«Rise up for Change» – Die Besetzung des Bundesplatz war die Probe auf’s Exempel der neuen Kampfmethode der Klimabewegung, des «zivilen Ungehorsams». Ist das der Weg, um die menschliche Zivilisation vor der Klimakatastrophe zu retten?

Einige Hundert Jugendliche besetzten für zwei Tage den Berner Bundesplatz: bewusst illegal, aber friedlich. Die Polizei reagierte mit Gewalt. Polizisten rupften friedliche Jugendliche an Armen und Beinen, schlugen sie und warfen sie auf den Boden. Sie sortierten offen rassistisch die gleichzeitige Migrationsdemo entlang der Hautfarben und schossen mit Gummischrot und Wasserwerfern auf die Demonstrierenden. Es drohen Anzeigen. Der Zynismus der Polizei-Pressestelle auf einige Videos ist kaum zu überbieten: das seien alles – «nur Momentaufnahmen». In der Nacht auf Mittwoch wurde der Bundesplatz geräumt. Ohne physische Waffen, aber nicht minder gehässig und zynisch reagierten die Bürgerlichen. Zum Beispiel SVP-Mann Schnegg: Sofort müsse der Platz von den Leuten gesäubert werden, die da «Demokratie und Rechtsstaat mit Füssen treten» und die nicht «ein friedliches Zusammenleben und ein solidarisches Zusammenstehen in einer Krisenzeit für notwendig» halten. 

Wir stehen klar auf der Seite der Klimabewegung und teilen ihr Anliegen, die Klimakatastrophe abzuwenden. Wir stellen uns klar gegen die Angriffe von Staat und Bürgerlichen. Diese verteidigen das kapitalistische System. Und es ist dieses System, das für den Klimawandel verantwortlich ist und welches das Hindernis ist, um die Katastrophe abzuwenden. Und dieses System beruht auf dem genauen Gegenteil von «Frieden und Solidarität»: auf Krieg, Gewalt und Konkurrenz. Und der «Rechtsstaat» dieses Systems hat sich ganz gut selbst entlarvt: «Rechtsstaatlichkeit» bedeutet, friedlich demonstrierende Junge prügeln.

Für den Kampf gegen den Klimawandel ist die einfache Frage entscheidend: Taugt die neue Kampfstrategie der Klimabewegung (der «zivile Ungehorsam») etwas? War dies ein Schritt vorwärts?

Ziviler Ungehorsam

Die Selbsteinschätzung von «Rise up for Change» (ein Kollektiv aus Klimastreik, Extinction Rebellion, Collective Climate Justice, Collective Break Free und Greenpeace Schweiz) trifft zunächst den Nagel auf den Kopf. Man habe eineinhalb Jahre gekämpft – ohne handfeste Erfolge. «Alle Instanzen dieses Systems», bei denen der Klimastreik «verzweifelt um Hilfe gerufen und Veränderungen gefordert» habe, hätten ihn «im Stich gelassen».

Diese Erkenntnis ist breit verankert bei den Jugendlichen, die Teil der Klimabewegung sind. Auf breiter Front stellt sich nicht mehr die Frage, ob es einen «System change» braucht – sondern wie. Man muss radikaler werden.  Die Antwort, die sich bei den AktivistInnen durchgesetzt hat, kommt aus der Ecke von Extinction Rebellion (XR). XR drückt dem Bündnis «Rise up for Change» den Stempel auf. Nach XR-Methode bedeutet radikaler werden «massenhafter ziviler Ungehorsam».

Illegale Appelle an die Legalität

Die Aktion auf dem Bundesplatz offenbart die Widersprüchlichkeit dieser Kampfmethode. Sie kommt radikal daher: bewusst wird illegal gearbeitet. Bewusst wurde das Gesetz gebrochen, dass während Parlamentssessionen nicht vor dem Bundesplatz demonstriert werden darf. Aber dieser bestimmte Rechtsbruch ist nicht zufällig gewählt. Die Besetzung soll Druck ausüben auf bestimmte «Instanzen dieses Systems»: auf die Bundesversammlung, die am Tagen war. Also wieder eine der Instanzen, die bereits bewiesen hat, dass sie die Klimabewegung im Stich lässt.

Das Parlament ist Teil des bürgerlichen Staats, seine demokratische Hülle. Der bürgerliche Staat wird uns nicht helfen, im Gegenteil. Er hat von Montag bis Mittwoch gezeigt, auf welcher Seite er steht. Die Polizei – wichtiger Teil des undemokratischen Kerns des Staats – ist eines der wichtigsten Organe, das die kapitalistische Ordnung mit Gewalt verteidigt: den Kapitalismus, der einerseits für den Klimawandel verantwortlich ist, und andererseits absolut unfähig ist, ihn abzuwenden. (Siehe ausführlicher hier.) Und das Parlament ist eben nur die demokratische Hülle des Staatsapparats. Entscheidende Macht hat das Parlament nicht. Die Bürgerlichen im Parlament von einer Klimapolitik zu überzeugen, die das Kapital in seiner grössten Krise wirklich was kostet, ist zum Scheitern verurteilt. Die Herbstsession hat gezeigt, was maximal rausgeholt werden kann: ein zahnloses und reaktionäres CO2-Gesetz, das die Lohnabhängigen zur Kasse bittet. Und für dieses Gesetz soll der Klimastreik «dankbar» sein und sicher nicht illegales Zeugs machen, so der Gründer der Grünliberalen! Und auch wenn im Parlament ein Gesetz beschlossen würde, das die realen Kräfte (die Kapitalisten und den Staatsapparat) auffordern würde, die Klimakrise abzuwenden – dann würde das Kapital sofort beweisen, dass das Parlament eben nur eine demokratische Hülle ist, die abgeworfen wird, wenn sie lästig wird.

Ob man mit legalen Demos oder mit illegalen Aktionen auf diesen Staat Druck ausübt: Das Prinzip bleibt dasselbe. Nur die Mittel sind verzweifelter. Aber Verzweiflung wird den Staat auch nicht umstimmen. Der Radikalismus des «zivilen Ungehorsams» ist Scheinradikalismus.

Die Arbeiterklasse, der Schlüssel

Der Kampf muss gegen diesen Staat und gegen die herrschende Klasse geführt werden, die ihn und die Konzerne kontrolliert. Aber die Jugend ist machtlos gegen diese gigantischen Kräfte – ganz besonders, wenn es keine Massen mehr sind, sondern nur noch einige Hundert. Die einzige wirkliche Macht, die gegen Kapitalisten und Staat etwas ausrichten kann, ist die Arbeiterklasse.

Natürlich gehören auch die Jugendlichen (wie auch die meisten RentnerInnen, Kinder usw.) zur Klasse der Lohnabhängigen im weiteren Sinn. Sie sind Teil von Familien, in denen die Eltern für Lohn arbeiten und damit selbst abhängig von Lohn. Und in Zukunft werden sie selber LohnarbeiterInnen sein. Aber es ist der enge Kern der lohnabhängigen Klasse, der wirklich schlagkräftig ist: die ArbeiterInnen, die im Produktionsprozess drinstecken, die also jeglichen Reichtum dieser Gesellschaft und damit auch jeden Franken Profit der Kapitalisten produzieren. Der produzierende Teil der lohnabhängigen Klasse kann streiken und damit den Verursachern der Klimakatastrophe, den Kapitalisten, weh tun und diese zwingen.

Die Arbeiterklasse «im engen Sinn» ist also der Hebel für den Kampf gegen die Klimakatastrophe. Auf ihre Kräfte müssen wir alles setzen. Das ist der einzige Weg vorwärts. Erkennen wir nicht diese einzige befreiende Macht, dann landen wir notgedrungen immer wieder in den Fängen der «Instanzen» der jetzt herrschenden Klasse. Meistens beim Staat, weil der neutraler ausschaut. Die Arbeiterklasse ist auch die Kraft, die eine neue sozialistische Wirtschaft aufbauen kann, die im Einklang mit der Natur funktioniert: die jetzigen Produzenten können die bereits vergesellschaftete Produktion selber und demokratisch leiten und kontrollieren. Dafür brauchen sie keine Kapitalisten.

Radikaler kämpfen kann also nur heissen, die Arbeiterklasse in den Klimakampf reinzuziehen. Taugt der zivile Ungehorsam dazu? Das ist der Lackmustest!

Nichts zu gewinnen, viel zu verlieren…

In Diskussionen auf dem Bundesplatz und der Demo vom Freitag wurde uns Funke-AktivistInnen oft gesagt: Man appelliere nicht einfach nur an das Parlament. Sondern die Bundesplatz-Aktion erhöhe das Bewusstsein breiter Schichten der Bevölkerung für die Klimafrage. Dieses fehle im Moment noch. Dass breite Teile der Arbeiterklasse noch nicht mitkämpfen würden, das sei Ausdruck davon. Viele AktivistInnen wollen also genau das tun, was getan werden muss: die Kämpfe der Arbeiterklasse und diejenige der Klimabewegung vereinheitlichen. Aber der Weg in die Hölle ist gepflastert mit guten Vorsätzen…

Das Bewusstsein für die Umweltproblematik ist durchaus da in der Arbeiterklasse. Die Bundesplatz-Besetzung zeigt das. Weder der Goodwill des grünen Berner Stadtpräsidenten oder von sonst irgendwelchen PolitikerInnen, noch das ganz offensichtlich berechtigte Anliegen der Besetzung – nichts davon ist der Grund, warum der Staatsapparat die illegale Klimabewegung nicht schon früher und bei Tageslicht vom Bundesplatz kickte. Der Grund liegt in der vorhandenen Sympathie breiter Schichten der Arbeiterklasse für das Anliegen der Klimabewegung – und damit der Gefahr für die PolitikerInnen, sich den Ärger dieser Klasse einhandeln mit einer «unvorsichtigen» Säuberung des Platzes.

Aber die Aktionen des zivilen Ungehorsams nutzen diese Sympathie nicht aus. Die Bundesplatz-Besetzung strapaziert die Sympathie der Klasse für die Klimabewegung. Der Versuch der Bürgerlichen, die Illegalität der Aktion auszunutzen, um den Kampf fürs Klima vor den Lohnabhängigen als unrechtmässig zu brandmarken, fruchtete zwar nicht allzu sehr. Aber die Besetzung stiess auf berechtigtes Unverständnis bei den Lohnabhängigen: Was soll das bringen, sich bei Regen auf dem Bundesplatz anzuketten und von der Polizei verprügeln zu lassen? Marx und Engels haben mal geschrieben, dass die Arbeiterklasse nichts zu verlieren habe als ihre Ketten, dafür aber eine Welt zu gewinnen habe. Solange die Klimabewegung der Arbeiterklasse nicht aufzeigt, wie sie ihre Ketten abwerfen kann und wie sie im Klimakampf mehr gewinnen kann als Bussen – so lange verwundert es nicht, dass sich kaum ein Arbeiter und kaum eine Arbeiterin an der ungehorsamen Aktion auf dem Bundesplatz beteiligten. Und mehr noch. Die ArbeiterInnen werden angesichts der Besetzung sich gesagt haben: Wenn das der Kampf fürs Klima ist, dann ist der Klimakampf nichts für mich.

Die Kampfmethode des «zivilen Ungehorsams» soll den Klimakampf radikaler machen. Aber die Bundeshaus-Besetzung zeigt: Diese Kampfmethode provoziert in der Arbeiterklasse als Ganzer im besten Fall Unverständnis. Ziviler Ungehorsam kann diese nicht in den Kampf reinziehen, sondern er entfremdet sie vom Klimakampf. Er bedeutet darum keine Radikalisierung und kein erster Schritt in die richtige Richtung, im Gegenteil. Wie dann radikaler kämpfen, wie dann vorwärts?

Sozialistisches Programm als Grundlage

Im Zug der einbrechenden tiefsten Krise des Kapitalismus drohen der ganzen Arbeiterklasse auf ganzer Breite härteste Angriffe. Diese wird sich wehren müssen. Ertragbare Lebensbedingungen stehen für breiteste Schichten der Klasse auf dem Spiel. Der Kampf gegen die kommenden Massenentlassungen und die Sparpakete – solche auszutüfteln ist gewissermassen die Hauptaufgabe der Parlamente heute –, ist ein Kampf gegen die Kapitalisten und ihren Staat. Genauso derjenige für die notwendigen Investitionen in nachhaltige Produktion oder die Abkehr von fossilen Energieträgern. Der Klimakampf und der «soziale» der Arbeiterklasse haben denselben Gegner.

Und beide haben dasselbe Ziel. Beide Kämpfe münden notwendigerweise in den Bruch mit dem kapitalistischen System und der Etablierung des Sozialismus, wenn sie Erfolg haben wollen. Weder können im Zuge der einbrechenden tiefsten Wirtschaftskrise die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse schon nur gehalten, geschweige denn gehoben werden, ohne mit diesem System zu brechen. Denn der Kapitalismus kann sich nur noch erhalten, indem er die Lebensbedingungen der lohnabhängigen und jugendlichen Menschen zerstört. Noch kann eine Wirtschaft je «umweltfreundlich» funktionieren, solange sie einem Prinzip unterstellt ist, das nur einen Massstab kennt: die Profite.

So ein sozialistisches Programm ist die unabdingbare Grundlage, um die Arbeiterklasse in den Klimakampf reinzuziehen. Es zeigt den ArbeiterInnen, wie die Arbeiterklasse ihre Ketten abwerfen kann. Es zeigt, wie die Arbeiterklasse eine Welt gewinnen kann. Und es zeigt, dass das derselbe Kampf ist wie derjenige für eine Wirtschaft, welche die Umwelt nicht zerstört.

Das Programm liefern

Aber es reicht nicht, dieses Programm zu haben. Wir müssen die Arbeiterklasse aktiv damit bewaffnen: es mit den Arbeitern und Arbeiterinnen diskutieren, sie davon überzeugen. Das ist die mühselige, aber nichts weniger als welthistorisch entscheidende Aufgabe unserer Zeit! Die «Workers for Future»-Gruppe im Klimastreik hatte letztes Jahr den richtigen Zipfel gefunden. Aber sie scheint (für den Moment) von den hemmenden XR-Methoden verdrängt worden zu sein. Es wäre die Aufgabe der Massenorganisationen der Arbeiterklasse, diese einerseits für den Kampf zur Verteidigung des Lebensstandards zu rüsten und andererseits die ganze Kraft der organisierten Arbeiterklasse hinter die Klimaforderungen zu stellen. Aber die Führungen dieser Organisationen nehmen sich dieser Aufgabe nicht an. Sie leben gewissermassen noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts, als man mit den Kapitalisten noch relativ gemütlich im Hinterzimmer dealen konnte, und als man noch als Teil des bürgerlichen Staats Reformen durchbringen konnte. Diese Zeiten sind längst vorbei. Die Kräfte der Klimabewegung müssen auf die Arbeiterorganisationen ausgerichtet werden. Aber der «zivile Ungehorsam» zerstört die Kräfte der Klimabewegung, indem er sie in anstrengenden Aktionen und unnötigen nervenzehrenden Auseinandersetzungen mit der Polizei zermürbt. Wir müssen die verknöcherten Führungen der Arbeiterorganisationen unter Druck setzen. Sie sollen die ArbeiterInnen mobilisieren, zu Grossdemos aufrufen, zusammen mit der Klimabewegung: gegen Massenentlassungen, gegen die Zerstörung unseres Lebensstandards, für die nötigen Investitionen in eine «grüne Produktion» – alles bezahlt von denen, die den Cash, den wir erschaffen haben, einsacken: von den Kapitalisten. Dann diskutieren wir mit den Arbeitern und Arbeiterinnen unser Programm und überzeugen sie davon, dass nur der Sozialismus die Lösung all unserer Probleme sein kann. So werden wir radikaler.

Hoffnung: Sozialismus

Die Demos letzte Woche waren nicht so breit und tief wie noch vor Corona – und das nicht nur wegen gesundheitlichen Bedenken. Aber es ist noch Energie vorhanden. Und viele der AktivistInnen haben begriffen: der Kampf muss radikaler werden. «Hoffnungslosigkeit ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können», so das «Rise up for Change»-Kollektiv. Richtig. Aber genauso wenig können wir uns die scheinradikale Methode aus dem Hause XR leisten. Die Methode des «zivilen Ungehorsams» ist nicht der Weg vorwärts und auch kein erster Schritt darauf. Der Weg vorwärts heisst Klassenkampf. Hoffnung gibt uns die potenzielle Kraft und Macht der Arbeiterklasse. Aber das Ganze ist kein Selbstläufer: Wir müssen die Kämpfe gegen die Klimakatastrophe verbinden mit den drängendsten Probleme der Arbeiterklasse im Zug der einbrechenden Krise – und beide unter dem Banner des Sozialismus vereinen. Dafür setzt sich die marxistische Strömung Der Funke ein, in Klimastreik und Arbeiterbewegung.

Für die Redaktion
Jannick Hayoz

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