Wer die Gesellschaft verändern will, braucht klare Perspektiven. Deshalb erarbeiten wir jedes Jahr eine allgemeine Einschätzung der wirtschaftlichen und politischen Konjunktur in der Schweiz. Diese dient uns als Kompass zur Orientierung in der laufenden politischen Arbeit. Hier veröffentlichen wir das diesjährige Dokument, welches von allen Funke-UnterstützerInnen in der ganzen Schweiz diskutiert und am nationalen Konferenz im Frühjahr 2022 verabschiedet wurde (hier als print version bestellen).

«Man sieht einfach, dass die Sicherheit und all das, für das die Schweiz steht, wirklich verloren gegangen ist. Das nehmen Anleger und Sparer nicht nur in der Schweiz, sondern auch in anderen Ländern wahr.»

Bernhard Brauhofer, führender «Reputations-Experte», zum Schweizer Bankenplatz

«Ihrer Natur nach besitzen die Veränderungen des Kollektivbewusstseins einen halb unterirdischen Charakter; erst wenn sie eine bestimmte Spannungskraft erreicht haben, drängen die neuen Stimmungen und Gedanken an die Oberfläche als Massenaktionen, die ein neues, wenn auch sehr unbeständiges gesellschaftliches Gleichgewicht herstellen. Der Gang der Revolution entblösst an jeder neuen Etappe das Machtproblem, um es sogleich wieder zu verschleiern – bis zu einer neuen Entblössung.»

Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution

Weltweit haben die 2008-Krise sowie die Coronapandemie zu grossen Umwälzungen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens geführt. Es handelt sich um eine organische Krise. Der Weltkapitalismus kann sich nicht mehr nachhaltig stabilisieren, sondern schlittert von einer Krise in die nächste. Die wichtigste Veränderung findet im Bewusstsein der Arbeiter und Jugendlichen statt. Wir sind in eine Periode der Vorbereitung auf die Revolution eingetreten. Vereinfacht gesagt, es ist heute etwas ganz anderes über Kapitalismus und Revolution zu diskutieren als vor 15 Jahren und auch etwas anderes als noch vor 18 Monaten. Doch die Bourgeoisie wird so lange an der Macht bleiben, bis sie von der Arbeiterklasse bewusst gestürzt wird. Die Geschichte lehrt uns, dass es für die Machtübernahme und die Machterhaltung der Arbeiterklasse eine revolutionäre Führung braucht.

Doch viele dieser Veränderungen erscheinen nicht offensichtlich an der Oberfläche. Hinzu kommt, dass der ganze ideologische Apparat der Bourgeoisie darauf bedacht ist, die wirklichen Verhältnisse in der Gesellschaft zu verschleiern. Wer keinen von den Kapitalisten und dem bürgerlichen Staat unabhängigen Standpunkt einnimmt, ist dazu verdammt, die in der Gesellschaft vorherrschenden Ideen und Vorurteile zu übernehmen. In der Schweiz ist das Vorurteil des «Sonderfalls Schweiz» in allen Sphären (wirtschaftlich, politisch, psychologisch) tief verankert. Insbesondere in der heutigen Zeit – wenn der Weltkapitalismus im Chaos versinkt und auf allen Kontinenten revolutionäre Bewegungen ausbrechen – hat dieses Sonderfall-Denken einen zutiefst reaktionären Charakter. Wir müssen uns gegen die schädlichen klassenfremden Ideen und Vorurteile bewaffnen. Dafür brauchen wir den klaren Standpunkt der Arbeiterklasse, ein tiefes Verständnis der Prozesse und Zusammenhänge sowie Klarheit über unsere Aufgaben und Ziele.

Das Ausmass der Krise sowie deren Verschleierung stellt höhere Ansprüche an marxistische Perspektiven als zuvor. Die diesjährigen Perspektiven des Klassenkampfs in der Schweiz haben einen etwas anderen Charakter als frühere Dokumente. Mehr denn je muss es in der aktuellen Periode darum gehen, die tiefen, dem System innewohnenden Widersprüche aufzuzeigen. Wir dürfen nicht jeder temporären Schwankung (sei es der Wirtschaft oder des Bewusstseins) hinterherhecheln, sondern wir müssen das Wesentliche vom Nebensächlichen trennen und die zentralen Tendenzen ausmachen und erklären.

Marxistische Perspektiven bestehen aus einer allgemeinen Einschätzung der jüngsten Vergangenheit und der Periode, die wir gerade durchlaufen. Es geht darum, die wichtigsten objektiven Bedingungen, die das Massenbewusstsein prägen, zu analysieren. Aus dieser Analyse fliesst eine wissenschaftliche Einschätzung des wahrscheinlichsten Verlaufs der Ereignisse der nächsten Monate und Jahre. Nur so können sie der revolutionären Organisation eine sichere politische Ausrichtung geben. Gleichzeitig sind Perspektiven natürlicherweise bedingt und müssen ständig mit dem tatsächlichen Verlauf der Geschichte in Einklang gebracht werden.

Alle Marxisten und seriösen Anti-Kapitalisten in der Schweiz sollten diese Perspektiven sorgfältig lesen, diskutieren und – wenn sie damit einverstanden sind – die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen. Nämlich die International Marxist Tendency in der Schweiz und weltweit aufzubauen.

Weltwirtschaft – Erholung spitzt Widersprüche zu

Die Krise des Kapitalismus ist so tief, weil sie über Jahre und Jahrzehnte vorbereitet wurde. Bereits rund um den ersten Weltkrieg befand sich der Kapitalismus in einer organischen Krise. Diese wurde vor allem durch die massive Zerstörung der Produktivkräfte im zweiten Weltkrieg gelöst. Die Nachkriegszeit war eine historische Ausnahmesituation mit fast 30 Jahren stabilem Wachstum in den imperialistischen Ländern. Dies schürte die Illusion eines ewig wachsenden Kapitalismus mit ewig steigenden Lebensbedingungen für die Massen. Diese Illusionen wurden durch die Massenbewegungen rund um Mai 68 und der Weltwirtschaftskrise der 70er Jahre brutal widerlegt. In der «neoliberalen» Offensive verbesserten die Kapitalisten ihre Profitbedingungen auf dem Rücken der internationalen Arbeiterklasse. Doch die Ursache der Krise – die kapitalistische Überproduktion – konnte nicht behoben werden. Die Widersprüche brachen 2008 in der Finanzkrise auf. Die Erholung der 2010er-Jahre war die schwächste Erholung in der Geschichte des Kapitalismus. Im Jahr 2019 waren 90% aller Länder Teil des weltweiten Wachstumsrückgangs. Der nächste Kriseneinbruch zeichnete sich ab.

«Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? (…) Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.»

Marx und Engels, Manifest, 1848

Der Kapitalismus kann nur funktionieren, indem seine immer wiederkehrenden Überproduktionskrisen Produktivkräfte vernichten und so die Grundlage für einen neuen Aufschwung schaffen. Doch heute kann sich die Bourgeoisie die volle Bereinigung nicht leisten – weder ökonomisch, noch sozial. Über zwei Jahrzehnte lang wurde die bereinigende Wirkung der Krisen v.a. dadurch verhindert, dass die Schulden bis zum Himmel aufgetürmt wurden. Durch die temporäre und rein künstliche Überwindung der 2008- und Corona-Krisen hat sich eine kolossale Menge an toxischem Material in der Weltwirtschaft angesammelt. Von enormen öffentlichen Schulden (28 Billionen Dollar allein in den USA) und privaten Schulden bis hin zu Blasen an den Aktien- und Immobilienmärkten könnte jeder grössere Schock oder Zahlungsausfall einen Dominoeffekt auslösen, der das gesamte Wirtschaftssystem in eine Abwärtsspirale führt.

In dieser Situation des dahinseuchenden Kapitalismus löste das Coronavirus die tiefste und breiteste Krise seit 300 Jahren aus. Corona warf die Weltwirtschaft aus ihrem wackeligen Gleichgewicht. Die Staaten waren erneut gezwungen, riesige Geldmengen in die Wirtschaft zu spülen – zehnmal mehr als nach 2008. Dies hat zwar zum schnellen Aufschwung geführt, aber gleichzeitig die Überproduktion verschärft. Das zusätzliche fiktive Kapital führt zu noch mehr künstlichen Überkapazitäten, intensiviert die Zombifizierung des Kapitalismus und erhöht die Verschuldung.

Anfangs 2021 setzte eine schnelle Erholung der Weltwirtschaft ein.

«Wie verbinden sich die konjunkturellen Schwankungen mit der Hauptbewegung der kapitalistischen Entwicklungskurve? Ganz einfach. In Perioden schneller kapitalistischer Entwicklung sind die Krisen von kurzer Dauer und oberflächlich, während die Aufschwünge von langer Dauer und weitreichend sind. In Perioden des kapitalistischen Niedergangs sind die Krisen von längerer Dauer, während die Aufschwünge flüchtig, oberflächlich und spekulativ sind.»

Trotzki, Weltperspektiven 1921

Oberflächlich betrachtet – und das ist, was die bürgerlichen Ökonomen tun – sehen wir momentan die stärkste wirtschaftliche Erholung seit den 1950er Jahren (Wall Street Journal, The Economist, etc.). Doch dies ist kein längerfristiger Boom. Die konjunkturelle Erholung trifft auf einen Kapitalismus, der sich in einem miserablen allgemeinen Zustand befindet. Die Pandemie hat alle tiefen kapitalistischen Probleme massiv verstärkt: Staatsverschuldung, Zombie-Firmen, Spekulation, Protektionismus, usw. Ein langes, kräftiges Wachstum wie in der Nachkriegszeit ist ausgeschlossen. Damals waren in einer historischen Ausnahmesituation über fast 30 Jahre hinweg stabiles Wachstum und steigende Lebensbedingungen für grosse Teile der Arbeiterklasse in den entwickelten Ländern garantiert. Heute befindet sich der Kapitalismus im Niedergang. Das bedeutet, dass die wirtschaftliche Erholung nicht zu einer Beruhigung der kapitalistischen Widersprüche führt, sondern diese massiv zuspitzt. Es handelt sich zwar um einen Aufschwung der Wachstumszahlen, doch in Wahrheit ist es viel eher eine Krise. Die Widersprüche des Kapitalismus kommen offen an die Oberfläche. Die Erholung ist geprägt von diversen Krisenphänomenen: Überkapazitäten, Warenknappheit (insbesondere auf dem Energie- und Arbeitsmarkt), Inflation und verschärftem Protektionismus.

Die Pandemie war der Auslöser, der die Weltwirtschaft in die Krise riss. Aber sie war ein Trigger mit Eigenarten. Pandemie und Lockdowns bedeuteten gerissene Lieferketten und Produktionsunterbrüche. Die anschliessende rapide Erholung mit den Nachholeffekten und den Staatsgeldern – ein ruckartiger Anstieg der Nachfrage – traf auf leere Lagerhallen und unvorbereitete Lieferanten, also Warenknappheit. Weitere Flaschenhälse bilden sich im Transport (speziell Schiffsfracht) und im Arbeitermangel. Da alle Kapitalisten an sich selber denken müssen, wurden die Probleme durch Hortung von Produkten und Spekulation nochmals massiv verschärft. Und da alle Nationalstaaten für sich selber schauen müssen, kam es in verschiedenen Ländern zu impulsiven Staatsinterventionen, welche weitere Unsicherheiten in die Märkte brachten. Zudem halten sich viele Investoren zurück und laden die Risiken zunehmend auf die Staaten ab. Dies sind keine rein kurzfristigen Probleme, weitere Engpässe werden folgen. Die Krise auf den Weltmärkten wurde von der Just-in-Time-Produktion vorbereitet. Die JIT-Produktion (auch Toyota-System genannt) war Teil der «neoliberalen» Offensive, d.h. der temporären Überwindung der Krise der 70er-Jahre. Über Jahrzehnte wurden die Lagerbestände gestrafft und die Kapitalzirkulation erhöht, indem die Produktion dank tieferer Transportkosten und freierem Kapitalverkehr seit den 80er-Jahren in Niedriglohnländer ausgelagert, aber in von den imperialistischen Multis dominierten Lieferketten integriert wurde. Die schnellen Bestellungen der lead-Firmen in globalen Lieferketten benötigen riesige Produktionskapazitäten am Ende der Kette, so dass Kapazitäten rasch angepasst werden können. Kleine Schocks an der Spitze der Kette können somit in einer Art «Peitschen-Effekt» ganze Fabrikanlagen am Ende lahmlegen. In der momentanen, durch die Pandemie bedingten Instabilität von Nachfrage und Angebot gibt es allerdings Schocks an allen Gliedern der Kette: Einige Produzenten erhöhen fiebrig ihre Kapazitäten, während andere das Risiko nicht eingehen wollen. Dies führt zu absurder Gleichzeitigkeit von Überproduktion und Engpässen (Unterproduktion). In den grossen Industriehäfen der Welt prallen beispielsweise überfüllte Lagerhallen auf einen Mangel an Schiffscontainern. Egal wie raffiniert globale Lieferketten sind, sie sind dennoch der Anarchie des kapitalistischen Marktes unterworfen, dessen Versagen in der momentanen Lage offensichtlich wird. Der durch die Pandemie ausgelöste Schock verkehrt die kapitalistische Effizienz in ihr Gegenteil, nämlich in Chaos, Irrationalität und Vergeudung.

Nach der Finanzkrise von 2008 hatte die Bourgeoisie keine andere Lösung, als mit Quantitative Easing und ähnlichen Mechanismen Geld in die Wirtschaft zu pumpen und so die Unternehmen und das Wachstum künstlich am Leben zu erhalten. Mit der Pandemie wurde auf der einen Seite die Produktion eingeschränkt und auf der anderen Seite nochmals exponentiell mehr Geld in das System gepumpt. In Form von Konjunkturpaketen gelangen die Staatsgelder zumindest teilweise direkt in die Bevölkerung und die Realwirtschaft. Wenn die Produktion eingeschränkt und Geld in das System gepumpt wird, führt dies unweigerlich dazu, dass die Nachfrage das Angebot übersteigt und ein enormer Inflationsdruck entsteht. Den Zentralbanken und der herrschenden Klasse sind die Hände gebunden. Entweder bleiben die Zinsen tief, was die Inflation weiter ansteigen lässt, zu Verlusten bei den Banken und den Einlegern führt und vor allem den Klassenkampf anheizt, indem die Inflation sich in die Löhne frisst. Oder die Zinsen werden erhöht, was gewisse Staatsschulden unfinanzierbar machen, eine grosse Anzahl an Zombie-Firmen in den Ruin treiben und den Klassenkampf über Sparmassnahmen und Arbeitslosigkeit anheizen würde. Als «Ausweg» aus dieser Sackgasse bleiben der Bourgeoisie nur Sachen wie die Modern Monetary Theory oder Keynesianismus, die überhaupt keinen Ausweg darstellen. Diese Ideen sind völlig verrückt und zeigen die Verzweiflung der Bourgeoisie. Man kann Geld nicht aus der Luft schneiden. Die Krise des Kapitalismus bedeutet auch die Krise der bürgerlichen Ideen.

Die Knappheit und Preisanstiege auf dem Energiemarkt belasten das Wachstum und die Stabilität des Kapitalismus enorm, schliesslich handelt es sich um eine Ware, die im Herzen der Produktion steckt. In China mussten aufgrund der Energiekrise wichtige Industriezentren die Produktion einschränken. Es gibt verschiedene Ursachen der Energiekrise, doch sie alle lassen sich auf den anarchischen Charakter des Kapitalismus zurückführen. In einigen Märkten entstand die Knappheit zuerst auf dem Strommarkt und schlug anschliessend dominoartig auf den Kohlemarkt um, in anderen war es eher umgekehrt. Grössere Schwankungen in den klimatischen Bedingungen (wie besonders kalte oder heisse Jahreszeiten, Dürren, weniger Wind und Sonne, etc.) führten zu Einstürzen in der Energieproduktion. Zudem führten Handelskriege (z.B. zwischen China und Australien) sowie die chaotische Dekarbonisierungs-Politik mehrfach zu Engpässen. Um die Energieknappheit zu überwinden, und auch um soziale Unruhen zu verhindern, intervenierten die Staaten teilweise massiv. Parallel zu alldem stieg die Energienachfrage aufgrund der Erholung stark an, was schliesslich zu Knappheit und explodierenden Preisen führte. Die Energie-Inflation in Europa erreicht enorme 17%, die europäische Bourgeoisie hofft auf einen milden Winter. Bereits jetzt ist völlig klar, dass weitere Energiekrisen folgen werden. Wie die NZZ erklärt: «Die Gemengelage zeigt aber vor allem auch, dass es in vielen Energiemärkten keinen oder einen zu geringen systematischen Sicherheitspuffer gibt. Dadurch werden diese anfällig gegenüber Verwerfungen wie einer ungewöhnlichen Wetterlage oder einem überraschenden Nachfrageverhalten.» Die Anfälligkeit und Irrationalität des kapitalistischen Marktes entblösst sich immer deutlicher.

Die Arbeitskraft ist eine besondere Ware. Auch hier herrschen Chaos und massive Verwerfungen. Die massiven Staatsgelder in Form der Kurzarbeit verhinderten in den entwickelten Ländern Entlassungswellen, Explosionen der Arbeitslosigkeit und somit der sozialen Unruhen. Doch nun wird international und grossflächig der «Facharbeitermangel» zu einem riesigen Problem. In einigen Sektoren ist der Mangel extrem, so fehlen beispielsweise in Europa über 400’000 Lastwagenfahrer. In öffentlichen Sektoren wie der Gesundheit und der Kinder- und Altenbetreuung fehlt es überall massiv an Personal. Auch in der Industrie und der Landwirtschaft kommt es zu teilweise grossen Produktions- und Lieferausfällen aufgrund von Arbeitermangel. Dabei spielen Schocks wie die Pandemie oder der Brexit eine gewisse Rolle. Doch das Hauptproblem sind die Gesetze des Kapitalismus: Über Jahre und Jahrzehnte wurde zu wenig in Infrastruktur und Bildung investiert sowie kontinuierlich die Arbeitsbedingungen verschlechtert. Diese arbeiterfeindliche Politik wird nun spätestens mit der ruckartig erhöhten Nachfrage zum Schuss ins eigene Bein: Die Bourgeoisie braucht ständig neue und besser ausgebildete Arbeiter, ist allerdings nicht fähig, genug Facharbeiter auszubilden und ihnen gute Bedingungen anzubieten. Gemäss einer McKinsey-Umfrage in fünf Ländern wollen 40% der Arbeiter ihren Job in den nächsten Monaten verlassen. Der Facharbeitermangel gibt der Arbeiterklasse potenziell eine bessere Position in Lohnfragen. Allerdings ist klar, dass die Arbeiterklasse davon nur profitieren wird, wenn sie kollektiv für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen kämpft.

Der Protektionismus ist wohl die grösste Gefahr für den weltweiten Kapitalismus. In der Nachkriegszeit legte das kontinuierliche Wachstum und die ständige Ausweitung des Welthandels die Grundlage für den liberalen Multilateralismus, d.h. die zumindest oberflächliche Kooperation zwischen den Nationalstaaten. Heute ist die internationale Arbeitsteilung («Globalisierung») kein Motor mehr, sondern die Achillesferse des Kapitalismus. Der ökonomische Nationalismus breitet sich immer weiter aus. Die Überproduktionskrise bedeutet verschärfte internationale Konkurrenz, zunehmende Blockbildung und mehr Konflikte zwischen den Staaten. Der wachsende Anteil Chinas an der Weltwirtschaft fordert die USA zunehmend heraus. Dies führt zu Handelskriegen, regionalen Stellvertreterkriegen und ständiger geopolitischer Unsicherheit. Der US-Imperialismus befindet sich weiterhin in seinem relativen Niedergang, wofür die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan ein weiteres deutliches Anzeichen darstellt. Auch intern ist die US-Bourgeoisie geschwächt, Bidens Flitterwochen sind inzwischen vorbei. Die EU ist immer deutlicher der schwächste unter den führenden Blöcken im Weltkapitalismus. Der Brexit, die Schliessungen der Grenzen für gewisse Waren und Migration während der Pandemie, Konflikte zwischen den Nato-Partnern oder die Flüchtlingsproblematik mit Polen/Weissrussland zeugen davon, dass die Konkurrenz zwischen den Bourgeoisien der EU-Länder offener und heftiger ausgetragen wird.

Das chinesische Wachstum war nach 2008 Teil der weltweiten kapitalistischen Lösung aus der Krise. Doch inzwischen ist China Teil des Problems. Das Wirtschaftswachstum ist seit Jahren schwächer als das Wachstum der Schulden und damit zu schwach für die Bedürfnisse des Kapitalismus mit chinesischen Eigenschaften. Die Staatsgelder, der Motor des chinesischen Wachstums, haben zu riesiger öffentlicher und privater Verschuldung geführt. Der Skandal um den chinesischen Immobiliengiganten Evergrande hat die Instabilität offengelegt. Die chinesische Regierung wollte den Verschuldungswucher der Immobilienbranche bremsen und limitierte die Maximalverschuldung. Damit rückte das hochverschuldete Evergrande nahe an den Konkurs. Gemäss dem IWF wäre eine Evergrande-Pleite eine grosse Gefahr für die Immobilien- und Finanzbranche sowie die ganze wirtschaftliche Aktivität nicht nur in China, sondern weltweit. Die rosarote Periode des scheinbar linearen und unaufhaltsamen Wachstums des chinesischen Kapitalismus ist vorbei. Der Kapitalismus hat in China zu den gleichen Widersprüchen wie überall geführt.

Der Krieg in der Ukraine verstärkt die generelle Instabilität des Kapitalismus auf allen Ebenen. Die Ukraine ist der Schauplatz eines Stellvertreterkrieges zwischen imperialistischen Mächten, nämlich der NATO und Russland. Ein «Dritter Weltkrieg» ist zwar ausgeschlossen, dennoch ist der Konflikt als wichtigster Krieg in Europa seit 1945 von grösster Bedeutung. Auf geopolitischer Ebene drückt dieser Krieg die massiv gestiegenen Spannungen zwischen Nationalstaaten aus und verstärkt diese (zwischen den Kriegsparteien und innerhalb der Blöcke, v.a. zwischen den USA und der EU). In den ärmeren Ländern könnten die Nahrungsmittelverteuerungen zu regelrechten Hungersnöten führen. Auf wirtschaftlicher Ebene könnten die Energieverteuerungen, Lieferengpässe, die Jo-Jo-Börsenkurse sowie die nochmals angestiegene Inflation eine neue Rezession auslösen. Der Druck auf die Zentralbanken, die Leitzinsen zu erhöhen, um irgendwie die Inflation einzudämmen, steigt. All dies kommt just zu dem Zeitpunkt, an dem die Weltwirtschaft verzweifelt nach Wachstum lechzt. Der Kapitalismus ist von tiefen Widersprüchen durchzogen.

Der genaue Kriegsausgang ist zwar noch offen, aber der Ukraine-Konflikt hat bereits jetzt die Schwäche des westlichen Imperialismus aufgezeigt. Die herrschende Klasse hat ausser Heuchelei, Lügen und kriegstreiberischen Sanktionen nichts anzubieten. Auf der sozialen Ebene wird sich immer mehr die Frage durchsetzen, wie dieser Krieg passieren konnte und wieso die Regimes in den USA und Europa nichts dagegen tun konnten. Die allgemeine Stimmung der nationalen Einheit scheint zunächst noch stark. Doch die Risse werden nach zwei Pandemie-Jahren, einem Krieg mitten in Europa sowie der Aussicht auf weitere menschliche Katastrophen immer grösser. Die Arbeiterklasse zahlt für den Krieg, die Pandemie und die Krise, ohne dass die grossen Versprechen der herrschenden Klasse gehalten werden können. Es wird sich immer weiter die Einsicht breit machen, dass der Kapitalismus nicht die versprochene Stabilität liefern kann.

Fassen wir zusammen: Die verschiedenen kapitalistischen Krisen fressen ineinander hinein und verstärken sich gegenseitig. Der Kapitalismus ist im Niedergang. Der konjunkturelle Aufschwung ist kein wirklicher Aufschwung, sondern bedeutet pures Chaos. Die Bürgerlichen «Experten» sehen darin nur eine temporäre Verkettung von unglücklichen Unfällen. Aber es sind Unfälle, die eine tiefere Notwendigkeit zum Ausdruck bringen: Das jahrzehntelange Aufschieben der kapitalistischen Probleme hat nichts gelöst, sondern hat alle Widersprüche nur aufgeschoben und verschärft. Bereits jetzt sind die nächsten Krisen am Horizont deutlich sichtbar. Die direkte Verschränkung der Wirtschaftskrise mit der Pandemie (zuletzt Omikron und Börseneinsturz) wird weiterhin für grosse Unsicherheiten und Tumulten auf den Weltmärkten führen. Weitere konjunkturelle Erholungen werden kommen. Aber die Gesetzmässigkeiten des Kapitalismus bleiben – die Anarchie des Marktes und die Nationalstaaten. Alle Gesundheitsindikatoren des Kapitalismus zeigen abwärts: Produktivität, Investitionen, Schuldenlast, internationale Arbeitsteilung, usw. Die Perspektive ist eine sich über Jahre oder gar Jahrzehnte hinziehende Krisenspirale.

Die Krise des Kapitalismus und die Krisenpolitik der Bourgeoisie sind keine rein ökonomische Frage, sondern vor allem eine Frage des sozialen Kräfteverhältnisses. Die wahnwitzigen wirtschaftspolitischen Massnahmen der Bourgeoisie sind nur verständlich, wenn wir ihre Angst vor der Arbeiterklasse verstehen. Nach der 2008er-Krise versuchte die Bourgeoisie mit allen Mitteln (v.a. Austerität), das ökonomische Gleichgewicht wiederherzustellen. Sie opferte damit das soziale und politische Gleichgewicht – nur um die ökonomischen Widersprüche mittelfristig noch zu verschärfen. Die Angriffe der herrschenden Klasse zur Rettung der Profite führten in einem Land nach dem anderen zur Delegitimierung der Regierungen und traditionellen Parteien und damit zur politischen Polarisierung. Die traditionellen Parteien, jahrzehntelange stabile Stützen der politischen Ordnung, befinden sich überall im Niedergang. Nach der 2008-Krise wurde die anfängliche Schockstarre der Arbeiterklasse und der Jugend schnell durch Massenbewegungen auf allen Kontinenten ersetzt: Die 15M und Occupy-Bewegung und die Arabische Revolution 2011, der Aufstieg neuer Parteien wie Syriza und Podemos bis hin zur vorrevolutionären Situation in Griechenland 2015, die Sanders-Bewegung und viele mehr. Die Massen suchten sich zunehmend Wege, um ihrem Unmut gegen die kapitalistische Krisenpolitik einen Ausdruck zu verleihen. Dieser Prozess fand seinen vorläufigen Höhepunkt im Jahr 2019 in Massenbewegungen auf allen Kontinenten mit teils offen revolutionärem Charakter.

Die Pandemie setzte diesem Prozess teilweise einen vorübergehenden Deckel drauf, dennoch kam es zu explosiven Ausbrüchen wie der historischen BLM-Bewegung. Mit dem Corona-Kriseneinbruch wurden die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse nochmals extrem bedroht und der Kapitalismus entlarvte sich. Die Reaktion der herrschenden Klasse auf die Pandemie ist ein Resultat dieser Tatsache, dass sie es mit einer mächtigen Arbeiterklasse zu tun hat, deren Unmut gegen das System in den letzten Jahren auf Weltebene stetig grösser wurde. Die Logik von 2008 hat sich damit verkehrt: Im verzweifelten Versuch, das bereits stark untergrabene soziale und politische Gleichgewicht vor einer Explosion zu bewahren, war die herrschende Klasse bereit, das ökonomische Gleichgewicht zu opfern – nur um die sozialen Widersprüche mittelfristig noch zu verschärfen. Bidens Konjunkturpakete stehen stellvertretend dafür. Die Bourgeoisie sieht die Gefahr sozialer Unruhen, doch kein Rettungspaket ist gross genug, um die Probleme des Kapitalismus zu lösen. Ihr Handlungsspielraum wird immer kleiner.

Jede temporäre und künstliche Überwindung der Krisen bedeutet immer unmittelbarer weiteres Öl ins soziale und ökonomische Feuer. Die Radikalisierung tritt schon jetzt wieder zunehmend offen an die Oberfläche. Die wirtschaftliche Erholung löst auch keine sozialen Probleme. Sie erscheint selbst wie eine Krise. Die Widersprüche des Systems werden offen sichtbar. Die neuen Probleme, insbesondere die Inflation, heizen den Klassenkampf weiter an, was sich bereits mit der explosiven Striketober-Streikwelle in den USA ausdrückte. Die herrschende Klasse kann weder das ökonomische, noch das soziale Gleichgewicht wiederherstellen – und schon gar nicht beides. Die Arbeiterklasse wird in diesem Prozess so lange für die Krise des Kapitalismus bezahlen müssen, bis sie fähig ist, das System bewusst zu stürzen. Wir sind in eine Periode der Vorbereitung auf die Revolution eingetreten.

Schweizer Kapitalismus im Niedergang

Die Schweiz ist integraler Bestandteil des Weltkapitalismus. Dies bedeutet, dass die Schweiz vollumfänglich den Widersprüchen und Gesetzen des Kapitalismus ausgesetzt ist. Sicherlich hat der Schweizer Kapitalismus seine Eigenheiten. Zweifellos ist die Schweiz ein relativ stabiles kapitalistisches Land. Doch diese Eigenheiten existieren nicht ewig und nicht unabhängig von der allgemeinen Entwicklung des Kapitalismus. Sondern sie sind historisch erwachsen, innerhalb der Rahmenbedingungen der kapitalistischen Gesetze. Wir dürfen uns keinesfalls von Vorurteilen à la «in der Schweiz geht es den Menschen immer gut, es findet sich immer ein Kompromiss» täuschen lassen. Wir müssen unter die Oberfläche der «ewigen» Schweizer Stabilität schauen. Wir müssen erklären, wie die Dinge so geworden sind, wie sie sind, und in welche Richtung sie sich notwendigerweise entwickeln.

Die Geschichte des Schweizer Kapitalismus ist gekennzeichnet durch eine sehr schnelle Industrialisierung und vor allem eine frühe Internationalisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es ist vor allem in dieser Periode von der Bundesstaatsgründung 1848 bis zum Ersten Weltkrieg, wo der Schweizer Kapitalismus durch im internationalen Vergleich überdurchschnittlich schnelles Wachstum zu den (pro Kopf) kapitalstärksten Ländern aufstieg. Da der interne Markt sehr klein ist, haben die Kapitalisten in der Schweiz früh und vehement ihren Blick auf Profite im Ausland gerichtet. Um 1913, als der Weltkapitalismus bereits in sein imperialistisches Stadium getreten war, ist die Schweiz das Land mit den pro Kopf meisten multinationalen Grosskonzernen und den meisten Direktinvestitionen im Ausland. Die überwiegend exportorientierte Industrie spezialisierte sich dabei jeweils auf hochentwickelte Nischen. Durch die von Lenin benannte «Verschmelzung von Finanz- und Industriekapital» rückte der Bankenplatz ins Zentrum dieser Prozesse.

Nach dem zweiten Weltkrieg sorgten historisch ausserordentliche Umstände (siehe Ted Grant, «Kommt der Wirtschaftseinbruch?» von 1960) für eine enorme Entwicklung der Produktivkräfte und eine über zwanzigjährige Blütephase des globalen Kapitalismus. Der Schweizer Kapitalismus entwickelte sich in die gleiche Richtung, fiel allerdings bereits in dieser Periode im Vergleich mit den anderen führenden kapitalistischen Ländern zurück. Seit der Krise der 1970er Jahre und der darauffolgenden Liberalisierung der Kapitalmärkte und des Handels verschärfte sich die internationale Konkurrenz. Für das stark international orientierte Schweizer Kapital und den Finanzplatz wurde es zunehmend schwieriger, ihre Nischen zu halten. Der Versuch, seine internationale Stellung zu halten, drängte den Schweizer Kapitalismus zur Intensivierung der oben beschriebenen Entwicklungen: Das Kapital konzentriert sich stark in den Grosskonzernen (0.2% der Unternehmen beschäftigen über einen Drittel der Arbeiter und verzeichnen 80% der Exporte). Ein Grossteil der KMU sind direkt oder indirekt von einem Grosskonzern abhängig. Die beiden Grossbanken UBS und CS kontrollieren die Hälfte der Bankbilanzen. In der Industrie sehen wir seither eine massive Verschiebung hin zur hochprofitablen Pharma, welche für über zwei Drittel des Schweizer Wirtschaftswachstums in den letzten 20 Jahren verantwortlich ist. Die Integration in den Weltmarkt schreitet weiter voran, heute verdienen die Kapitalisten in der Schweiz mehr als einen von zwei Franken im Ausland. Kurz: Der Nischenplatz des Schweizer Kapitalismus auf dem Weltmarkt stellt die Grundlage für dessen relative Stabilität dar. Gleichzeitig bedeutet dies volle Abhängigkeit von der Weltwirtschaft.

Der Rassismus stellte immer ein Grundpfeiler des Schweizer Kapitalismus dar. Lenin schrieb 1916: «Die spezifische Eigenart des Imperialismus in der Schweiz ist gerade die steigende Ausbeutung der rechtlosen ausländischen Arbeiter durch die schweizerische Bourgeoisie, die ihre Hoffnungen auf die Entfremdung dieser zwei Kategorien von Arbeitern setzt» (Die Aufgaben der linken Zimmerwalder in der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz). Dies gilt für die Überausbeutung im In- und Ausland. Die Schweiz hat den mit Abstand höchsten Anteil an ausländischen Arbeitern aller europäischen Länder. Das Schweizer Kapital beutet im Ausland zwei Millionen Arbeiter aus. Im Kapitalismus – der u.a. auf Nationalstaaten, Hierarchisierung und Spaltung der Arbeiterklasse sowie der Kontrolle der Kapitalisten über den ideologischen Apparat beruht – gibt es keine Lösung für rassistische Diskriminierung.

Ein weiterer essentieller Baustein des Schweizer Kapitalismus ist die frühe Einbindung der Führungen der Arbeiterbewegung in den bürgerlichen Staat. Basierend auf der relativen Stabilität des Schweizer Kapitalismus waren früh die Illusionen in «demokratische» Instrumente vorherrschend. Die Schweizer Arbeiterklasse hat zwar immer und immer wieder gekämpft, doch die zutiefst reformistische Orientierung der Führung verhinderte die Entwicklung von wirklichen, verankerten Kampftraditionen. So gelang es der Schweizer Bourgeoisie, Krisen meist mit verhältismässig wenig sozialer Unruhe zu überwinden. Stellvertretend dafür steht die Krise der 70er Jahre: Die Schweiz war das OECD-Land mit dem tiefsten Kriseneinbruch, doch die anschliessende Erholung war rasant. Der Hauptgrund war, dass die Krise fast vollumfänglich auf die migrantischen Arbeiter und die lohnabhängigen Frauen abgewälzt wurde. Die Arbeitslosigkeit wurde auf die Ausländer und Frauen verlagert. Die chauvinistischen Führungen der Arbeiterorganisationen akzeptierten dies stillschweigend. Gegen die bürgerliche Krisenpolitik wurde kaum gekämpft.

Seit den 1990er Jahren schmilzt der Vorsprung des Schweizer Kapitalismus gegenüber seiner internationalen Konkurrenz weiter dahin. Zwar spielt die Schweiz in der Wirtschaftsleistung Pro-Kopf weiterhin in der Top-Klasse, aber die Grundlage für diese führende Stellung und die damit verbundene relative Stabilität bröckelt seit Jahrzehnten. Tatsächlich befindet sich der Schweizer Kapitalismus im Niedergang. 1970 lag die Wirtschaftsleistung pro Kopf in der Schweiz 110% und heute noch bei 57% über dem OECD-Durchschnitt. Die Arbeitsproduktivität in der Schweiz wächst seit 1990 langsamer als in den meisten OECD-Ländern, beispielsweise im Vergleich zu Schweden satte 22% weniger. Gleichzeitig sanken die Anlageinvestitionen gemessen am BIP noch stärker als in anderen entwickelten kapitalistischen Ländern: 1970 machten diese noch 33,5%, 2014 noch 23,4% aus.

Die Krise in der Schweiz ist, wie die weltweite Krise, eine Überproduktionskrise. Insbesondere seit der Jahrtausendwende haben sich die Auslandsinvestitionen massiv beschleunigt. Und zwar sowohl in absoluten Zahlen (Verdreifachung des Werts der durch Schweizer Grosskonzerne kontrollierten Fabriken im Ausland), als auch relativ im Vergleich zu den Investitionen in der Schweiz. Im Jahr 2000 waren die Anlagen in der Schweiz dreimal mehr wert als im Ausland, 2016 nur noch einen Viertel mehr. Dies zeigt deutlich, dass die profitablen Investitionsmöglichkeiten in der Schweiz fehlen und das Schweizer Finanzkapital vehement ins Ausland drückt. Gleichzeitig herrscht global Überproduktionskrise mit weltweit seit mindestens 2010 rückläufigen Arbeitsproduktivitäten und Investitionen, bei gleichzeitig explodierender Spekulation. Die Konkurrenz für rentable Investitionsmöglichkeiten in der Realwirtschaft auf den Weltmärkten spitzt sich massiv zu. Dies bedeutet auch zunehmend Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten, insbesondere zwischen den Weltmächten USA und China. Es ist in diesem eng abgesteckten Rahmen – zwischen relativem Niedergang des Schweizer Kapitalismus, der zunehmend internationalen Orientierung des Schweizer Kapitals und der Zuspitzung der globalen Widersprüche – in welchem die Schweizer Bourgeoisie ihren Platz finden muss.

Seit jeher ist die Aussenpolitik der Schweizer Bourgeoisie geprägt von der Suche nach Nischen und einem opportunistischen Manövrieren zwischen den Blöcken. Dieses parasitäre Verhalten unter dem Deckmantel der «Neutralität» und der «humanitären Tradition» ist immer weniger möglich. In der allgemein verschärften Konkurrenz nimmt der internationale Druck auf die Schweiz, ihre Rosinenpickerei aufzugeben, seit Jahren oder Jahrzehnten zu: Das Bankgeheimnis musste insbesondere wegen der Angriffe des US-Kapitals aufgegeben werden. Nun folgt die OECD-Steuerreform, welche erneut die Schweizer Steuervorteile angreift. Als Folge davon nimmt die Attraktivität der Schweiz für Grosskonzerne kontinuierlich ab. Gemäss einem McKinsey-Bericht (mit dem vielsagenden Titel «Switzerland Wake Up») installieren sich immer weniger Grosskonzerne in der Schweiz. Die Schweizer Bourgeoisie müsste eigentlich handeln, doch sie steht diesen Entwicklungen grösstenteils machtlos gegenüber.

Dies zeigt sich auch in den Beziehungen mit allen wichtigen Wirtschaftspartnern, die allesamt in der Krise stecken: Die Verhandlungen zum Rahmenabkommen mit der mit Abstand wichtigsten Handelspartnerin EU sind gescheitert. Bei mindestens zwei Dritteln des Handels mit Industrieprodukten könnte es in den nächsten Jahren zu Verteuerungen und anderen Schwierigkeiten kommen. Dieser Zustand ist für die Schweizer Bourgeoisie schlicht «unhaltbar», aber für einen Ausweg «ist eine Strategie in Bern bis jetzt nicht zu erkennen» (Avenir Suisse). Auch mit den USA, dem zweitwichtigsten Handelspartner, herrscht Stillstand oder gar Rückschritt. Während es unter Trump zumindest theoretisch die Möglichkeit eines Freihandelsabkommens gab, ist dies unter Biden ausgeschlossen. Beim veralteten Abkommen mit China wird es über Jahre keine Fortschritte geben. Diese drei Grossmächte machen knapp 70% des Schweizer Aussenhandels aus – mit allen steckt die Schweizer Bourgeoisie in einer Sackgasse, welcher sie objektiv ausgeliefert ist und kaum Handlungsspielraum hat. Die Schweiz droht zwischen den geopolitischen Blöcken zerrieben zu werden. Seit dem historischen Nein zum EWR 1992 mogelt sich die Schweiz auf den Weltmärkten durch. Doch wie Avenir Suisse sagt: «Sich ‘durchzumogeln’ bzw. einen Mittelweg zu finden, wird immer schwieriger. Die Spielräume werden – nicht nur für die Schweiz – geringer.» Einen Ausweg sieht auch die Denkfabrik der Schweizer Grossbourgeoisie nicht.

Beim Ausbruch des Ukraine-Krieges stemmte sich die herrschende Klasse in der Schweiz vehement gegen die Übernahme der westlichen Sanktionen und versuchte, sich hinter der «Schweizer Neutralität» zu verstecken. In Wahrheit war das Ziel, mit allen Kriegsparteien weiterhin Profite machen zu können. Auf der einen Seite sind die EU und die USA die wichtigsten Schweizer Wirtschaftspartner. In der Ukraine selber ist das Schweizer Kapital seit 2014 zum viertgrössten Investor des Landes aufgestiegen. Auf der anderen Seite hat Russland vor allem für den Schweizer Finanzplatz eine gewisse Bedeutung. So ermöglichten die diplomatischen Beziehungen mit Russland der Schweiz jeweils Einladungen an die Gipfel zu Finanzfragen der G7 und der G20. Das ist die Bedeutung der Neutralität: Sie ist die Art und Weise, wie der Schweizer Imperialismus traditionell seine Interessen auf internationaler Ebene verteidigt, indem er zwischen den grossen Blöcken balanciert und so auf allen Seiten die globale Arbeiterklasse ausbeutet. Doch in der zugespitzten Situation wurde der Druck von den NATO-Ländern schnell zu gross und die Schweiz war gezwungen, die westlichen Sanktionen mitzutragen. Der Bundesrat konnte es sich schlicht nicht erlauben, die Beziehungen mit der EU und den USA weiter zu verscherzen. Die Episode um die Ukraine-Sanktionen bedeuten zwar nicht das Ende der Neutralität, d.h. der Versuche der herrschenden Klasse, ihre weltweite Ausbeutung hinter einer neutralen Fassade zu verschleiern. Doch einerseits wird diese Heuchelei in Zukunft schneller durchschaut werden. Und andererseits handelt es sich hier um ein weiteres klares Indiz für den relativen Niedergang des Schweizer Imperialismus. In der Krise des Kapitalismus ist es für die Schweiz immer weniger möglich, zwischen den grossen Blöcken Profit-Nischen zu finden.

Auch geldpolitisch sind der Schweizer Bourgeoisie grösstenteils die Hände gebunden. Die Frankenstärke schwächt die Konkurrenzfähigkeit des Schweizer Exports, weshalb die SNB gezwungen ist, den Franken mit massiven und immer riskanteren Interventionen tief zu halten. Zwar kann die Frankenstärke auch ein Stück weit die Inflation in der Schweiz abfedern. Doch die weltweite Instabilität drückt sowohl die Preise als auch den Franken in die Höhe. Gleichzeitig will die SNB mit den Minuszinsen die Inlandsinvestitionen ankurbeln. Doch das Hauptproblem ist nicht fehlendes Geld, sondern die Überproduktionskrise. Dies zeigt sich darin, dass seit 2015 (Einführung der Minuszinsen) die Unternehmensverschuldung rasant zunimmt, doch das zusätzliche Geld zu einem grossen Teil für den Rückkauf eigener Aktien und Spekulation an der Börse verwendet wird (d.h. weniger für produktive Investitionen). Die Zahlenspielerei der Minuszinsen kann die Widersprüche des Kapitalismus nicht lösen. Ohnehin können die aus vielerlei Hinsicht problematischen Tiefzinsen in der Schweiz erst wieder erhöht werden, wenn die Europäische Zentralbank, in dessen Fahrwasser die SNB ist, vorlegt. Davon ist die EZB jedoch noch weit entfernt. Die Schweizer Geldpolitik steckt in der Sackgasse.

Die Banken haben in der Schweiz weiterhin eine grosse Bedeutung für die Wirtschaft, auch im Vergleich zu anderen Ländern. Im Coronajahr wurde ihre Position politisch und wirtschaftlich leicht gestärkt, wegen ihrer Rolle in den Rettungspaketen. Doch ihr Anteil an der Wertschöpfung sinkt seit Jahren. Der Grund dafür ist die zunehmende Konkurrenz auf den weltweiten Finanzmärkten. Um gleich viel zu verdienen wie vor einem Jahrzehnt, muss eine Bank heute im Schnitt einen Fünftel mehr Geld verwalten. Insbesondere der Druck des US-Kapitalismus brachte das Bankgeheimnis zu Fall und führte den automatischen Informationsaustausch ein. Damit fiel die quasi Monopolstellung der Schweizer Banken in ihrer Nische der Vermögensverwaltung. Die Gewinne der UBS und CS sind seit 2008 im Sinkflug. Der Schweizer Bankenplatz ist zwar weiterhin der weltweit erste Vermögensverwalter. Doch der Vorsprung schmilzt, die Wachstumszahlen sind deutlich schwächer als die der internationalen Konkurrenten, vor allem aus den USA und Grossbritannien. Die Krise des Schweizer Bankenplatz sitzt tief, ein Ausweg ist nicht in Sicht. Zudem lauert am Horizont bereits die nächste internationale Finanzkrise, welche zwingendermassen schwerwiegende Auswirkungen auf die Schweizer Banken haben werden.

Zusammenfassend: In genau jenen Entwicklungen, welche über Jahrzehnte die relative Stabilität des Schweizer Kapitalismus ermöglicht haben, liegen die Keime zur Verkehrung in ihr Gegenteil. Die massive internationale Orientierung, die hohe Konzentration auf einzelne Nischen, die Grosskonzerne und Grossbanken, die Geldpolitik, die Rosinenpickerei und die opportunistische Aussenpolitik – alle diese scheinbar ewig währenden stabilisierenden Faktoren führen alle zunehmend in eine Sackgasse und werden zu destabilisierenden Faktoren. Die Krise des internationalen Kapitalismus bedeutet, dass nun ein Schweizer Stabilitätsfaktor nach dem anderen untergraben wird. Es ist eine quantitative Anhäufung kleinerer und grösserer Reibungen, die allesamt anzeigen, dass die Schweizer Bourgeoisie den objektiven Widersprüchen des Weltkapitalismus ausgeliefert ist. Die verschiedenen Symptome deuten an, dass das Ganze am Zerbröckeln ist, noch ohne dass das Ganze auseinander fällt. Doch die Position des Schweizer Kapitalismus auf dem Weltmarkt steht in Frage. Es gibt auch in der Schweiz keinen schnellen Ausweg aus der kapitalistischen Krise.

In dieser allgemeinen Entwicklung löste Corona die tiefste Krise des Schweizer Kapitalismus aus. Doch 2020 wurde die Schweizer Wirtschaft vom Kriseneinbruch weniger hart getroffen als andere Länder (BIP -2.4%, OECD-Durchschnitt -4.9%). Wichtig war der Pharmasektor, der als einziger Sektor wuchs. Ebenfalls wichtig waren die über die Banken abgewickelten Hilfsgelder und die massiv eingesetzte Kurzarbeit, welche massenhaft Konkurse und Entlassungen verhinderte. Hinzu kam die extrem asoziale Corona-Politik ohne wirkliche Lockdowns und die (v.a. im Oktober 2020) viel zu späten Massnahmen, als der Bundesrat offen die Gesundheit für die Profite opferte. Auch hier spielten die Führungen der traditionellen Massenorganisationen der Arbeiterklasse eine Schlüsselrolle, denn sie unterstützen alle Grundpfeiler der pro-kapitalistischen Coronapolitik des Bundesrats. Zwar haben 2020 die Faktoren der relativen Stabilität des Schweizer Kapitalismus zumindest oberflächlich noch mehrheitlich gewirkt. Doch die Krise war auch in der Schweiz historisch und wird tiefe Narben hinterlassen.

Die Instabilität zeigt sich auch in der Erholung: Diese ist oberflächlich (von Nachholeffekten und ausländischen Konjunkturpaketen angetrieben), kurz (hat ihren Zenit schnell überschritten) und ungleich (zwischen den Sektoren und den Firmen). Alle Widersprüche der internationalen Erholung, wie die Warenknappheit und die Inflation, wirken stark auf die Schweiz ein. Economiesuisse, Mitte Oktober: «Vier von fünf befragten Unternehmen melden aktuell Schwierigkeiten beim Bezug von Vorprodukten. Dieser Anteil ist grösser als während des ersten Lockdowns im April 2020. (…) Gleichzeitig erhöhen die steigenden Preise für Rohstoffe, Energie und Vorprodukte das Risiko einer anziehenden Inflation. Dies ist eine gefährliche Entwicklung und könnte die Wirtschaftsaussichten für dieses und nächstes Jahr erheblich trüben». Auch in der Schweiz führt die Erholung nicht zur Beruhigung, sondern zur Zuspitzung der kapitalistischen Widersprüche. Die verschiedenen Krisen fressen ineinander hinein und verstärken sich gegenseitig. Nochmals: Die Schweiz ist integraler Teil des Weltkapitalismus.

Krise des Regimes

Der langsame Niedergang des Schweizer Kapitalismus drückt sich in der schleichenden Erosion der Stabilität der politischen Institutionen aus. In der organischen Krise des Kapitalismus braucht das Schweizer Kapital Reformen, um seine führende Stellung in der internationalen Konkurrenz retten zu können. Das politische Establishment hat die Aufgabe, diese Reformen durchzusetzen. Daher übersetzt sich die wirtschaftliche Krise in die politische Ebene. Dies ist ein langer Prozess, der in seiner heutigen Form seine Anfänge in der Krise der 70er Jahre hat.

Die grosse neoliberale Offensive kam in der Schweiz verspätet im Vergleich zum Ausland. Vor allem weil die 70er-Krise vorübergehend mit Rassismus und Sexismus überwunden werden konnte und das Schweizer Arbeitsgesetz bereits vorher sehr liberal und arbeiterfeindlich war. Doch dies bedeutete, dass der veraltete (international immer weniger konkurrenzfähige) Produktionsapparat nicht erneuert wurde. Das Wachstum der 80er Jahre war überwiegend von Stagnation geprägt und wurde vor allem vom Bauboom getragen. Das Platzen der Immobilienblase löste die tiefe Krise der 90er Jahre aus. Die Schweiz hatte während des ganzen Jahrzehnts das schwächste Wachstum aller OECD-Länder. Um international wettbewerbsfähig zu sein, musste die herrschende Klasse in die Offensive.

Das Kapital konzentrierte sich zunehmend in den Grosskonzernen und im Export (in allererster Linie die Pharma, aber auch die Elektronik-, MedTech- und Uhrenindustrie). Die Kapitalisten bliesen in der Krise der 90er zum Angriff auf die Sozialpartnerschaft: mit der Neuformation der Wirtschaftsverbände (z.B. Economiesuisse), gingen die Unternehmer insbesondere auf Betriebsebene deutlich härter gegen den historischen Kompromiss der Sozialpartnerschaft vor. Dies war Teil der Offensive zur Verbesserung der Profitbedingungen.

Gleichermassen auf der politischen Ebene: Nie hat die Schweiz in so kurzer Zeit so viele Veränderungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik erlebt. Die bürgerliche Offensive zur Verbesserung der Profitbedingungen umfasste unter anderem folgende (Konter-)reformen: Unternehmenssteuerreform 1, Einführung der Mehrwertsteuer, Kartellgesetz, Sparprogramme, Arbeitslosengesetz, Krankenkassengesetz, Zerschlagung und Überführen in die Privatwirtschaft der Staatskonzerne PTT (anschliessend Post und Swisscom) und SBB sowie des Gesundheitswesens. Die Arbeiterklasse bezahlt knallhart: Die Löhne und Lebensbedingungen in der Schweiz stagnieren seit etwa 25 Jahren.

Aber die aggressivere Politik der Bourgeoisie in der organischen Krise und die damit verbundene soziale Polarisierung haben politische Konsequenzen. Die Zunahme der Widersprüche in der ökonomischen Basis des Schweizer Kapitalismus drückt sich im politischen Überbau aus und wirkt anschliessend wieder auf die Basis zurück. Dies ist ein internationaler Prozess. Überall auf der Welt drückt sich die Krise des Kapitalismus in der Krise des politischen Regimes aus. Weltweit sinkt die Legitimität des Liberalismus und der Institutionen der bürgerlichen Demokratie. Auf allen Kontinenten sind die traditionellen Parteien in der Krise. Die Kapitalistenklasse hat zunehmend Schwierigkeiten, stabile Regierungen zu bilden, welche ihre Interessen durchsetzen kann. Dieser Prozess findet auch in der Schweiz statt. Auch auf der politischen Ebene handelt es sich um einen schleichenden Niedergang.

Das politische Regime in der Schweiz hat jedoch auch seine Eigenheiten. Die bürgerliche Demokratie in der Schweiz basiert auf Mechanismen wie ständigen Volksabstimmungen oder dem Föderalismus. Seit dem zweiten Weltkrieg gehören dazu noch die Konkordanz und das Kollegialitätsprinzip im Bundesrat sowie die Sozialpartnerschaft. Im Zentrum davon steht das Finden des «gutschweizerischen Kompromisses». Der Interessensgegensatz zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie wird so verschleiert. Mit der Integration der SP in den Bundesrat 1943 und dem zweiten Bundesratssitz 1959 wurde die klassenübergreifende Volksfront institutionalisiert und hält bis heute stand. Die allgemeine kapitalistische Herrschaftsstrategie, Widerstand aus der Arbeiterklasse durch die politische Integration ihrer Führung zu zähmen, hat in der Schweiz damit eine institutionalisierte Form gefunden, die in ihrer Dauerhaftigkeit und Stabilität im internationalen Vergleich einzigartig ist.

Dieses System hat die Vorstellung tief verwurzelt, dass die Demokratie im Interesse aller funktioniert, dass die verschiedenen Interessen in einem Kompromiss zu Gunsten aller ausgeglichen werden könnten und so «Exzesse» und «Extreme» verhindert würden, nur um auf diese Weise umso sicherer die Interessen der Bourgeoisie durchzusetzen. Über Jahrzehnte hinweg – gestützt auf das Wachstum des Schweizer Kapitalismus – hat dieses politische System für ein mehrheitlich stabiles bürgerliches Regime gesorgt, wobei die Interessen der Arbeiterklasse systematisch jenen der Bourgeoisie untergeordnet werden.

Aber während die Trägheit dieses Systems während den Phasen des Wirtschaftswachstums die sicherste Garantie für eine reibungslose Kapitalakkumulation bedeutet, wird sie in der Krise des Kapitalismus zunehmend zu einer Bremse. Die Krise des Kapitalismus erforderte seit den 1990ern eine aggressivere Politik der Herrschenden Klasse gegen die Arbeiterklasse, um ihre Profitbedingungen zu sichern. Doch mit dieser zunehmenden Polarisierung zwischen den entgegengesetzten Klassen bricht den «gutschweizerischen» Kompromissen zunehmend der Boden unter den Füssen weg. Seit den 1990ern wurden zahlreiche Konterreformen nach Referenden vom Volk abgelehnt, u.a das Arbeitsgesetz, das Elektrizitätsmarktgesetz oder die Unternehmenssteuerreform 3. Die Konterreform des Rentensystems wurde gar vier Mal vom Volk verworfen. Und auch bei den Initiativen: Während die Regierungsparteien in den 70er Jahren noch bei 80% der Volksinitiativen alle die gleiche Position hatten, ist dieser Anteil heute bei 0%. Politologin Häussermann schliesst daraus korrekt: «Kurz: Die Konkordanzregierung erfüllt ihren mässigenden und pragmatischen Zweck nicht mehr.» Das bürgerliche politische System wird zu einer Fessel für die Bedürfnisse der Kapitalisten. Der ehemals stabilisierende Faktor der Schweizer Demokratie wird zu einem zunehmend destabilisierenden Faktor. Sie erschwert die Angriffe und Reformen, welche die Bourgeoisie so dringend braucht.

Die Konterreformen der 90er Jahre haben zwischenzeitlich die Profitbedingungen für die Kapitalisten verbessert. Doch dies war keinesfalls ausreichend, um den Niedergang des Schweizer Kapitalismus aufzuhalten. Die Bourgeoisie braucht dringend Reformen, um ihre Kapitalbedingungen zu verbessern. Die Liste der bürgerlichen Bedürfnisse ist lang und betrifft grosse Fragen: Die Renten, die EU-Frage, breitflächige Liberalisierungen des Arbeitsmarktes, Privatisierungen, usw. Aber der Widerstand gegen die Krisenpolitik wächst. Das Rahmenabkommen scheiterte, die USR3 und die Rentenreform AV2020 wurden von der Stimmbevölkerung abgeblockt. Die Bürgerlichen nennen dies «Reformstau». Im Verhältnis zwischen Krise, notwendiger bürgerlicher Krisenpolitik und Radikalisierung wird Ursache zur Wirkung und Wirkung zur Ursache.

Heute steht die Sozialpartnerschaft wieder zunehmend unter Beschuss der Kapitalisten. Sie ist ihnen zu teuer, zu unflexibel, die Arbeitsverträge können nicht individuell verhandelt werden und sie gibt den Gewerkschaften ein zu grosses politisches Gewicht. Zuletzt kündigten die Patrons den Schreinerei-GAV und drohen nun beim Bau-LMV mit dem gleichen. Kurz: Die Sozialpartnerschaft wird zunehmend zum Bremsklotz für die benötigten bürgerlichen Konterreformen. Doch wie beim Rahmenabkommen sichtbar wurde – die herrschende Klasse wollte mit dem Kompromiss des FlaM-Lohnschutzes brechen – fordert die heutige Krisenzeit eine aggressivere bürgerliche Politik. Die Kapitalisten erkennen die Zeichen der Zeit, der historische «demokratische» Kompromiss verliert seine materielle Basis.

Doch wir müssen die Prozesse von allen Seiten anschauen: Es findet diese schleichende Erosion der Stabilität des politischen Regimes in der Schweiz statt. Doch gleichzeitig ist es gerade der aus diesem Regime resultierende perfide und verhüllte Charakter der Angriffe auf die Arbeiterklasse, der dazu geführt hat, dass das Vertrauen in die bürgerliche Regierung und ihre Institutionen weniger schnell abgenommen hat als in anderen Ländern in den letzten Jahren. Während die materielle Grundlage des Klassenkompromisses wegbricht und die Bourgeoisie volles Bewusstsein über die Notwendigkeit eines aggressiveren Kurses hat, sind die Illusionen in Kompromisse in der Arbeiterklasse noch tief verwurzelt. Die Sozialdemokratie und die sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaften sind dabei ein aktiver Bremsklotz. Die Führungen der Arbeiterbewegung hängen in der Vergangenheit fest, indem sie sich voll auf die «Demokratie» und die Sozialpartnerschaft stützen. Sie versuchen verzweifelt, ein Regime aufrechtzuerhalten, dessen historische Grundlage verschwunden ist. Sie behindern damit, dass die Arbeiterklasse sich als unabhängige politische Kraft gegen die bürgerliche Regierung wahrnehmen und organisieren kann.

Doch trotz aller ideologischen und politischen Verschleierungen: Die objektiven Prozesse fräsen sich ihren Weg. Auf der Grundlage des ökonomischen Niedergangs in den letzten drei Jahrzehnten bröckelt auch die politische Stabilität in der Schweiz zunehmend. Die bürgerliche Krisenpolitik führt zu grösserer sozialer Polarisierung. Die Ungleichheiten nehmen deutlich zu. Die Illusionen in Kompromisse sind zwar noch tief in der Arbeiterklasse verwurzelt. Doch sie verlieren in der zunehmenden Klassenpolarisierung ihre Grundlage. Während die Bourgeoisie dringend aggressiv gegen die Arbeiterklasse vorgehen muss, schafft sie es zunehmend weniger, ihre Angriffe als im Wohl von allen zu verkaufen. Das Regime der Bourgeoisie in der Schweiz steckt in einer Sackgasse, es wird deutlicher, in wessen Interessen die Regierung handelt.

Die Coronakrise hat diesen Prozess verschärft. Zwischenzeitlich hatte über die Mehrheit der Bevölkerung das Vertrauen in den Bundesrat verloren – ein absolutes Novum, mindestens seit dem 2. Weltkrieg. Das Vertrauen hat sich zwar wieder etwas stabilisiert (33% Misstrauen im August 2021), doch liegt weiterhin deutlich unter dem Niveau von März 2020 (16%). Die mehrmaligen radikalen Versuche der Impfgegner, das Bundeshaus zu stürmen, waren ein krasser Ausdruck der Radikalisierung. Das wütende, weil aufgeriebene Kleinbürgertum ist ein untrügliches Krisenphänomen. Daneben gibt es Hunderttausende oder mehr Jugendliche und Arbeiter, welche richtigerweise die Impfung unterstützen, aber mit der Faust im Sack eine zunehmende Verachtung gegenüber den regierenden und besitzenden Klassen entwickeln. Die aus vielerlei Hinsicht historischen Abstimmungen im November brachten erneut die Radikalisierung an die Oberfläche. Der wachsende Unmut gegen das Establishment kann sich, in Ermangelung einer klaren, linken Opposition, mehrheitlich nur in verwirrten Bahnen ausdrücken. Doch die Grundlage ist bedeutend: Die bürgerlichen Institutionen (Bundesrat, Föderalismus, Medien, etc.) verlieren an Legitimität.

Herrschende Klasse: Angeschlagen in die Offensive

Die Bourgeoisie benötigt für die offensive Verbesserung der Profitbedingungen eine starke Partei. Diese hat sie heute immer weniger zur Verfügung. Auch diesen Prozess müssen wir historisch verstehen.

Die 90er Jahre führten zu einer Verschiebung des Kräfteverhältisses innerhalb der herrschenden Klasse in der Schweiz. Die globalisierten Kapitalisten ersetzen immer mehr die traditionellen Schweizer Kapitalisten. Dies war ein Ausdruck der Verschiebung (bzw. Konzentration) hin zu den Grosskonzernen und dem hochkompetitiven Export (v.a. Pharma). Seit der Jahrtausendwende ist es eigentlich nur der Exportsektor, der wächst und produktiver wird. Dies findet im Binnensektor kaum statt. Doch gleichzeitig gibt es nur im Binnensektor Beschäftigungswachstum. Daraus ergibt sich für die herrschende Klasse ein doppeltes Problem: Erstens, dort wo das Kapital in der Schweiz hinzieht, entstehen kaum Arbeitsplätze. Zweitens, die immer mächtigeren Grosskapitalisten sind immer mehr abgekoppelt von den kleineren Kapitalisten und dem Kleinbürgertum aus dem Binnensektor. Die soziale Basis der Grossbourgeoisie ist verschwindend klein. Doch gleichzeitig braucht die herrschende Klasse für ihre Offensive eine Partei mit einer gewissen sozialen Verankerung. Die FDP, einst das Fundament des bürgerlichen Staates, war in den 1990er Jahren unfähig, diese Rolle zu spielen und befindet sich im historischen Niedergang. Die Krise des Regimes ist die Krise der traditionellen Partei dieses Regimes. Dem Bedürfnis der Bourgeoisie nach einer aggressiveren Politik eine soziale Basis zu geben war der historische Auftrag der SVP.

Der Aufstieg der SVP fällt mit dem Umbruch der 90er Jahre zusammen. Die soziale Basis der SVP sind die aggressivsten Teile der Bourgeoisie, das Kleinbürgertum sowie gewisse rückständige Schichten der Arbeiterklasse. Die SVP spielt eine Doppelrolle: Einerseits gibt sie seit den 90ern dem Unmut gegen die Internationalisierung, gegen die Krise und deren Auswirkungen und die Sparpolitik einen Ausdruck, indem sie ihn demagogisch gegen die migrantischen Arbeiter lenkt. Andererseits erweist sich die SVP als zuverlässiger Rammbock für die Bourgeoisie. Als stärkste bürgerliche Partei seit 2003 ist sie hauptverantwortlich für die Sparpolitik und Privatisierungen der letzten 20 Jahre. Diese Doppelrolle kann sie nur bewerkstelligen, weil die SP-Führung keine wirkliche Opposition gegen die Bürgerlichen führt. Mit ihrer Mischung aus bürgerlichem Rammbock und Demagogie leistete die SVP für die europäischen Bürgerlichen Pionierarbeit. Doch es ist entscheidend festzuhalten, dass die Unterstützung in Teilen der Arbeiterklasse für die SVP schlussendlich ein Oberflächenphänomen ist. Dies zeigte sich beispielsweise bei der USR3-Ablehnung oder der Forderung nach «mehr sozialen Massnahmen» in der Coronakrise, die jeweils auch bei SVP-Sympathisanten viel Zustimmung fand. Wenn die soziale Frage der Klasseninteressen auf den Tisch kommt, dann werden die Oberflächenphänomene in den Hintergrund gedrängt.

Auch in der SVP finden sich die Keime ihrer Zerstörung in den Bedingungen ihres Aufstiegs. Es wirken Drücke aus zwei entgegengesetzten Richtungen auf die Partei: Teils von der herrschenden Klasse, welche eine härtere Krisenpolitik braucht. Teils vom verwirrten Unmut gegen genau dieses Establishment. Die SVP, welche den Spagat zwischen beiden Stossrichtungen versucht, schwächelt auf beiden Seiten. Einerseits findet sich die SVP immer häufiger in Situationen wieder, in welcher sie sich aus Opportunismus gegen wichtige kapitalistische Interessen stellt (Rahmenabkommen, Impfungen/Zertifikat). Doch gleichzeitig profitiert die SVP wenig von der starken Polarisierung, weil sie nicht vehementer gegen die kapitalistischen Interessen vorgehen kann. So hat sich der Erfolg der SVP in den letzten Jahren erschöpft. Mit der Masseneinwanderungsinitiative 2014 ging ein Zyklus zu Ende, in dem die SVP die Führung über die Fraktionen der Schweizer Bourgeoisie innehatte. Die SVP steckt in einer unlösbaren Sackgasse. Dies wird für die Schweizer Bourgeoisie immer mehr zum Problem werden. Sie steht ohne zuverlässige Partei da, auch weil ihre traditionellen Parteien (FDP und CVP/Mitte) in einem noch viel desolaterem Zustand sind. Die Grünen können kurzzeitig vom wachsenden Bewusstsein über die Klimazerstörung und von der Schwäche der SP profitieren, hauptsächlich weil sie neu und unverbraucht sind. Ihr erklärtes Ziel ist es jedoch, Teil des maroden Establishments, des Bundesrats, zu werden. Auch die Grünen haben keine Lösung. Die Krise der herrschenden Klasse bedeutet die Krise der Parteien der herrschenden Klasse.

Aufgrund der fehlenden Opposition durch die Organisationen der Arbeiterklasse befindet sich die herrschende Klasse trotz oder gerade wegen aller Widersprüche in der Offensive. Der bürgerliche Staat, zugespitzt auf den Bundesrat, hat die Aufgabe, zwischen den Fraktionen der Bourgeoisie auszubalancieren und das kapitalistische Gesamtinteresse durchzusetzen. Die asoziale Pandemiepolitik hat deutlich gezeigt, dass der Bundesrat seine Rolle entschlossen spielen will. Weitere harte Angriffe sind bereits in der Pipeline: Das Rentenalter der Frauen soll endlich erhöht werden. Über die Abschaffung der Stempelsteuer sollen Steuererleichterungen für die Kapitalisten ermöglicht werden. Die Arbeitszeiten («Flexibilisierung») stehen besonders im Fokus, Bundespräsident Guy Parmelin fordert die 63-Stunde-Woche sowie mehr Sonntagsarbeit. Dies zwar zunächst «nur» für einige Berufe, doch es ist offensichtlich, dass es sich dabei um ein Einfallstor für Angriffe auf die ganze Arbeiterklasse handelt. Sparmassnahmen werden in zahlreichen Bereichen und Kantonen durchgeführt, weitere vorbereitet. Jeglichem Sozialausbau wird ein harter Riegel vorgeschoben. Bereits jetzt wird deutlich, dass die herrschende Klasse ihre Interessen in der aktuellen Periode härter durchsetzen muss. Die Bourgeoisie braucht Reformen, um dem Niedergang des Schweizer Kapitalismus entgegenzuwirken. Die Klassengegensätze in der Gesellschaft werden immer offener auftreten. Der Angriffskurs der Bourgeoisie ist keine rein ökonomische Frage, sondern vor allem eine des Kräfteverhältnisses: Die Bourgeoisie testet empirisch die soziale Verträglichkeit ihrer Krisenpolitik.

Wir Marxisten erklären den herrschenden Vorurteilen gegenüber dem Schweizer Kapitalismus den Krieg: Die Schweiz ist nicht ewig stabil! Den gutschweizerischen Kompromiss gibt es in einer Klassengesellschaft nicht! Der Kapitalismus in der Schweiz wie international steckt in einer Sackgasse. Die arbeitende Mehrheit der Bevölkerung hat nicht die gleichen Interessen wie die Bourgeoisie. In der Krise des Kapitalismus haben «Kompromisse» und die Einigung mit der Bourgeoisie jede Grundlage verloren. Was wir brauchen ist eine Massenpartei der Arbeiterklasse, die mit einem sozialistischen Programm für eine Arbeiterregierung kämpft. Diese wissenschaftlichen Positionen müssen wir verteidigen – unabhängig von den Vorurteilen in der Bevölkerung! Denn diese Vorurteile sind ein riesiges Hindernis bei der Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse. Die SP im Bundesrat, die Konkordanz, das Kollegialitätsprinzip, die Sozialpartnerschaft, usw. hindern die Arbeiterklasse daran, ihre Interessen zu verteidigen und einen Ausweg aus der Krise zu finden. Unsere Aufgabe ist es, diesbezüglich bei den fortgeschrittensten Jugendlichen und Arbeitern Klarheit zu schaffen.

Die Sozialdemokratie

Die 2008-Krise hat auch in der Schweiz zu einer stärkeren Radikalisierung geführt, insbesondere in der Jugend. Doch die SP hat davon nicht profitiert. Im Gegenteil, seit mindestens 2001 verliert sie kontinuierlich Wähleranteile. Während der Unmut gegen das Establishment zunimmt, stellt die SP zunehmend dieses Establishment dar. Sie beteiligt sich am Bundesrat und an den kantonalen Regierungen, welche die Sparpolitik der letzten 30 Jahren durchsetzten. Die SP-Vertreter in den Parlamenten und Exekutiven schüren Illusionen in die Reformierbarkeit des Kapitalismus und in die «demokratischen» Instrumente. Sie hängen in der Vergangenheit fest, in der Zeit, als der Schweizer Kapitalismus ständig wuchs und durch Verhandlungen mit den Kapitalisten graduell Verbesserungen der Lebensbedingungen möglich waren. Doch wie aufgezeigt ist diese Zeit seit den 90er Jahren, seit spätestens 2008 und seit allerspätestens März 2020 vorbei. Die organische Krise des Kapitalismus ist die organische Krise des Reformismus.

Trotzki drückte dies in der organischen Krise der 30er Jahren so aus:

«Geschichtlich gesehen hat der Reformismus den sozialen Boden unter den Füssen gänzlich verloren. Ohne Reformen kein Reformismus, ohne blühenden Kapitalismus keine Reformen.»

Trotzki, ‘De Fakkel’ über den Zentrismus, 1934

Die SP spielt in der Schweizer Politik eine Doppelrolle: Einerseits ist die SP seit Jahrzehnten Teil der «nationalen Einheit» des Bundesrats, das heisst in untergeordneter Position in die Regierung des Kapitals integriert. Insbesondere heute, wenn sich bei den Parteien der herrschenden Klasse eine tiefe Krise zusammenbraut, hat die SP die objektive Funktion, der bürgerlichen Krisenpolitik des Bundesrats ein nettes, «kompromissbereites» Gesicht zu geben. Andererseits ist die SP die einzige Partei der Arbeiterklasse in der Schweiz. Sie ist tief in den Gewerkschaften verwurzelt und in den sozialen Bewegungen (Frauenstreik, LGBT, im Klimastreik über die JUSO, etc.) verankert. Über NGOs und soziale Organisationen (z.B. Mieterverband, Naturschutz, etc.) hat sie eine weitere Strahlkraft in gewisse Teile der Arbeiterklasse. Beide Seiten dieses widersprüchlichen Charakters der SP sind wichtig. Wer eine der beiden Seiten ignoriert, verfällt in Opportunismus bzw. Sektierertum (oder meist in beides).

Die aktuelle SP-Führung um Mattea Meyer und Cedric Wermuth versucht die beiden zutiefst widersprüchlichen Seiten mit einem grossen Spagat zu versöhnen. Die Wahl von Meyer-Wermuth ins Präsidium der SP war ein Ausdruck der Radikalisierung in der Arbeiterklasse. Die linken SP-Mitglieder und insbesondere die JUSO hegt ehrliche Hoffnungen in das Co-Präsidium. Meyer-Wermuth stützen sich verbal auf die sozialen Bewegungen, auf Teile der Arbeiterklasse (vor allem die Pflege), bekämpfen völlig richtig die schlimmsten parlamentarischen Konterreformen (die AHV-Reform oder die Abschaffung der Stempelsteuer) und wollen eine Initiative zu den Kinderkrippen lancieren. Dies sind alles klare Schritte in Richtung der Arbeiterklasse, die wir Marxisten vehement unterstützen.

Doch gleichzeitig spielt die SP-Führung ihre Rolle als Stützrad der bürgerlichen Krisenpolitik. Dies wurde überdeutlich bei den versuchten Bundeshausstürmen und der hochpolarisierten Stimmung zum Covid-Zertifikat. Die SP-Führung präsentierte sich als Verteidigerin der bürgerlichen Demokratie und appelliert an die «Vernunft» bei der Covid-Abstimmung. Diese wird überheblich als reines Bildungs-Problem dargestellt. Damit vertieft die SP-Führung die Spaltung der Arbeiterklasse in der Impffrage, indem den Ungeimpften die Schuld für die Pandemie gegeben wird. Die SP-Führung macht den Job der Bürgerlichen. Sie glaubt, das vernünftige Allgemeinwohl gegen die unvernünftige Politik der SVP verteidigen zu müssen. Doch in der Krise gibt es weniger denn je ein Allgemeinwohl, sondern offen gegeneinander rasselnde Klasseninteressen. Heute muss die Arbeiterklasse sogar kämpfen, um nur schon die aktuellen Lebensbedingungen zu erhalten. Da die SP-Führung dies nicht erkennt, flüchten sie sich immer mehr in illusorische und inhaltsleere Projekte, bei welchen nicht gekämpft werden muss: Der «Beitritt der Schweiz zur EU» (SP Schweiz), «Green Deal wie die EU oder Biden» (Nordmann), «Koalitionen mit Draghi und Macron» (Wermuth). Die Linie der SP-Führung hat nichts zu tun mit dem kämpferischen Linksreformismus von bspw. Jeremy Corbyn, der die Massen mobilisierte (aber schlussendlich vor dem rechten Parteiflügel einknickte).

Die Differenzierung innerhalb der SP schreitet kaum voran. Deshalb hält der Spagat, den Meyer-Wermuth versuchen, noch stand. Der rechte Parteiflügel hat sich vorerst mit Meyer-Wermuth abgefunden, weil die Levrat-Linie mehrheitlich weitergeführt wird. Doch der generelle Abwärtstrend der SP geht weiter. Gemäss den Kantonswahlen sowie dem nationalen Wahlbarometer hat die SP in den letzten zwei Jahren grösserer Polarisierung sogar noch Stimmanteile verloren und würde heute bei knapp 16% liegen – dem schlechtesten Resultat seit 1905. Ändert die SP-Führung ihren Kurs nicht, wird sie die Interessen der Arbeiterklasse immer weniger verteidigen und diesen Abwärtstrend nicht aufhalten können. Doch die Radikalisierung der Arbeiterklasse braucht einen organisierten Ausdruck. Ob bewusst oder unbewusst, die politisch fortgeschrittensten Schichten der Arbeiterklasse und der Jugend sind dabei, die neue SP-Führung zu testen. Entweder setzen Meyer-Wermuth auf ein sozialistisches Programm und die Mobilisierung der Arbeiterklasse. Oder sie versinken in der bürokratischen Bedeutungslosigkeit. Dies bedeutet, die Arbeiterklasse alternativlos der bürgerlichen Krisenpolitik auszusetzen.

Im Ukraine-Krieg hat die Bourgeoisie in der Schweiz wie überall versucht, den Krieg auszunutzen, um die nationale Einheit zu stärken. Die Führung der SP spielte dabei eine katastrophale Rolle, denn sie hat die Stimmung der nationalen Einheit nicht nur mitgetragen, sondern aktiv geschürt. Sie rief als erste und am lautesten nach Übernahme der EU-Sanktionen und stellte sich damit ins Lager der kriegstreibenden imperialistischen EU und USA. So wurde mit dem Krieg ein deutlich verstärkter Trieb nach nationalstaatlichem Denken sichtbar: Die SP-Führung stellte illusorische und reaktionäre Forderungen nach «unabhängiger Schweizer Energiepolitik» oder «Relokalisierung der Industrie» und sprach konsequent vom «Friedensprojekt Europa». Auch die beigemischte pazifistische Haltung ist völlig illusorisch und schliesslich reaktionär, denn schlussendlich wird damit die Lösung in die Hände der imperialistischen Diplomatie gelegt. Die SP-Führung sagt der Schweizer Arbeiterklasse, dass sie ein gemeinsames Interesse mit der NATO, den USA und der EU habe, den reaktionärsten Kräften auf dem Planeten. Damit ist die SP-Führung hauptverantwortlich dafür, dass die Klassenlinien verschleiert werden. Der unabhängige Standpunkt der internationalen Arbeiterklasse einzunehmen bedeutet, keine Seite in diesem reaktionären Konflikt zwischen imperialistischen Mächten einzunehmen und gemäss dem Grundsatz des «Hauptfeindes im eigenen Land» den Kapitalismus in der Schweiz und weltweit zu bekämpfen. In einer Situation von zahlreichen Hammerschlägen auf das Bewusstsein hätte diese internationalistische Herangehensweise zu viel Klarheit in der Arbeiterklasse führen und den allgemeinen Unmut der Massen kanalisieren können.

Aus der völligen Absenz einer Alternative zum imperialistischen Standpunkt folgt eine verwirrte öffentliche Meinung, welche oberflächlich betrachtet die NATO-Seite im Ukraine-Konflikt unterstützt. Doch es ist entscheidend zu sehen, dass es sich um einen polarisierten Prozess handelt: Zunächst sahen wir einen grossen, gesunden Widerstand gegen den Krieg. Die Massen wurden aus ihrer täglichen Routine gerissen und fragen sich, wie das passieren konnte. Der wichtigste Prozess findet jedoch in der radikalisierten Jugend statt: Sie kauft der herrschenden Klasse ihre imperialistische Heuchelei nicht ab. Bei diesen Jugendlichen sehen wir kaum etwas von der Stimmung der nationalen Einheit, sondern vor allem Ablehnung des kapitalistischen Systems, des Imperialismus und der Herrschenden, die ihn verteidigen. Implizit sucht die Jugend nach dem Marxismus. Damit ist die Jugend der Vorreiter für die grösseren Prozesse in den breiten Massen: Die Heuchelei der Schweizer herrschenden Klasse (Neutralität, Sanktionen, Flüchtlingsfrage; Pandemie, Wirtschaftskrise, Suisse Secrets, Pflegeinitiative, etc.) wird immer weiter entblösst werden. Die allgemeine Krise des Kapitalismus frisst zunehmend die soziale Stabilität auf.

Die wichtigste Charaktereigenschaft der aktuellen Phase des Klassenkampfes in der Schweiz ist ein tiefgreifender politischer Gärungsprozess und Radikalisierung in der Arbeiterklasse, ohne dass diese einen kollektiven und politischen Ausdruck finden können. In solchen Zeiten ist es nicht unsere Aufgabe, mit der Lupe in die Massenorganisationen hineinzuschauen und kleinste Veränderung zu überinterpretieren.

Wir müssen nüchtern sagen, was ist. Unsere Aussage aus unseren letztjährigen Perspektiven ist weiterhin völlig korrekt: «Ob sich die Lohnabhängigen die SP zurückerobern, ob aus Teilen der SP eine neue Arbeiterpartei hervorgeht und welche Rolle Bewegungen ausserhalb der SP spielen werden – der Ausgang dieses Prozesses ist heute offen. Das wird sich erst zeigen, wenn die Arbeiterklasse im Widerstand zur herrschenden Politik in Bewegung tritt. Wenn die Massen die politische Bühne betreten, ist es allerdings wahrscheinlich, dass sie auf jene Organisationen zurückgreifen, die heute existieren. Unsere Klasse hat in der vergangenen Periode wenig kollektive Kampferfahrungen gesammelt. Insbesondere die harte Schule des (linken) Reformismus steht ihr noch bevor. Im Kampf für echte Reformen wird sie mit der reformistischen Führung zusammenstossen. Wir müssen aktiv in diese Prozesse eingreifen, wenn sie auf der Tagesordnung stehen. Als politische Strömung innerhalb der JUSO stehen wir bereits heute für die Erneuerung der Sozialdemokratie auf einem sozialistischen Programm. Doch um in Zukunft in diesen Prozessen eine Rolle zu spielen, müssen wir heute die marxistische Strömung aufbauen, wo sich die besten Möglichkeiten dazu bieten.»

Die 99%-Initiative hat erneut gezeigt, dass die JUSO mit korrekten Slogans den Nerv der Zeit treffen kann. Die JUSO ist weiterhin allein der organisierte linke Flügel der SP und die einzige nationale linke Jugendpartei der Schweiz. Gleichzeitig müssen wir feststellen, dass sich die JUSO bisher keinesfalls an die Spitze der Jugend-Radikalisierung stellen konnte. Die fortgeschrittensten Teile der Jugend radikalisieren sich gegen das Establishment, gegen die bürgerlichen Institutionen und gegen den Kapitalismus. Doch die JUSO-Führung sieht sich als «Verbindung zwischen Strasse und Institutionen». Die JUSO-Führung versucht den gleichen (unmöglichen) Spagat zwischen Radikalisierung und parlamentaristischem Reformismus wie die SP. Wer nicht kompromisslos die Interessen der Arbeiterklasse sowie den Sozialismus verteidigt, bleibt innerhalb der Grenzen des kapitalistischen Systems. Die Panama Papers haben einmal mehr deutlich gezeigt, dass Forderungen wie «Tax the Rich» nicht auf der Höhe der Aufgaben sind. Die Kapitalisten werden immer legale (oder illegale) Wege finden, um so wenig Steuern wie möglich zu bezahlen. Die JUSO-Führung hinkt dem Bewusstsein der politisch fortgeschrittensten Jugendlichen deutlich hinterher. Somit kann die JUSO aktuell der Jugend, die klar einen Ausweg aus dem System sucht, keinen Weg vorwärts aufzeigen. Dies zeigt sich auch im grossen Durchlauf in der JUSO: Es strömen zwar ständig neue Mitglieder in die Partei, doch diese können meistens nicht längerfristig organisiert werden.

Das Positionspapier der Geschäftsleitung «Ohne Bewegungen kein Sozialismus» ist ein erster Schritt aus dieser Sackgasse heraus. Darin wird festgehalten, dass die JUSO in den Bewegungen eine «konsequente sozialistische Kraft ist», die versucht, «die Leute zu unseren antikapitalistischen Visionen zu bringen». Nun muss es darum gehen, diese korrekten Worte mit Inhalt zu füllen. Die heutige Periode verlangt nach Arbeiterkontrolle, Enteignung der Kapitalisten und demokratischer Planwirtschaft. Dann müssen die richtigen Schlussfolgerungen über die Aufgaben der JUSO gezogen werden: Die JUSO muss die politisch fortgeschrittensten Teile der Jugend an den Schulen und Bewegungen um ein sozialistisches Programm zu organisieren.

Die Gewerkschaften

Der Ausgangspunkt der Arbeiterbewegung müssen immer die Bedürfnisse der Arbeiterklasse sein. Es ist eine Tatsache, dass das Leben in der Schweiz für die Lohnabhängigen ständig härter wird. Das letzte Jahrzehnt war geprägt von einer deutlichen Zunahme der Arbeitsintensität. Seit mindestens 2014 nimmt das Arbeitstempo «signifikant» zu. Inzwischen fühlen sich 59% der Lohnabhängigen überarbeitet, 41% erschöpft. Die Krise des Schweizer Kapitalismus wird auf die Arbeiterklasse abgeladen. Es ist ein reaktionäres Märchen, dass es in der Schweiz allen Menschen gut gehe. Im Jahr 2019 waren 735’000 Menschen von Armut betroffen, was eine Erhöhung um 11% im Vergleich zum Vorjahr darstellte. Ein Viertel der Bevölkerung besitzt gar kein Vermögen. Dies alles war noch vor der Coronakrise, seither zeigen alle verfügbaren Indikatoren nochmals eine deutliche Steigerung des Drucks an: Teilweise deutliche Einkommenseinbussen (v.a. in den am stärksten ausgebeuteten Schichten), deutlich mehr Stress am Arbeitsplatz, die Gesundheit sinkt und massive Zunahme der psychischen Erkrankungen (v.a. bei Jugendlichen und Frauen).

Dies zeigt: Es gibt in der Schweiz bei weitem genug Gründe, um zu kämpfen. Viele Schichten der Arbeiterklasse brauchen jetzt eine deutliche Lohnerhöhung. Alle Arbeiter brauchen eine massive Arbeitszeitverkürzung. Doch die Notwendigkeit von Verbesserungen der Lebensbedingungen für die Arbeiterklasse widerspricht völlig der Notwendigkeit der Verbesserungen der Profitbedingungen der Kapitalisten. Die Aufgabe der Führungen der Arbeiterorganisationen ist es, in dieser Situation einen Weg vorwärts aufzuzeigen.

Die Gewerkschaften, ähnlich wie die SP, spielen im Klassenkampf eine Doppelrolle: Sie sind die organische Organisation der Arbeiter am Arbeitsplatz. Dies gibt ihnen potenziell eine grosse Schlagkraft. In der heutigen Periode sehen wir, dass alle Bedingungen für eine Offensive der Arbeiterbewegung vorhanden wären. Das kapitalistische System und die herrschende Klasse entblössen sich immer häufiger und immer offener. Dies, zusammen mit den aktuellen und kommenden Sparmassnahmen und anderen Angriffen, hämmert auf das Bewusstsein der Lohnabhängigen und Jugendlichen ein. Insbesondere in der Pandemie wurden gemeinsame Erfahrungen mit der Brutalität der Kapitalisten gemacht, was die potenzielle Grundlage für kollektive Kämpfe legt. In der aktuellen wirtschaftlichen Erholung sehen die Arbeiter die vollen Auftragsbücher und die Profite der Unternehmen. Sie wollen ein Stück vom Erholungskuchen. Das «Nein» der Kapitalisten ist eine blanke Provokation. Die einzige korrekte Antwort der Arbeiterbewegung muss sein: Dann erkämpfen wir es uns halt!

Doch die Führungen der Gewerkschaften passen sich gänzlich den bürgerlichen Konjunkturprognosen an. Sie fordern nur, was die Kapitalisten den Arbeitern fairerweise freiwillig abgeben sollten. Sie hängen in der Vergangenheit, genauer gesagt in der Sozialpartnerschaft fest. Früher, in den Zeiten des ständigen Wachstums des Kapitalismus, waren die Patrons bereit, in den Verhandlungen mit den Gewerkschaftsführungen den Arbeitern regelmässig einige Prozente mehr Lohn zuzusprechen (jedoch nie die gesamte Summe aus Inflation und Produktivitätssteigerung). Heute fordern die Gewerkschaftsführungen in der kräftigen Erholung völlig mickrige 2% (die mehrheitlich von der Inflation aufgefressen würden), die Kapitalisten antworten «kein Spielraum für Lohnanpassungen» (Baumeisterverband) und brechen die Lohnverhandlungen ab. Die Gewerkschaftsführung ist mit ihrem sozialpartnerschaftlichen Latein bereits am Ende, die Arbeiter stehen mit leeren Händen da.

Die fehlende Kampfkraft der Gewerkschaftsführungen ist kein Ressourcen-Problem: In einem Gerichtsfall musste die Unia aufdecken, dass sie Immobilien und Wertschriften im Wert von fast einer Milliarde Franken besitzt. Die Bürgerlichen nutzten dies, um eine moralisierende Schmutzkampagne gegen die Organisationen der Arbeiterklasse zu fahren. Diese Angriffe müssen von der ganzen Arbeiterbewegung als solche gekennzeichnet und bekämpft werden. Doch der Fall zeigt, dass das Hauptproblem der Unia nicht «fehlende Ressourcen» sind, sondern dass kein politischer Plan besteht, was mit dem Geld gemacht werden soll. In der aktuellen Krisenperiode müssen alle verfügbaren Ressourcen in eine Offensive der Arbeiterbewegung investiert werden: Für den Aufbau von Betriebsgruppen, die Vernetzung zwischen den Betrieben, die Unterstützung von Kämpfen und die Verbreitung der Lehren. Engels nannte die Gewerkschaften Schulen des Klassenkampfes. Die Unia-Millionen müssen in diese Ausbildungsstätten des Kampfes investiert werden!

Die fehlende Streikfähigkeit der Gewerkschaftsbewegung ist kein juristisches Problem: Anfangs 2021 hat der Verband der Schreiner-Patrons den neuen GAV verweigert. Seither sind die 34’000 Schreiner in der Schweiz im vertragslosen Zustand. Dies bedeutet, dass die Schreiner der Gefahr des Lohndumpings voll ausgesetzt sind. Gleichzeitig sind sie nicht mehr an die Friedenspflicht gebunden. Doch die Gewerkschaften sind unfähig, die Provokation der Patrons zu nutzen. Ihre einzige Forderung ist, dass die Kapitalisten wieder an den Verhandlungstisch für einen neuen GAV sitzen. Dies zeigt überdeutlich: Das grosse Problem der Gewerkschaften ist nicht ein juristisches Streikverbot, sondern das fehlende kämpferische Programm und die fehlenden radikalen Organisationsmethoden. Die Schwäche der Führung der Arbeiterbewegung gibt den Patrons Selbstvertrauen. Die Kapitalisten werden nun zwar nicht reihenweise GAV künden, doch sie werden den Fall der Schreiner nutzen, um damit zu drohen und die Arbeiter zurückzudrängen.

Die Führungen hinken den kämpferischsten Schichten der Arbeiterklasse hinterher. Es ist eine Tatsache, dass der gewerkschaftliche Organisierungsgrad und die Verankerung der Gewerkschaften in den Betrieben in der Schweiz tief ist. Doch das Kräfteverhältnis ist nicht in Stein gemeisselt! Viele Schichten der Arbeiterklasse sind bereit zu kämpfen. Einige, weil sie den menschenfeindlichen Charakter des kapitalistischen Systems erkannt haben. Andere, weil sie wie die Smood-Lieferanten durch ihre eigene Situation zum Kampf getrieben werden. Wir sehen bereits heute, dass die in den Kampf tretenden Arbeiter mit der sozialpartnerschaftlichen Führung zusammenstossen. Bisher ist es noch keiner Schicht der Lohnabhängigen gelungen, die Hürde der sozialpartnerschaftlichen Führung zu überwinden. Immer wieder kommt es zu guten ersten Schritten wie Streiks und Demos, doch die reformistischen Gewerkschaftsführungen sind unfähig, einen wirklichen Weg vorwärts aufzuzeigen.

An vorderster Front dieses Prozesses steht die Pflege. Die Jahrzehnte der Sparpolitik und das monatelange Dasein als Kanonenfutter in der Pandemie bedeuten flächendeckend prekärste Arbeitsbedingungen. Der extrem niedrige Organisierungsgrad in den Gewerkschaften (ca. 7%) und fehlende Kampftraditionen atomisiert die Angestellten: Die Burnout- und Kündigungsraten explodieren zunehmend und die Aussteigerquote aus der Pflege überflügelt mit über 40% alle anderen Berufe. Gleichzeitig gibt es aber auch erste Versuche, aus dem ohnmächtigen Zustand auszubrechen hin zum kollektiven Kampf: Mehrere Basis-Netzwerke und gewerkschaftlich organisierte Betriebsgruppen werden aufgebaut, Pflegedemonstrationen nehmen zu. Höhepunkt dieser Radikalisierung war bisher der Streik des CHUV-Personals im Unispital Lausanne. Das CHUV-Personal, zusammen mit dem relativ kämpferischen Waadtländer VPOD, hat damit gezeigt, dass ein Streik im Gesundheitswesen nicht nur nötig, sondern auch möglich ist. Doch die CHUV-Arbeiter blieben isoliert, weil die Führungen der Gewerkschaften nichts unternahmen, um den Kampf auszuweiten. Der Streiktag wurde nicht dazu genutzt, um den Arbeitern einen Ausweg aus der kapitalistischen Sparlogik aufzuzeigen und so längerfristig zu organisieren. Die Gewerkschaftsführung legte ihre ganzen Hoffnungen in die Verhandlungen mit der Kantonsregierung. Die Rechnung bezahlten die Arbeiter, denn kaum eine ihrer Forderungen wurde umgesetzt. Eine gewisse Demoralisierung macht sich am CHUV bei den kämpfenden Arbeitern und den Gewerkschaftssekretären breit. Die Arbeiter gehen durch die harte Schule des Klassenkampfes.

Das deutliche Ja zur Pflegeinitiative zeigt, dass breite Teile der Arbeiterklasse die bürgerliche Gesundheitspolitik verabscheuen. Es war ein klares Zeichen von Klassensolidarität. Die Bourgeoisie hat eine klare Schlappe eingesteckt – zuvorderst der Bundesrat, dessen Gegenvorschlag von der Arbeiterklasse wie ein dreckiger Lumpen einfach weggeworfen wurde. Es lässt sich in der Geschichte der Schweizer Demokratie an einer Hand abzählen, wie oft Gegenvorschläge vom Bundesrat nicht angenommen wurden. Im Resultat der Abstimmung reflektiert sich direkt die verschärfte Klassenspaltung der Gesellschaft, die der Radikalisierung der Massen zugrunde liegt. Doch die Arbeiter in der Pflege wollen weitergehen. Bereits während der Abstimmungskampagne meldeten sich aus hunderten Betrieben PflegerInnen, die sich organisieren und für die Initiative aktiv werden wollen. Doch die Gewerkschaften sind politisch und organisatorisch überfordert, können dieser Radikalisierung keinen angemessenen Ausdruck geben. An der nationalen Pflegedemo in Bern Ende Oktober wurde in den Reden kaum über die Abstimmung zur Initiative hinausgeschaut. Auch nach der Abstimmung wird deutlich, dass die Gewerkschaften den fortgeschrittensten Teilen der Pflege-Bewegung hinterherhinken. Die Illusionen in der Pflege sind klein, dass der bürgerliche Staat, das Parlament und die etablierten Parteien die angenommene Initiative zügig bzw. überhaupt umsetzen werden. Zum Beispiel beim SBK drückt die Erkenntnis der Pflegearbeiter von unten nach oben: Es brauche weitere Mobilisierung und Organisierung zur Umsetzung der Initiative.

Im Kampf gegen Sparmassnahmen, der von immer grösserer Bedeutung sein wird, nehmen die Genfer Staatsangestellten seit Jahren eine Vorreiterrolle ein. Wir haben immer wieder festgehalten, dass das Abflauen eines Kampfes – so wie nach der durch den SP-Verrat herbeigeführten Niederlage Ende 2020 – nur temporär sein kann. Im September 2021 traten die Genfer städtischen Angestellten gegen das Sparbudget in den Streik. Die Arbeiter, im Bewusstsein, dass ein Streiktag ungenügend sein wird, übten Druck auf die Gewerkschaftsführung aus, um in November einen weiteren Streik anzusagen. Doch als das Stadtparlament den grössten Angriff (das Einfrieren der Löhne) vorübergehend zurückzog, verkündeten die Gewerkschaftsführungen den Sieg und bliesen den Streik ab. Dies ist offensichtlich ein Vorgehen, das die Arbeiterbewegung bremst und schädigt. Die Sparmassnahmen werden wiederkommen, denn Austerität ist eine Notwendigkeit der kapitalistischen Krise. Keynesianismus ist keine Lösung, denn so werden die Sparmassnahmen höchstens auf morgen verschoben. Der einzige Weg vorwärts ist den Kapitalisten mit Streikbewegungen ihr gehortetes Geld zu entreissen und für eine sozialistische Arbeiterregierung zu kämpfen. Auf Grundlage dieser Prinzipien müssen die Gewerkschaftsführungen die Streikfähigkeit in den öffentlichen Diensten aufbauen.

Der Bau ist einer der wichtigsten Sektoren für die Schweizer Arbeiterklasse. Einerseits weil knapp 10% der Lohnabhängigen in dieser Branche arbeiten. Andererseits ist es der wohl am besten organisierte Sektor der Schweiz. Auf dem Bau nimmt der Druck massiv zu, was die Arbeiter an der eigenen Haut spüren. Fast 80% der Bauarbeiter geben an, dass der Termindruck auf den Baustellen in den letzten Jahren zugenommen hat. Bei 73% führt das zu mehr Stress, bei 68% wirkt es sich negativ auf Familien und Freizeit aus. Dies zeigt, dass sich die Arbeiter völlig bewusst sind, dass ihre Arbeits- und Lebensbedingungen angegriffen werden. Gründe, um zu kämpfen, haben sie bei weitem genug. Die von der Gewerkschaftsführung vorgeschlagenen Kampfmethoden hinken den Anforderungen deutlich hinterher. Kleine Forderungen (100 Franken mehr Lohn) führen zu sehr kleinen Resultaten (Null Franken Lohnerhöhung). Im nächsten Jahr finden die Verhandlungen für den wichtigen Bau-LMV statt. Die Lohnverhandlungen von diesem Herbst zeigen, dass die übliche Routine mit den Samstagsdemos nicht ausreicht, um die Patrons unter Druck zu setzen. Zunächst müssen die Forderungen tatsächlich den Bedürfnissen der ArbeiterInnen entsprechen (u.a. 30-Stunden-Woche und 20% mehr Lohn). Dann brauchen die BauarbeiterInnen bessere Organisations- und härtere Kampfmethoden. Die oberste Priorität des Gewerkschaftsapparates muss der Aufbau von Betriebsgruppen sein. Das Ziel der Arbeiterbewegung in der aktuellen Periode, wenn die Kapitalisten zum Frontalangriff fahren, muss der Aufbau ihrer Verankerung und der Streikfähigkeit sein – auf dem Bau und in allen anderen Sektoren.

Wo steht die Arbeiterklasse in der Schweiz in der Schule des Klassenkampfs? Die wütendsten und die politisch fortgeschrittensten Lohnabhängigen beginnen, nach einem kollektiven Ausweg aus der Krise zu suchen. In der Romandie ist diese Entwicklung weiter, weil Kampftraditionen besser verankert sind. Dort wo die Gewerkschaften zumindest eine kleine Verankerung haben (Bau, CHUV, Genfer Funktionäre), kommt es zu Kämpfen. Doch die korrekten Forderungen und korrekten Kampfmethoden werden in sozialpartnerschaftliche Bahnen gelenkt. Die Klassengegensätze werden immer wieder verschleiert, indem die Führungen die Kämpfe der Arbeiter in Verhandlungen mit den Kapitalisten und ihrem Staat versanden lassen. Die Kämpfe und Streiks müssten dazu genutzt werden, um längerfristig die Kampfkraft zu erhöhen. Doch diese Kämpfe bleiben lokal isoliert und politisch wegen den Gewerkschaftsführungen limitiert. Daher enden viele Kämpfe in Niederlagen. Aber jeder praktische Arbeitskampf, auch ein verlorener, ist für die Klasse als Ganzes ein Schritt nach vorne, weil die politische Klarheit der Arbeiter gefördert wird. Die gemachten schmerzhaften Erfahrungen drücken in Richtung der Schlussfolgerung, dass die Arbeiter bessere und härtere Kampfmethoden brauchen, als von den reformistischen Führungen der Arbeiterbewegung angeboten werden.

Die reformistischen Führungen der Arbeiterbewegung werden aktuell kaum offen herausgefordert. Sie haben die Situation weiterhin völlig im Griff. Doch unter der Oberfläche schwindet ihre Autorität. Am Unia-Kongress stimmte eine Mehrheit für eine Resolution, welche den Bruch mit der Sozialpartnerschaft und der Friedenspflicht fordert. Auch wenn die Umsetzung der Resolution ohne gut organisierte linke Opposition innerhalb der Gewerkschaften unmöglich sein wird, ist die Abstimmung ein Zeichen für einen Differenzierungsprozess in der Basis. In der Basis ist die sinkende Autorität der Führung zudem ablesbar am deutlichen Mitgliederschwund oder an den schwachen Mobilisierungen an die Demos (bspw. AHV-Demo im September). In der breiteren Arbeiterklasse herrscht allgemein Desinteresse gegenüber den Gewerkschaften. Es ist für sie nicht erkennbar, was deren Nützlichkeit für die Arbeiter ist. Wenn es zu Kämpfen kommt – und dies wird mit der Zeit zunehmend der Fall sein – dann werden die Arbeiter zwingendermassen mit den Gewerkschaften in Kontakt kommen, weil diese die organische und einzige Organisation zur Verteidigung ihrer Interessen am Arbeitsplatz sind. Doch diese neuen Schichten von Arbeitern im Kampf werden sich viel weniger von den sozialpartnerschaftlichen Vorurteilen bremsen lassen. Der explosive Streik bei Smood in der Romandie hat aufgezeigt, dass die aktuelle Situation schwanger ist mit solchen Prozessen. Obwohl wir die Schwangerschaft (allererste Anzeichen) nicht mit der Geburt (regelrechte Streikwelle) verwechseln dürfen, geht die Tendenz klar in Richtung von mehr Kämpfen.

Die Zurückgewinnung der Massenorganisationen durch die Arbeiterklasse wird erst mit grossen gesellschaftlichen Ereignissen erfolgen, wenn die Arbeiter massenhaft in den Kampf treten. Wir Marxisten können diese Prozesse nicht ansatzweise ersetzen. Es wäre wahnwitzig und schädlich, wenn wir dies versuchen und so unsere Kräfte darin verbrennen würden. Was wir als winzige marxistische Organisation tun können und daher müssen: In Arbeitskämpfen zeigen wir unsere volle Solidarität. Dies machen wir, indem wir erstens fordern, dass die Treffen offen und demokratisch ablaufen. Alle wichtigen Entscheidungen im Laufe des Arbeitskampfes sollten erst im Anschluss an eine breite Diskussion und eine Abstimmung unter der Belegschaft gefällt werden. Denn je demokratischer ein Arbeitskampf ist, desto stärker wird er sein. Zweitens tragen wir ein sozialistisches Übergangsprogramm ohne Verwässerung in den Kampf. Nur volle Demokratie im Kampf und dieses Programm zeigen den Arbeitern einen Ausweg aus der kapitalistischen Sackgasse auf. Wir sind die einzigen, die ein solches Programm verteidigen. Wenn wir dies konsequent tun, dann werden wir in den Arbeitskämpfen genau und nur mit diesem Programm die besten Arbeiter für den Marxismus gewinnen können. Die inspirierende Arbeit der britischen Marxisten zeigt: Je schneller und je besser wir die besten Jugendlichen zu marxistischen Kader ausbilden, desto früher können wir in den Prozessen in den Massenorganisationen eine erste kleine Rolle spielen.

Das Bewusstsein

Ideen und Vorstellungen sind immer ein Stück weit konservativ, denn sie stellen zwingendermassen Verallgemeinerungen aus vergangenen realen kollektiven Erfahrungen dar. Typische in der Schweiz vorherrschende Vorstellungen – so wie «allen Leuten geht es gut» oder «es findet sich immer ein Kompromiss» – haben ihre materielle Grundlage in der relativen Stabilität des Schweizer Kapitalismus. Diese Ideen frieren vergangene Momente und Erfahrungen ein und werden zu scheinbar ewigen Wahrheiten. Die Bourgeoisie wirft ihren ganzen ideologischen Apparat rund um die Schule, den Staatsapparat oder die Medien in die Waagschale, um die Idee der Schweiz als «Sonderfall» zu verteidigen.

Die aktuelle Krise zeigt, dass diese alten Ideen in der Schweiz weiterhin eine gewisse Wirkung haben. Die ganze Bevölkerung sieht seit zwei Jahren live dabei zu, wie die herrschende Klasse bis heute unfähig ist, die Pandemie in den Griff zu kriegen. Viele Arbeiter sehen in ihrem Betrieb (und in den täglichen Nachrichten), dass die wirtschaftliche Erholung auf sehr wackeligen Beinen steht. Dennoch ist die Reaktion auf den Kriseneinbruch weiter Teile der Arbeiterklasse weiterhin Passivität, Schockstarre oder die Faust im Sack zu machen. Die Illusionen in die Stabilität der Schweizer Wirtschaft und der Schweizer Demokratie sind weiterhin präsent. Dies ist nur möglich, weil die Führungen der Arbeiterbewegung genau diese Illusionen schüren und so keine Alternative zur bürgerlichen Krisenpolitik aufzeigen.

Dieses ganze Dokument, das heisst die Analyse des Kapitalismus und des Klassenkampfs in der Schweiz, zeigt einen Rahmen der Veränderlichkeit und der tatsächlichen Veränderung an. Die materielle Grundlage für den Kompromiss zwischen den Klassen bricht zunehmend weg. Die alten Ideen stimmen immer weniger mit den Erfahrungen der Menschen überein. Die Bourgeoisie ist diesem Prozess letztlich hilflos ausgeliefert, denn diesen Entwicklungen liegen objektive, dem Kapitalismus innewohnende Widersprüche zugrunde. Die Arbeiterklasse wird auch in der Schweiz immer mehr dazu gezwungen sein, ihre veralteten Vorstellungen abzulegen und ihr Schicksal selber in die Hand zu nehmen.

Dies ist kein gradliniger Prozess, aber er hat eine klare Tendenz: in Richtung Radikalisierung, in Richtung der Revolution. Leo Trotzki beschrieb die widersprüchliche Entwicklung des Massenbewusstseins in extrem präziser und anschaulicher Art und Weise:

«Ihrer Natur nach besitzen die Veränderungen des Kollektivbewusstseins einen halb unterirdischen Charakter; erst wenn sie eine bestimmte Spannungskraft erreicht haben, drängen die neuen Stimmungen und Gedanken an die Oberfläche als Massenaktionen, die ein neues, wenn auch sehr unbeständiges gesellschaftliches Gleichgewicht herstellen. Der Gang der Revolution entblösst an jeder neuen Etappe das Machtproblem, um es sogleich wieder zu verschleiern – bis zu einer neuen Entblössung.»

Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution

In der Jugend ist die Bewusstseinsentwicklung am weitesten fortgeschritten. Zwischen 60% bis 80% der Jugendlichen in verschiedenen Ländern auf allen Kontinenten geben an, «das Gefühl zu haben, dass die Dinge in meinem Land ausser Kontrolle sind». In Grossbritannien erkennen 70% der Jugendlichen, dass der Kapitalismus verantwortlich für Klimawandel und Rassismus ist. In den USA sehen inzwischen die Mehrheit der ‘Millenials’ den Sozialismus als überlegen gegenüber dem Kapitalismus an. In der Schweiz stammt die letzte verfügbare Studie dazu vom Jahr 2018. Bereits damals lehnten 47% der 17- und 18-Jährigen den Kapitalismus ab. Seither ist der Kapitalismus in seine tiefste Krise je geschlittert. Die Pandemie, die Naturkatastrophen biblischen Ausmasses, der Polizeimord an George Floyd, die trotz Frauenstreik zunehmende Frauenunterdrückung und unzählige weitere Ereignisse prügeln auf das Bewusstsein der Jugendlichen ein. Die Financial Times schlussfolgert völlig richtig: «Den Menschen ist klar, dass Dinge wie [die Pandemie] immer wieder passieren werden, wenn wir nicht anders handeln – sie sind bereit, Dinge zu tun, die ihnen vorher vielleicht zu radikal erschienen.»

Zwischen 2018 und 2020 hat sich die Anzahl der Jugendlichen, die in der Schweiz demonstrieren, verdoppelt. Seither sehen wir einerseits immer wieder spontane Ausbrüche des Strebens nach kollektiven Kämpfen. Die teilweise massiven Solidaritäts-Bewegungen (v.a. BLM, aber auch Palästina oder Afghanistan) zeigen, dass die Jugendlichen in der Schweiz sich stark von der internationalen Radikalisierungswellen anstecken lassen. Die weltweit stattfindende Ungleichheit und Repression reflektiert teilweise die Erfahrungen, welche die Jugendlichen auch in der Schweiz machen.

Andererseits haben wir, auch mit der Pandemie, ein gewisses Abflauen bei den Jugend-Demonstrationen gesehen. Zwar zieht der Klimastreik weiterhin regelmässig neue Jugendliche an, doch nicht mehr ansatzweise die gleichen Massen wie zu Beginn. Die verbleibenden Aktivisten versuchen verzweifelt, die fehlenden Massen mit spektakulären, aber wirkungslosen Aktionen zu ersetzen. Doch es ist entscheidend zu verstehen, dass man die Bewusstseinsentwicklung nicht nur an der Anzahl Streiks und der Grösse von Demos ablesen kann. Wer nur die Lage an der Oberfläche anschaut, verfällt in Zeiten der oberflächlichen Ruhe zwingendermassen in Pessimismus und Passivität – um dann, wenn die unterirdischen Prozesse an die Oberfläche gelangen, überrumpelt zu werden und den Prozessen hinterherzutraben. Die Jugend kennt nichts anderes als die Krise. Unter der Oberfläche finden grosse Prozesse statt. Jene radikalisierten Jugendliche, welche nicht (mehr) an die Klimademos gehen, sind nicht ein Zeichen für fehlende Radikalität. Sie haben verstanden, dass die Freitags-Demos und die Schülerstreiks keinen Ausweg aus der kapitalistischen Umwelt-Barbarei bieten. Es handelt sich dabei um einen verwirrten Ausdruck der Suche nach effizienten Kampfmethoden und radikaler tatsächlicher Veränderung. Reformistische Politik, welche auf Parlamentarismus und Deals mit den Kapitalisten setzt, kann diesem Streben nichts bieten. Der einzige Weg vorwärts für die Klimabewegung ist die Arbeiterklasse, ein revolutionäres Programm und die sozialistische Planwirtschaft.

Tritt die Radikalisierung an die Oberfläche, kann das verschiedene Formen annehmen: Streikwellen (Striketober in den USA), spontane Bewegungen (Klimastreik, BLM), Linksreformismus innerhalb der Massenorganisationen (Corbyn) und in neuen politischen Formationen (Syriza, Podemos, Mélenchon), revolutionäre Massenbewegungen gegen Regierungen (Myanmar, Chile) und gegen Repression (Nigeria, Sudan, Palästina), Machtverschiebungen (Unite und Unison in Grossbritannien) sowie Keime der Differenzierung in den Gewerkschaften (Unité CGT in Frankreich) und ausserhalb der Gewerkschaften (Italien, Notfallstationen in Frankreich). Sie alle drücken den tiefen Unmut gegen das Herrschende und das Streben nach der notwendigen radikalen Veränderung aus.

Was bisher fehlt ist der Bruch mit dem System, die Enteignung der Bourgeoisie und die Zerschlagung der bürgerlichen Staatsmacht. Die Verankerung des revolutionären Programms in der Arbeiterklasse und den Bewegungen setzt eine revolutionäre Massenpartei voraus. Solange dies nicht erfolgt, wird jede noch so kraftvolle Bewegung abebben und in liberale oder postmoderne Bahnen gelenkt werden. Der Prozess verläuft «halb unterirdisch», mal ober, mal unter der Oberfläche, mal wird die Machtfrage offen gestellt, mal ist sie verschleiert. Aber die Massenbewegungen werden wiederkommen, grösser und stärker, weil die Krise des Kapitalismus durch dessen innere Widersprüche immer weiter angetrieben wird. In der Schweiz ist dieser Prozess aktuell noch leicht verzögert. Doch was in der Schweiz wirklich hinterherhinkt ist der Aufbau der marxistischen Kräfte. Die Instabilität und Brutalität des kapitalistischen Systems machen sich immer mehr breit. Die marxistische Strömung der Funke – die Schweizer Sektion der International Marxist Tendency – hat diesen Lauf gegen die Zeit aufgenommen. Im aktuellen Stadium unserer Organisation besteht unsere Hauptaufgabe in der revolutionären Propaganda unter den politisch fortgeschrittensten Jugendlichen. Diese suchen ein tiefes Verständnis der Welt und wie wir sie verändern können. Nur der Marxismus liefert die dafür notwendige theoretischen und praktischen Waffen.

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