten brach zusammen, als eine Flutwelle von „künstlicher“ Nachfrage über den Markt schwappte. Die Versorgungskrise war geboren.

Empfindliches Wirtschaftsnetz

Die Versorgungskrise ist die Folge des Zusammenbruchs des Welthandelsnetzes. Seit Jahrzehnten – insbesondere seit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Integration Chinas in den Weltmarkt – schreitet die sogenannte „Globalisierung“ voran. Die gesamte Welt ist sehr stark wirtschaftlich zusammengewachsen. Immer komplexere Lieferketten, die durch sehr niedrige Transportkosten begünstigt wurden, führten dazu, dass Waren in einer Ecke der Welt hergestellt, in einer anderen montiert, in einer dritten verpackt, in einer vierten verkauft werden konnten, usw. usw.

Teil dieses Prozesses war auch die Entwicklung der sogenannten „Just-in-time-Produktion“. Dabei ging es darum, die Lagerbestände auf ein absolutes Minimum zu reduzieren. Der Zweck davon war es, Verzögerungen im Prozess des Kapitalumlaufs zu minimieren, den Kapitalumschlag zu beschleunigen und damit die Profitrate zu erhöhen.

Wenn zum Beispiel eine Million Dollar des Kapitals eines Kapitalisten in Form von Fertigwaren brachliegt, bevor es verkauft wird, nur um in einem Jahr 10.000 Dollar beim Verkauf zurückzugeben, ist das eine bedauerliche Verschwendung für den Kapitalisten. Solange dieses Kapital brachliegt, zirkuliert es nicht und wirft keinen Gewinn ab. Der Kapitalist zieht es vor, diesen Prozess der Zirkulation zu beschleunigen. Wenn dasselbe Kapital in einem Jahr 20-mal zirkulieren kann, könnte der Kapitalist mit demselben Bruchteil seines Kapitals 200.000 Dollar realisieren. Dasselbe gilt für die Waren (sowohl Rohstoffe als auch unfertige Erzeugnisse), die der Kapitalist zum Zweck der Produktion kauft. Für den Kapitalisten hat es keinen Sinn, einen Lagerbestand ungenutzt stehenzulassen. Es ist besser, die Lagerbestände auf ein Minimum zu reduzieren, um sicherzustellen, dass so wenig Kapital wie möglich auf einmal ungenutzt bleibt. Dadurch kann die Geschwindigkeit seiner Zirkulation erhöht werden.

Um dieses Ziel zu erreichen, wurden im letzten Jahrzehnt verschiedene Technologien perfektioniert. Ausgehend von einigen großen Fabriken wie Toyota hat sich dieser Ansatz auf die gesamte Weltwirtschaft ausgeweitet – von den großen Herstellern bis hin zu den kleinsten Betrieben.

Wenn man früher zum Beispiel zum Mechaniker ging, um ein Ersatzteil für sein Auto zu besorgen, nahm der Mechaniker es aus dem Regal in seinem umfangreichen Lager. Mit der Just-in-Time-Produktion kann derselbe Mechaniker jedoch ein großes und teures Lager vermeiden. Er bestellt das Teil einfach bei seinem Lieferanten, der es am nächsten Tag in seine Werkstatt liefert. Auf diese Weise spart er sich die Investition in ein umfangreiches Lager – Kapital, das er in einem anderen Teil seines Unternehmens einsetzen kann – zum Preis der geringen zusätzlichen Kosten, die mit dem einzelnen Kauf jedes Teils verbunden sind.

Aus der Sicht des einzelnen Unternehmens waren die Lieferketten äußerst effizient. Anstelle von lokalen Lagern wurde der gesamte weltweite Warenkatalog zum Lager. Aber diese ganze Konstruktion war äußerst zerbrechlich und wie wir später noch sehen werden, hat die Just-in-time-Produktion keineswegs die inneren Widersprüche der Anarchie des kapitalistischen Systems als Ganzes oder der Überproduktion gelöst.

„Peitscheneffekt“ auf Steroiden

In Diskussionen über Lieferstrategien ist häufig vom sogenannten „Peitscheneffekt“ die Rede. Der Begriff bezeichnet Nachfrageschwankungen entlang mehrstufiger Lieferketten, die umso stärker werden, umso weiter man sich vom Endkunden in Richtung Hersteller bewegt. So kann eine plötzliche Steigerung der Nachfrage einen Dominoeffekt auslösen, der sich über die gesamte Lieferkette auswirkt und dafür sorgt, dass am Ende bei den Produzenten eine größere Nachfrage signalisiert wird, als von den Konsumenten ausging.

Nehmen wir ein Beispiel: Ein Geschäft verkauft normalerweise 250 Kisten Wasser pro Monat. Plötzlich steigt die Nachfrage und der gesamte Bestand von 250 Kisten wird in einer Woche aufgebraucht. Das Geschäft ist überrascht und wendet sich daher an seinen Großhändler und bestellt 500 Kisten, um die höhere Nachfrage zu befriedigen. Der Großhändler ist von dem scheinbar expandierenden Markt ebenso angenehm überrascht und bestellt bei seinem Vertriebshändler 1.000 Kisten, um die erwartete Nachfrage zu decken. Der Großhändler gibt beim Hersteller eine Bestellung über 1.500 Stück auf. Der Hersteller bestellt bei seinen Zulieferern Rohstoffe für 2.000 Kisten. Ein kurzzeitiger Anstieg der Wassernachfrage um 250 Kisten – vielleicht ausgelöst durch eine Woche mit besonders warmem Wetter – hat sich also am anderen Ende der Lieferkette in 2.000 Kisten verwandelt. Wenn sich die Nachfrage im nächsten Monat wieder normalisiert, wird sich der Effekt in sein Gegenteil verkehren, und es wird zu einer massiven Überproduktion kommen, wobei den letzten Gliedern der Kette vielleicht sogar der Konkurs droht, weil sie hohe Investitionen in Maschinen und Rohstoffe getätigt haben, um einen nichtexistierenden Markt zu bedienen, von dem sie glaubten, er sei entstanden.

Derselbe Prozess wirkt in der gegenwärtigen Situation als verschärfender Faktor, der zu den extremen Engpässen und Knappheiten führt, die derzeit überall auf der Welt auftreten. Aber in diesem Fall geht es nicht nur um einen Rohstoff. Vielmehr handelt es sich um einen Prozess, der sich gleichzeitig in der gesamten Weltwirtschaft vollzieht. Die Nachfrage hat sich nicht nur zwischen den einzelnen Sektoren und Waren deutlich verschoben, sondern wurde auch durch das Gratisgeld, das in irrsinnigen Mengen von der Regierung und den Zentralbanken verteilt wurde, stark erhöht. Die bereits vorherrschende Anarchie der kapitalistischen Produktion hat seit dem Ausbruch der Pandemie einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Produzenten haben keine Möglichkeit, die künftige Nachfrage auf der Grundlage von Daten aus den Vorjahren abzuschätzen, da niemand weiß, ob die Veränderungen im Konsumverhalten dauerhaft sind.

Auf der Angebotsseite weiß niemand, ob die Produzenten morgen wegen neuer Ausbrüche der Delta-Variante (oder der nächsten kommenden Variante) schließen werden. Und da wichtige Häfen geschlossen wurden, um die Ausbreitung der Infektion zu stoppen, sind die internationalen Logistikketten völlig verstopft. Leere Container stehen an den falschen Stellen und Schiffe müssen wochenlang vor den Häfen warten, um ihre Waren zu entladen. Es herrscht extreme Ungewissheit darüber, ob Rohstoffe, Bauteile und Halbfertigprodukte morgen oder erst in sechs oder zwölf Monaten eintreffen werden. Es herrscht Chaos.

Der Peitscheneffekt wirkt sich nun exponentiell auf die Lieferketten aus, weil die Lieferanten davon ausgehen, dass das derzeitige höhere Nachfrageniveau die „neue Normalität“ ist, auf die sie sich in Zukunft einstellen müssen. Darüber hinaus horten die Unternehmen auf allen Ebenen der Lieferketten bewusst, weil sie befürchten, die Produktion wegen fehlender Komponenten wieder einstellen zu müssen. Das passiert beispielsweise bei vielen Marken in der Automobilindustrie. Die größten und finanzstärksten Unternehmen können bei ihren Zulieferern große, weit in die Zukunft reichende Bestellungen aufgeben und Vorrang vor den Lieferungen an andere Kunden verlangen. Dadurch werden Engpässe, die das gesamte System betreffen, noch verschärft. Es gibt keine Statistiken über das Ausmaß der Hortungen. Die einzigen Beweise sind anekdotischer Natur. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass es sich um ein massives Phänomen handelt.

Der bestehende Produktionsapparat ist nicht in der Lage, damit Schritt zu halten. Was macht ein Hersteller, der mit Aufträgen überschwemmt wird? Neben Preiserhöhungen erlaubt er sich natürlich, sich auf die Produkte zu konzentrieren, die ihm die höchsten Margen bieten: die teureren High-End-Produkte. Das bedeutet, dass es bei bestimmten Produkten sogar zu einem Angebotsrückgang kommen kann – etwa bei alten Computerchips, die in der Automobilindustrie in einfachen Bauteilen wie Dimmern in Rückspiegeln verwendet werden.

Die kombinierte Wirkung aller oben genannten Faktoren ist der ultimative Peitscheneffekt auf Steroiden. Die Kluft zwischen Angebot und Nachfrage hat astronomische Ausmaße angenommen.

Zurück zu welcher „Normalität“?

Wenn es sich bei den Problemen der Weltwirtschaft nur um einen gigantischen Peitscheneffekt im Rahmen eines ansonsten gesunden Booms handeln würde, dann würden sich die Dinge früher oder später mit einer kleinen Korrektur an den Märkten wieder normalisieren. Aber die Weltwirtschaft ist keineswegs gesund und schon gar nicht „normal“.

Seit 2008 haben Staaten und Zentralbanken die Volkswirtschaften durch extrem niedrige Zinsen und Stützungsmaßnahmen auf den Finanzmärkten künstlich am Leben erhalten. Das war eine verantwortungslose Politik, die aus Angst vor den sozialen und politischen Folgen eines großen wirtschaftlichen Zusammenbruchs dem Markt eine Stütze geben sollte.

Die Zentralbanken und die Regierungen versuchten das Unmögliche: die regelmäßigen Überproduktionskrisen – ein wesentlicher Bestandteil des kapitalistischen Systems – zu beseitigen. Diese periodisch auftretenden Katastrophen sind fester Bestandteil des kapitalistischen Systems. Ohne sie können der Kapitalismus und seine Marktwirtschaft nicht funktionieren – mit oder ohne den Einsatz von Just-in-time-Produktionsmethoden.

Einer der zentralen Widersprüche des kapitalistischen Systems besteht darin, dass die Arbeiterklasse mehr Wert produziert, als sie an Lohn erhält. Dies ist zwar die Quelle des von den Kapitalisten angehäuften Mehrwerts, bedeutet aber auch, dass die Arbeiterklasse – als die große Mehrheit der Bevölkerung – nicht in der Lage ist, den von ihr geschaffenen Wert zurückzukaufen. Solange die Kapitalisten ihre Profite in neue Produktionsmittel, Maschinen, Fabriken usw. investieren, um auf dem Markt wettbewerbsfähig zu bleiben und in der Erwartung, ihren Marktanteil zu vergrößern, drehen sich die Räder natürlich weiter. Angebot und Nachfrage scheinen sich die Waage zu halten und eine Überproduktion ist nicht zu erkennen. Arbeiter werden eingestellt, um die neuen Maschinen herzustellen, sie kaufen Konsumgüter usw. Es ist eine aufwärts gerichtete, positive Spirale. Aber all diese neuen Produktionskapazitäten müssen letztendlich dazu führen, dass noch mehr Waren produziert und an die Massen verkauft werden, die die Kapitalisten ausbeuten.

Marx erklärte: „Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde.“

Irgendwann, wie im Jahr 2008, werden die aufgestauten Widersprüche zu groß und brechen an die Oberfläche. In gewisser Weise stellt die Krise selbst die vorübergehende Lösung dieses Widerspruchs dar: Sie zerstört Überproduktion, Überkapazitäten und faule Kredite. Durch die Zerstörung legt sie den Grundstein für einen neuen Aufschwung und eine Neuausrichtung des Konjunkturzyklus. Die Arbeiterklasse zahlt den Preis, aber ein solcher Preis ist im Kapitalismus unvermeidlich und für das Funktionieren des Systems unerlässlich.

Im Jahr 2008 ist das aber nicht so gelaufen. Anders als in den 1930er Jahren wurde der Krise nicht erlaubt, ihre schmutzige Arbeit zu tun. Die herrschende Klasse hatte ganz einfach zu viel Angst vor den zerstörerischen Kräften, die entfesselt werden würden. Ein Tsunami der Verzweiflung und Wut der Arbeiterklasse hätte die herrschende Klasse überrollt, denn heute ist die Arbeiterklasse um ein Vielfaches größer und mächtiger als während der Großen Depression. So rettete der Staat die Unternehmen und vor allem die Banken.

Alles, was nach der Logik des Kapitalismus in einem Inferno von Bankrott und sozialer Katastrophe hätte untergehen müssen, wurde von der „fürsorglichen“ Hand des bürgerlichen Staates gerettet. Die Schuldenberge wuchsen höher und höher. Bankrotte „Zombie-Unternehmen“, Banken und sogar Staaten konnten ihr Dasein als wirtschaftliche „lebende Tote“ fortsetzen, solange es billige Kredite im Überfluss gab. Die Aktienmärkte nahmen wieder Fahrt auf und stiegen in schwindelerregende Höhen, wie noch nie vorher in der Geschichte. Die Immobilienblasen wurden wieder aufgebläht. Alle Anlagekategorien legten zu.

Mit den Rettungspaketen der Regierungen nach 2008 wurde das Risiko aus den Märkten verbannt. Die Preissignale, die in einer Marktwirtschaft für die Kapitalzuteilung absolut entscheidend sind, wurden massiv verzerrt oder völlig unbrauchbar gemacht. Normalerweise würden Anleger aufgrund des erhöhten Risikos einen besonders hohen Zinssatz verlangen, wenn sie Unternehmen mit schlechter Bonität Kredite gewähren. Heute liegen die Zinssätze für risikoreiche Anleihen in den Vereinigten Staaten im Durchschnitt unter der Inflationsrate. Auf der Suche nach Zinsen werden riesige Geldfluten durch das System geschwemmt.

Seit der Pandemie und den gigantischen Rettungspaketen, die sie begleiteten, hat sich die Verzerrung der Preissignale um ein Vielfaches verstärkt. Risiko ist für Finanzspekulanten kein Thema mehr. Den Finanzmärkten wurde der Eindruck vermittelt, dass der Markt immer nur nach oben gehen würde, weil die Zentralbanken immer eingreifen und den Markt retten werden, wenn Probleme eintreten. Dieses Missverständnis schien durch das Verhalten der Zentralbanken im Frühjahr 2020 bestätigt zu werden, als sie mit ihren riesigen Geldgeschenken intervenierten und in kürzester Zeit einen historisch tiefen und plötzlichen Börsencrash in eine neue Aktienmanie verwandelten. Wie sollen die Märkte und Lieferketten wieder zu einem „gesunden“ Gleichgewicht zurückfinden, wenn die „unsichtbare Hand“ des Marktes außer Kraft gesetzt wurde? Das gegenwärtige Chaos ist also zum Teil ein Produkt der tiefen organischen Krise des Kapitalismus, zum Teil aber auch ein Produkt der eigenen politischen Reaktion der herrschenden Klasse, die sich nicht mehr traut, ihr eigenes Wirtschaftssystem so funktionieren zu lassen, „wie es funktionieren sollte“. Ihre Angst davor, im Zuge sozialer Explosionen, die eine solche freilaufende Krise auslösen würde, gestürzt zu werden, treibt sie dazu an.

Globalisierung

Das derzeitige Chaos und die Unsicherheit führen dazu, dass große Unternehmen ihre Lieferketten umgestalten und sie lokaler, regionaler und generell robuster machen wollen. Das kann jedoch nicht von heute auf morgen geschehen. Und es ist definitiv nicht kostenlos. Fabriken müssen geschlossen und andere gebaut werden. Das ist ein Prozess, der Jahre dauert, nicht Wochen und Monate. Aber das Chaos nach der Pandemie spielt auch in einen bereits bestehenden Trend hinein: verstärkter Protektionismus und imperialistische Rivalität. Seit dem Scheitern der Doha-Runde der Welthandelsorganisation (WTO) hat sich die Globalisierung verlangsamt und ins Gegenteil verkehrt.

Die Krise von 2008 hat diesen Fliehkräften weiteren Auftrieb gegeben. Einzelne Länder versuchen, sich auf Kosten der anderen aus der Krise zu exportieren. Es wurde zunehmend zu einem Kampf „jeder für sich“. Die Handelsschranken wurden erhöht. Als Trump 2016 an die Macht kam, beschleunigte er diesen Prozess, indem er einen direkten Zollkrieg gegen China anzettelte, um den wachsenden Wirtschaftsriesen mit politischen Mitteln in Schach zu halten. Das sollte die Vorherrschaft des US-Imperialismus schützen. Joe Biden setzt diese Politik energisch fort.

Selbst mittelfristig ist eine Rückkehr zum gleichen Grad an Globalisierung und zu den gleichen Lieferketten, wie sie vor der Pandemie bestanden, nicht möglich. Die Weltwirtschaft ist in eine Phase eingetreten, die mehr mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts gemeinsam hat als mit den beiden vorangegangenen Jahrzehnten. Die Folgen sind geringeres Produktivitätswachstum, Druck auf die Profitraten (dem die herrschende Klasse langfristig durch Lohndrückerei entgegenzuwirken versuchen wird) und höhere Preise, soweit das Auge reicht. Das wird den Klassenkampf zuspitzen.

Was kommt auf uns zu?

Es wäre naiv, den Zentralbanken zu glauben, dass die Inflation, die sich allmählich weltweit ausbreitet, nur ein vorübergehendes Phänomen wäre. Sie haben eine Inflationsspirale in Gang gesetzt, weil sie Geld in gigantischen Mengen drucken und es in eine Wirtschaft pumpen, die im Chaos versinkt. Gleichzeitig halten sie die Zinsen niedrig. Diese Politik hat die Wirtschaft am Laufen gehalten und nebenbei die Reichen spektakulär reicher gemacht, da die Preise aller Anlagekategorien gestiegen sind.

Die gigantischen Hilfspakete und monetären Anreize seit der Pandemie sind eine Fortsetzung dieser jahrzehntelangen Politik. Die Weltwirtschaft ist längst so etwas wie ein Kredit-Junkie geworden und die herrschende Klasse hat alles, was sie aufbringen konnte, in die Befriedigung dieser Sucht gesteckt.

Mit dem Einsetzen der Pandemie stieg die sogenannte M2-Maßeinheit der Geldmenge in den Vereinigten Staaten in nur einem einzigen Quartal um 16 Prozent. In den Jahren zuvor lag die Steigerungsrate bei etwa 3-4 Prozent pro Jahr. Inzwischen hat sich die jährliche Steigerungsrate der Geldmenge bei etwa 13 Prozent stabilisiert (von August 2020 bis August 2021). Die Inflation in den USA steigt stetig an und liegt zum Redaktionsschluss bei über 6 Prozent. Mit Zinssätzen von knapp über 1 Prozent und monatlichen Anleihekäufen in Höhe von 120 Mrd. USD drückt die US-Notenbank weiterhin auf das Gaspedal und nährt die Inflation. Allerdings hat sie begonnen, darüber zu sprechen, diese Politik – irgendwann einmal – einzustellen.

Im Euroraum waren die Inflationszahlen bisher niedriger als in den Vereinigten Staaten und lagen im Oktober bei 4,1 Prozent und in Deutschland bei 4,5 Prozent. Der jüngste deutsche Erzeugerpreisindex-Wert (Oktober 2021), der die Inflation der Preise der deutschen Hersteller angibt, wies jedoch einen starken Anstieg um 14,2 Prozent auf Jahresbasis auf. Das letzte Mal erreichte dieser Index ein solches Niveau im Jahr 1974.

Früher oder später werden die Zentralbanken ihren Kurs ändern und versuchen müssen, die Inflation zu bekämpfen. Dies wird einen Stopp der Stützungsmaßnahmen und eine Anhebung der Zinssätze bedeuten und die Finanzmärkte in einen Schockzustand versetzen. Steigende Zinssätze werden auch enorme Auswirkungen auf die aufgeblähten Immobilienmärkte in den USA und in Europa haben, wo Millionen von Lohnabhängigen der persönliche Bankrott droht.

Aber die Probleme hören hier nicht auf. Im dritten Quartal gab es Anzeichen dafür, dass sich das Wachstum in den USA verlangsamt. Sollte sich dies bewahrheiten, würden wir in den Bereich der gefürchteten Stagflation gelangen. Das heißt, eine wirtschaftliche Situation, in der Stagnation und Inflation gleichzeitig auftreten. Das würde die Direktionen der Zentralbanken in eine Zwickmühle bringen: Erhöhen sie die Zinssätze, um die Inflation zu bekämpfen, stürzt das eine bereits schwache Wirtschaft in eine tiefe Rezession. Lockern sie die Geldpolitik, um das Wachstum anzukurbeln, beschleunigt das die Inflation und frisst die Kaufkraft der Arbeiterklasse und die Gewinne der Kapitalisten auf – und endet ebenso in einer Krise.

Aber anders als in der Stagflation der 1970er Jahre, als die USA eine Staatsverschuldung von etwa 30 Prozent des BIP hatten, liegt sie heute bei 125 Prozent. Zudem beträgt das Haushaltsdefizit allein für 2021 satte 2.769 Milliarden Dollar (d.h. etwa 13 Prozent des US-BIP). Solche Zahlen wiesen früher nur Statistiken der bankrotten und halbbankrotten unterentwickelten Länder auf. Jetzt betrifft das die größte imperialistische Macht der Welt und den Wächter des globalen Kapitalismus.

Eine Krise reiht sich an die andere. Oberflächlich betrachtet erscheint das alles als eine besondere Verkettung von Unfällen. Aber es sind Unfälle, die eine tiefere Notwendigkeit zum Ausdruck bringen: Jahrzehntelanges „Hin- und Herschieben“ in allen Bereichen hat nichts gelöst. Sie haben alle Widersprüche des Kapitalismus nur aufgeschoben und verschärft. Das System stößt nun an seine Grenzen und es zeichnet sich eine schwere Krise ab.

Der Kapitalismus kann nur funktionieren, wenn seine natürlichen und immer wiederkehrenden Überproduktionskrisen die Produktionskapazitäten bereinigen und so die Grundlage für einen neuen Aufschwung schaffen. Über zwei Jahrzehnte lang wurden drei solcher großen Krisenbereinigungen (2001, 2008, 2020) dadurch verhindert, dass die Schulden bis zum Himmel aufgestapelt wurden. Die Welt war noch nie so verschuldet. Das gilt vor allem für die reichen Länder. Was sich heute abspielt, hat noch kein Mensch erlebt. Früher oder später wird das alles über uns hereinbrechen – wie wir schon jetzt mit dem Chaos und der Krise in den Lieferketten, mit der Inflation, der Klimakrise und der Energiekrise in Europa und Asien zu spüren bekommen. Die gesamte angehäufte Last wird auf die Arbeiterklasse abgewälzt werden, mit katastrophalen sozialen Folgen.

Das Ganze kann fast absurd anmuten. Aber es gibt keinen Grund, über die Situation zu lachen oder zu weinen. Es ist vor allem notwendig, zu verstehen. Wir müssen der Realität ins Auge sehen: Das kapitalistische Weltsystem ist in Chaos geraten. Wir müssen uns auf einen erbitterten und langwierigen Klassenkampf einstellen, der weder einfach noch angenehm sein wird. Je mehr wir aus den Erfahrungen der Vergangenheit gelernt haben, je besser wir organisiert sind und je mehr wir sind, desto besser werden wir in der Lage sein, diesem angeschlagenen System den Todesstoß zu versetzen. Nur wenn wir die Anarchie des Kapitalismus aus dem Weg räumen, können wir eine menschenwürdige Gesellschaft schaffen. Wir müssen für eine Gesellschaft kämpfen, in der wir selbst die rationale und demokratische Kontrolle über die Wirtschaft und unsere gemeinsame Zukunft haben.

November 2021, Jonas Foldager