Wir leben in einer Zeit der fehlenden Handlungsfähigkeit bei überwältigender Handlungsnotwendigkeit: Dass wir in einer kaputten Welt leben, deren Entwicklung über kurz oder lang in die Selbstzerstörung führt, ist eine Einsicht, die immer mehr Leute teilen. Dennoch glauben die Wenigsten, dass es eine Möglichkeit gibt, den Lauf der Dinge zu verändern. Woher kommt dieser Pessimismus und gibt es einen Ausweg? Dies ist der erste Teil eines Doppelartikels. Hier gehts zum zweiten Teil „Militanter Optimismus“.

Dass unsere Gesellschaft nicht rund läuft, wird für immer mehr Leute offensichtlich. Wenn Gleichgültigkeit darüber besteht, so dient sie meist nur als Selbstschutz, um die eigene Hilflosigkeit erträglich zu machen. Für einen grossen Teil unserer jüngeren Generationen ist klar: Diese Welt ist völlig irrational und ermöglicht uns kaum ein Leben, wie wir es uns vorstellen würden. Ein grundlegender Wandel wäre notwendig, doch eine realistische Möglichkeit der Veränderung wird schwerlich gesehen. Entsprechend passiv bleiben die Unzufriedenen und Empörten.

Woher kommen diese Passivität und diese Hilflosigkeit, die charakteristisch sind für einen beachtlichen Teil der Jugend? Warum sieht fast niemand einen Ausweg aus dieser Situation und schon gar nicht, wie man selbst etwas dazu beisteuern könnte?

Die Kälte einer fremden Welt

Einen Teil unserer Antwort können wir in dem finden, was wir Entfremdung nennen. Entfremdung ist eine widersprüchliche Sache: Sie ist ein Verhältnis, das verhindert, dass wir ein vollkommenes menschliches Leben führen können; gleichzeitig aber auch ein gutes Stück weit verhindert, dass wir ein Bewusstsein darüber entwickeln, wie wir aus dieser Situation ausbrechen könnten. An dieser Stelle sollten wir vor allem zwei Aspekte der Entfremdung betrachten. Einerseits beschreibt sie eine gesellschaftliche Beziehung, die aus bestimmten Gründen gestört, verkehrt oder unterbrochen wird, und deshalb nicht mehr als Beziehung erkannt wird. Beispielsweise sind Menschen gesellschaftliche Wesen: Der einzelne Mensch wird nur im Bezug auf seine Mitmenschen zu dem, was er ist – dennoch verstehen sich die meisten Menschen als unabhängige Individuen mit ziemlich undurchlässigen Grenzen zu ihrer Aussenwelt. Entfremdung meint also, dass etwas getrennt wird, was eigentlich zusammengehört und nur in seiner Einheit vollkommen ist.

In unserer kapitalistischen Gesellschaft, die durch eine vielfache und umfassende Entfremdung gekennzeichnet ist, hat irgendetwas gewissermassen einen Keil zwischen uns Menschen geschlagen. Doch nicht nur das: ebenso ist der einzelne Mensch in sich selbst gespalten, während sich auch etwas Blockierendes in die Beziehung zwischen dem Menschen und der Natur eingeschlichen hat. Wir werden später nochmals darauf zurückkommen, wie diese Entfremdung entsteht. Grundsätzlich gilt, dass der andere Teil einer solchen Beziehung uns fremd ist und nicht mehr als Teil unserer selbst erkannt wird. Daraus folgt der zweite Aspekt der Entfremdung: Durch die Störung in der Beziehung wird möglich, dass wir nicht mehr wahrnehmen, wie der andere Teil der Beziehung auf uns wirkt. Das kann soweit führen, dass man von etwas fremdbestimmt wird, von dem man nicht einmal wahrnimmt, dass man in einer Beziehung zu ihm steht.

Auch wenn nur unbewusst, haben wir oftmals das berechtigte Gefühl, keine Kontrolle über unser eigenes Leben zu haben. Wir sind in vielen Belangen machtlos. Wir müssen tun, was wir nicht wollen, und wir sollen, was wir nicht können. Das frustriert und zerreisst uns, führt zu Komplexen und psychischen Problemen, zu Aggressionen, die sich an falschen Stellen entladen, weil ihre Ursachen verborgen bleiben. Viele geben sich selbst die Schuld, wenn sie den Anforderungen der Gesellschaft nicht gerecht werden können, was natürlich nicht zuletzt auch daran liegt, dass die bürgerlichen Ideologen seit langem gute Arbeit leisten, dass dies geschieht. Viele erkennen aber mittlerweile auch, dass es sich hierbei um gesellschaftliche Probleme handelt. Ein beachtlicher Teil der jüngeren Bevölkerung hat keine Lust mehr, den Spielregeln dieser Gesellschaft zu folgen, dem Druck des Immer-mehr und Immer-schneller, der Konkurrenz und Hochleistung in der Schule, im Beruf und sogar im „freien“ Alltag. Man will doch eigentlich nur leben! Dennoch schlägt dies äusserst selten in eine bewusste Gegenreaktion um. Selbst diejenigen verharren meist in der Passivität, die bereits von einer diffusen Unzufriedenheit zu einer bewussten Kritik der kapitalistischen Gesellschaft übergegangen sind. Der Pessimismus dominiert: Man kann die Gesellschaft sowieso nicht ändern, zu gross ist die Macht der Herrschenden, zu gross die Verblendung der Massen.

Getrennte Blicke auf die Welt

Die Entfremdung begünstigt stark einen individualistischen Blickwinkel auf die Gesellschaft. Dieser ist mit ein Grund für die fehlende Handlungsfähigkeit und die damit verbundene pessimistische Haltung. Der Keil zwischen Mensch und Gesellschaft bewirkt, dass der Einzelne als isoliertes Individuum von aussen auf die Gesellschaft schaut, ohne zu sehen, wo er selbst in dieser Gesellschaft steht. Wie wir gleich sehen werden, ist aus diesem Blickwinkel auf die Gesellschaft nicht ersichtlich, wie Veränderung erreicht werden könnte. Ein anderer, eng damit verbundener Grund für die Passivität ist, dass im „Aussen“ der Gesellschaft auch keine politische Kraft gesehen wird, die eine alternative Zukunftsvision anböte und wünschenswerte Veränderung herbeiführen könnte. Dass diese Kraft nicht gesehen wird, liegt natürlich daran, dass sie tatsächlich an den meisten Orten (noch) nicht existiert. Eng miteinander verbunden sind sie, weil die isolierte Perspektive auf der einen Seite dazu führt, dass die Einzelnen nicht fähig sind, eine politische Kraft aufzubauen. Auf der anderen Seite bewirkt das Fehlen einer solchen politischen Kraft, dass wenig geschieht, was die isolierte Perspektive aufrütteln könnte. Die pessimistische Haltung und die Abwesenheit einer überzeugenden Zukunftsvision blockieren sich im heutigen Zustand quasi gegenseitig.

Die bisher geschilderte Entfremdung ist das Resultat einer verkehrten Welt, in der mehr oder weniger alles auf ihrem Kopf steht. Die Wurzel dieser Verkehrung liegt im Privateigentum an Produktionsmitteln und der damit verbundenen fremden Aneignung der menschlichen Arbeit (entfremdete Arbeit) [1].

Die Welt steht kopf

Im Kapitalismus müssen die Lohnabhängigen ihre Arbeitskraft auf dem Markt verkaufen. Dabei verhält sich der einzelne Lohnabhängige nicht direkt zu seinen Mitmenschen, sondern über die Vermittlung des Marktes, der sie in die gegenseitige Konkurrenz zwingt. Der Markt entzieht dem Menschen seine Gesellschaftlichkeit und spaltet die Gesellschaft in scheinbar unabhängige Einzelteile auf. Statt dass sie gemeinsam arbeiten, um unmittelbar die Produkte für Bedürfnisbefriedigung herzustellen, arbeiten sie, um jeweils für sich einen Lohn zu erhalten, der dann erst die individuelle Bedürfnisbefriedigung ermöglicht. Was dabei hergestellt wird, spielt für den Lohnabhängigen eine untergeordnete Rolle, man arbeitet ja für den Lohn und nicht für das Produkt, das einem sowieso nicht gehört. In diesen Verhältnissen beginnt nun aber die Marktlogik mit ihrem notwendigen Streben nach Profit zu bestimmen, was produziert werden soll.

Die Lohnabhängigen schaffen mit ihrer Arbeit das Kapital, aber das Kapital bestimmt die Arbeit der Lohnabhängigen. Da die Profitzwänge den gesamten Produktionsprozess bestimmen und dieser Produktionsprozess unsere Gesellschaft strukturiert, befindet sich schliesslich die gesamte kapitalistische Gesellschaft in diesem verkehrten Verhältnis. Der Gang der Geschichte ist dabei gewissermassen vom Kapital bestimmt, während die eigentlich handelnden Menschen zu blossen Objekten werden, die in ihrem Handeln vom Kapital bestimmt werden. Sie werden zu fremdbestimmten Rädern in einer Maschine; zu den bekannten blinden Schafen einer Herde. Die Vorstellungen und das Handeln der Menschen befinden sich in Übereinstimmung mit Verhaltensregeln und Normen, die von aussen auferlegt sind – in letzter Instanz von der Verwertungslogik des Kapitals. Glücklicherweise kann die Autonomie des Menschen allerdings nie ganz ausgelöscht werden. Das zeigt sich allein schon dadurch, dass es möglich ist, ein Bewusstsein zu entwickeln, das sich von den herrschenden Vorstellungen unterscheidet.

Das Paradox besteht also darin, dass die gesamten gesellschaftlichen Strukturen durch handelnde Menschen hervorgebracht werden. Doch wenn sie einmal da sind, wenden sie sich gegen uns und bestimmen unser Leben.

Die Härte einer verkehrten Welt

Unter diesen Umständen der Isolierung sieht das einzelne Individuum meist nicht, dass es mit seinem Handeln fortlaufend in die Gesellschaft eingreift und sie zu erschaffen mithilft. Aber es sieht, dass sich die Gesellschaft permanent verändert. Diese Veränderung wird dementsprechend als etwas vollkommen Äusserliches angesehen. Auf diese Weise wird es für die Menschen schwierig, einen Sinn für die Veränderung zu entwickeln, weil sie sich nicht als Teil der Veränderung wahrnehmen. Das Treiben der Wirtschaft, der Staaten, internationale Ereignisse und Konflikte; das alles erscheint zusammenhangslos und komplett unabhängig von unserem Handeln.

Ann Robertson fasst diese marktvermittelte Verkehrung und ihre Auswirkung auf das Bewusstsein kompakt zusammen: „Anstatt direkt zusammenzuarbeiten, wird die Zusammenarbeit innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft indirekt von miteinander konkurrierenden Menschen erzwungen, wobei vor der Entscheidung, welche Option zu verfolgen, jede/r nur seine oder ihre persönlichen Interessen in Erwägung zieht. Allerdings führt ein solches Verhalten dazu, dass die Struktur, in der die Menschen arbeiten, nicht zum Gegenstand einer kritischen Reflexion wird, gerade weil es, aus dem Blickwinkel eines isolierten Einzelnen, unmöglich ist, sie zu verändern. Aus dieser Perspektive erscheint die Gesellschaft deswegen als so unbiegsam wie das Gesetz der Schwerkraft.“ [2]

Ein Grund für die fehlende Handlungsfähigkeit steckt also in der Wahrnehmung der gesellschaftlichen Strukturen als fixe objektive Tatsachen. In dieser Wahrnehmung bleiben auch diejenigen gefangen, welche die Fremdbestimmung und das fehlende kritische Denken bei den Massen sehen und die pessimistische Schlussfolgerung ziehen, dass Veränderung genau deshalb nicht möglich ist, weil diese Masse blind mit dem Strom schwimmt. Es ist die entfremdete Sichtweise, die unfähig ist, sich selbst in Beziehung zu setzen mit der Gesellschaft und sie sich zum Gegenstand zu machen.

Wie diese Sichtweise überwunden werden kann und warum trotz dieser umfassenden Entfremdung Optimismus angebracht ist, werden wir im zweiten Teil „Militanter Optimismus“ sehen.


[1] Hier ist es leider nicht möglich, das marxistische Verständnis von Klasse und Ausbeutung zu erläutern, das grundlegend ist für die folgenden Ausführungen. Zur Einführung in die Thematik empfiehlt der Autor „Lohn, Preis, Profit“ von Karl Marx und „Grundsätze des Kommunismus“ von Friedrich Engels
[2] Ann Robertson, „The Philosophical Roots of the Marx-Bakunin Conflict