[dropcap]B[/dropcap]is Ende Juni zeigt das Landesmuseum die Sonderausstellung zum 100. Jahrestag der Russischen Revolution – und inwieweit das Vielvölkerreich mit der Schweiz verflochten war.

Ein offener, heller und verheissungsvoller Raum eröffnet den Rundgang. Auf das kulturelle Erbe der Russischen Avantgarde trifft die Wand voller Kurzdefinitionen verschiedener sozialistischer Strömungen. Unter dem roten Banner einer Arbeiterorganisation findet sich eine Ausgabe von Karl Marx’ Kapital. Im Zarenreich entging der explosive Lesestoff den Zensurbehörden. Man hielt es für unverständlich, die russische Landbevölkerung für dumm, oder beides.

Zaristischer Prunk dank bäuerlichen Elends
Wenige Schritte weiter werden die BesucherInnen in die schwärzesten Auswüchse der Reaktion geführt. Es ist bezeichnend, dass die letzten Tage der Romanows durch ein wuchtiges goldenes Fabergé-Ei mit einem integrierten Uhrwerk der Firma Moser & Cie. im Zentrum des Raumes repräsentiert werden. Mit dem Schaffhauser Uhrmacher und Auswanderer wird erstmals die enge Verbindung zwischen dem Alpenland und der zaristischen Autokratie deutlich gemacht. Während circa 2500 russische RevolutionärInnen in der Schweiz Zuflucht vor Repression fanden, emigrierten seit dem 18. Jahrhundert Unternehmen und hochqualifizierte schweizerische ArbeiterInnen zu tausenden ins Vielvölkerreich, um sich eine goldene Nase zu verdienen.
Während zahlreiche Exponate den Pomp der Zarenfamilie und der orthodoxen Pfaffen offensiv darstellen, wird die Kehrseite dieser Anhäufung von Reichtum an den Rand gedrängt dargestellt. Gerade einmal sechs ausgedruckte Fotografien weisen auf die Entbehrungen von 80 Prozent der Bevölkerung des Zarenreiches hin. Eine Familie steht vor ihrer zusammengezimmerten Behausung, welche Teil einer bäuerlichen jüdischen Siedlung ist. Die Beine der Kinder gleichen Streichhölzern. Auf einer weiteren Aufnahme ist eine landlose Bettlerfamilie zu sehen – für Kinderschuhe hat das Geld augenscheinlich nicht gereicht. Die Misere auf dem Land treibt die Menschen in die urbanen Zentren. Eine weitere Fotografie offenbart, dass das Leiden in den Städten weitergeht. Die Augen ausgemergelter Gesichter von Arbeitslosen in einer St. Petersburger Suppenküche blicken in die Kamera.

Ereignisgeschichte nach alter Schule
Aus dieser Beklemmung führt eine erste Zeittafel (1860-1917), welche die BesucherInnen über die Ereignisgeschichte aufklärt. Danach ist man definitiv wieder in der Schweiz angekommen: Bedeutende RevolutionärInnen wie Lenin, Trotzki und Kollontai werden portraitiert, ihre politischen Tätigkeiten und Theorien dargelegt. In diesem Zusammenhang nehmen die sozialistischen Friedenskongresse in Zimmerwald und Kiental berechtigterweise einen grossen Platz ein.
Der zweite Zeitstrahl startet mit dem Ausbruch des 1. Weltkriegs und gipfelt in der Oktoberrevolution. Diese erste sozialistische Revolution der Weltgeschichte wird ganz im Sinne der bürgerlichen Geschichtsschreibung stark vereinfacht und aus dem Kontext gerissen. Schlussendlich kann so behauptet werden, es handle sich schlicht um einen Staatsstreich der Bolschewiki.

Tendenziöse Perspektive auf den jungen Sowjetstaat
In diesem Tenor geht es auch im folgenden Raum weiter, wo an 26 Stationen ein Bild über die ersten Jahre des jungen sowjetischen Staates vermittelt wird. Lang und breit wird etwa die Auflösung der konstituierenden Versammlung beklagt ohne auf die Funktionsweise der Rätedemokratie einzugehen.
Zum Schluss der Ausstellung wird der Bogen zur Schweiz geschlagen. Inspiriert durch die sozialistische Revolution in Russland legen tausende ArbeiterInnen in der Schweiz ihre Arbeit nieder. Es ist Landesstreik!
150 Exponate zeigt die Schau um die Russische Revolution. Abgesehen von ein paar Absurditäten – wie zum Beispiel der mutmasslichen Perücke Lenins – vermitteln die verschiedenen Objekte einen breiten Überblick über die Ereignisse. Wie es zu den zwei aufeinanderfolgenden Revolutionen kommt wird zwar anhand empirischer und geodeterministischer Ansätze gedeutet, die Rolle der bolschewistischen Partei und deren politische Schlüsse bleiben hingegen offen.

Ariane Müller
JUSO Aargau