Einordnung der europäischen Abschottung und Politische Schlussfolgerungen

 

[dropcap]D[/dropcap]as häufige „linke“ Argument, Immigration hätte keine merklichen Auswirkungen auf das Zielland und sei dementsprechend ein künstlich kreiertes Problem der Rechten ist naiv und verschliesst sich der Realität. Migration ist immer ein Resultat von strukturellen Veränderungen, das wiederum auf beiden Seiten strukturelle Veränderungen mit sich bringt: sowohl im Herkunfts- wie im Zielland. Allerdings stellen die Folgen der Immigration tatsächlich kein Problem dar, wenn man bereit ist, die Lösungen in einem Klassenkampf zu suchen, der das eigene Wohlergehen als Lohnabhängige nicht über die Vermittlung des Wohlergehens des nationalen Wirtschaftsstandortes garantiert sieht.

Wir haben gesehen, dass die unkontrollierte und von ihnen ungewünschte Immigration für die herrschende Klasse tatsächlich eine grosse Gefahr darstellen kann. Sie erhöht die eigene Verwundbarkeit im Landesinnern, indem bei im Grossen und Ganzen unveränderter Wirtschaftsleistung eine grössere Bevölkerung am Leben erhalten werden muss. Gegen die Wahnvorstellungen des britischen Ökonomen Thomas Malthus von einer apokalyptischen Bevölkerungsexplosion, wies Marx seinerzeit bereits darauf hin, dass die Grösse der Bevölkerung, die am Leben erhalten werden kann, einzig von den vorherrschenden Produktions- und Verteilmethoden abhängt. In Wahrheit bestünde heute ohne Weiteres die objektive Möglichkeit, alle MigrantInnen in Europa aufzunehmen; genauso wie längst die objektive Möglichkeit bestünde, fast das doppelte der Weltbevölkerung zu ernähren – Jean Ziegler wird niemals müde, uns hieran zu erinnern. Doch die engen Grenzen des Kapitalismus mit seinem Privateigentum an Produktionsmittel verunmöglichen es, dieses produktive Potential auszuschöpfen.

Entsprechend ist die Bourgeoisie Europas sowohl aus rein wirtschaftlichen wie aus politischen oder herrschaftstechnischen Gründen real auf die Abschottung des eigenen Kontinents angewiesen oder zumindest stark an ihr interessiert. Ersteres bezieht sich vor allem auf die momentan eher beschränkte Nachfrage nach ausländischer Arbeitskraft. Grosse Teile der Produktion wurde in den letzten Jahrzehnten nach ausserhalb Europas verlagert, während das unproduktive Finanzkapital mittlerweile eine dominante Rolle einnimmt und die EU insgesamt nur höchst bescheidene Raten des Wirtschaftswachstums vorweisen kann. Gleichzeitig hat die Schaffung eines internen Absatz- und Arbeitsmarktes ermöglicht, dass die Kernländer der EU ihren Bedarf an oftmals sehr hochqualifizierten Arbeitskräften auch intern decken können. Des Weiteren muss berücksichtigt werden, inwiefern die Menschen, die sich – als Folge der verschärften Migrationsgesetzgebung – ohne legalen Status in Europa aufhalten, einen wirtschaftlichen Nutzen bringen, auf den die hiesige Bourgeoisie kaum verzichten möchte. Es wird geschätzt, dass es in der EU zwischen 5 und 7 Millionen ArbeiterInnen ohne Bewilligung gibt [18]. Sie stellen heute die unterste Schicht der ArbeiterInnenklasse Europas dar, die ohne Arbeitsrechte zu tiefsten Löhnen nach Belieben ausgebeutet wird. Insbesondere die Sektoren der Landwirtschaft, des Baugewerbes sowie der Reinigungs- und Pflegediensten würden kaum ohne die „Illegalen“ funktionieren. Die Kapitalistenklasse und speziell ihre konservativsten und immigrationsfeindlichsten Teile nehmen ihnen gegenüber eine höchst zwiespältige und verlogene Haltung ein. Einerseits beschwören sie die Gefahren der massiven Einwanderungswellen und hetzen gegen die AusländerInnen, andererseits sind genau sie es, die sie illegal und unter miesen Bedingungen für sich schuften lassen. In ihrem Interesse werden damit gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: sie profitieren wirtschaftlich von tieferen Produktionskosten und spalten gleichzeitig die ArbeiterInnenklasse nach Linien der Herkunft. Die restriktive Gesetzgebung im Bereich der Migration – also die Bestrebungen zur Illegalisierung der Einwanderung und des Aufenthalts – hat seine Gründe wohl durchaus auch in dieser doppelten Absicht der Kapitalisten, einerseits einen Billiglohnsektor zu schaffen und andererseits die Klassenwidersprüche zu verdecken.

Das zuletzt Gesagte führt uns unmittelbar zum politischen Moment der Abschottung. Wie aus der obigen Argumentation hervorgegangen sein sollte, vermöchte das Wegfallen der aussereuropäischen Grenzen für die Menschen, respektive die Legalisierung der irregulären Arbeitskräfte, die Art und Weise, wie innerhalb Europas die Herrschaft des Kapitals ausgeübt und aufrechterhalten wird, herauszufordern. Unter anderem würde damit das schwindende imperialistische Polster zwischen ArbeiterInnen und Kapitalisten, das letztere auf Kosten des Südens vor den eigenen ArbeiterInnen schützt, noch weiter angegriffen. Die Kapitalisten Europas haben durch die Überproduktionskrise mittlerweile genug Schwierigkeiten mit der beachtlichen Arbeitslosigkeit der eigenen Staatsangehörigen. Zur Rettung ihres Profits sind sie schon lange darauf angewiesen, den dämpfenden Sozialstaat mehr und mehr abzubauen. Solange sie ihre Macht nicht durch eine alternative Gegenmacht ernsthaft bedroht sehen, besteht also keinerlei Grund, weshalb sie nicht weiterhin die Grenzen für die vielen „Ungewollten“ schliessen sollten und nur noch einige wenige hereinlassen, die einen unmittelbaren wirtschaftlichen Nutzen bringen. Dabei produziert der Markt, so staatlich reguliert wie hier beschrieben, eine starke Differenzierung zwischen verschiedenen Menschengruppen. Diese ist per se rassistisch, weil sie nach sozialer und geographischer Herkunft hierarchisiert und diejenigen ausschliesst und entrechtet, die nicht die notwendigen Eigenschaften mitbringen, die der Markt von ihnen verlangt.

Dies wäre gewiss auch in einem liberalen Gesellschaftsverständnis nicht zu rechtfertigen. Jedoch sind, wie wir gesehen haben, Migrationskontrollen und ein Grenzschutz der heutigen Brutalität ein notwendiger Bestandteil des kapitalistischen Systems. Der mit ihnen verbundene Rassismus, die Gewalt und das Sterben von Flüchtlingen, können innerhalb dieser Produktionsweise unmöglich aufgehoben werden. Wie so oft, sind wir auch hier mit einer überaus widersprüchlichen Situation konfrontiert. Die Aufhebung der Grenzen für die Menschen setzt über weite Strecken die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise voraus; gleichzeitig stellen diese Grenzen jedoch selbst ein Hindernis für den Aufbau einer antikapitalistischen Alternative dar, weil die damit verbundene menschliche Illegalität einerseits das politische Handeln erschwert und andererseits die ArbeiterInnenklasse auch objektiv spaltet. Für ein fortschrittliches politisches Handeln weisen wir deshalb auf die notwendige Wechselwirkung hin zwischen den einzelnen Schritten und Übergangsforderungen einerseits im Kampf für die Aufhebung aller Formen von Migrationskontrollen und andererseits im Kampf für die Überwindung des Kapitalismus selbst. Die beiden Momente gehen Hand in Hand und verstärken sich gegenseitig. Dies deshalb, weil die Bewegungsfreiheit und die damit verbundene Legalisierung des Aufenthalts und der Lohnarbeit zur Ermächtigung der Ausgeschlossenen führt und ihre politische Handlungsfähigkeit deutlich erleichtert. Dies aber auch deshalb, weil sie, wie wir hier gesehen haben, direkt das Fundament der herrschenden Klasse angreift und die Klassenwidersprüche zuspitzt.

Dazu muss allerdings ein linkes Projekt von einer gesellschaftlichen Stärke entwickelt werden, die den Ängsten grosser Teile der europäischen Bevölkerung tatsächlich mit einer politischen Alternative begegnen kann. Ansonsten ist weder eine linke Wirtschafts- und Sozialpolitik noch eine linke Migrations- und Asylpolitik möglich. Immigration, Integration und das Asylwesen werden weiterhin von der Schweizer Bevölkerung als eines der grössten und dringendsten Probleme aufgefasst [19]. Die konservative Rechte vermag dies ohne Mühe für sich zu instrumentalisieren, die Ängste zu verstärken und damit einen Keil zwischen die ArbeiterInnen zu schlagen, der den Feind im Ausländer sucht und die Interessensgegensätze im Innern verdeckt. Dagegen sind die Massenorganisationen der Linken in ihrer nationalistischen und defensiv-reformistischen Logik gezwungenermassen machtlos. Die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie stehen in ihrer uneingeschränkten Verteidigung der nationalen Wirtschaft heute im fundamentalen Widerspruch zu jedem fortschrittlichen Umgang mit der Migration, ja wurden sogar zu dessen grössten Verhinderer. Die Schwierigkeit liegt hier natürlich auch darin, dass die Lohnabhängigen in den imperialistischen Zentrumsländer in einem ersten, unmittelbaren Schritt tatsächlich selbst vom Staat und seiner Stellung im Weltmarkt profitieren und von ihm abhängig sind [20]. Der schleichend zerfallende Wohlfahrtsstaat, den sich Europa nur durch seine imperialistische Unterdrückung des Südens leisten konnte, macht die ArbeiterInnen damit noch empfänglicher für Nationalismus an sich und für die nationalistische Rhetorik von der Verdrängung am Arbeitsplatz, dem Zusammenbruch des Sozialsystems und der steigenden Kriminalität.

Allerdings muss jetzt, an diesem Moment in der Geschichte, eingesehen werden, dass dieser Wohlfahrtsstaat mit einer links-nationalistischen Herangehensweise, die sich über den Klassengegensatz stellt, ohnehin nicht wird gerettet werden können. In der Tat beobachten wir seit der Überakkumulationskrise der 70er Jahre dessen stückweisen Abbau. Im Rahmen der momentanen Wirtschaftskrise sehen wir uns mit erheblichen Kürzungen im Sozialwesen und grundsätzlichen Angriffen auf die Arbeits- und Lebensbedingungen durch die Bourgeoisie konfrontiert, die schlicht nicht zu verhindern sind, indem man die Bürgerlichen zu überzeugen versucht, die Erhaltung des Sozialwesens und „gerechte Löhne“ würden den nationalen Wirtschaftsstandort schon nicht schwächen. Wir sehen also, wie der vermeintliche Pragmatismus der europäischen Sozialdemokratie und der Mehrheit der Gewerkschaften – zurückgedrängt in eine nationalistische Logik, die getrost ihren bürgerlichen Urheber alleine überlassen werden kann – nicht fähig ist, immer grössere Einschnitte in das Leben der Lohnabhängigen jeglicher Herkunft zu verhindern.

Gerettet werden kann der Lebensstandard der Lohnabhängigen nur auf der Basis eines Kampfes, der das eigene Interesse über das Profitinteresse der Kapitalisten stellt – und dies geht durchaus auch mit den ImmigrantInnen zusammen. Wirkliche linke Migrationspolitik auf der Basis eines Klassenstandpunktes heisst, dass die organisierten Lohnabhängigen, ungeachtet ihrer Herkunft, gegen die Interessen des Kapitals gemeinsam ihre Rechte und ihren Lebensstandard kämpfend verteidigen. Dazu gehört ganz entscheidend die Erlangung der Bürgerrechte für alle ImmigrantInnen – für uns ist klar: kein Mensch ist illegal! Stellt die erhöhte Konkurrenz durch verstärkte Migration eine Gefahr für die Löhne und die Existenz für die inländischen ArbeiterInnen dar, so bedeutet dies nur, dass die Gewerkschaften und die Linke endlich zu ihrer eigentlichen Berufung finden müssen: der Verteidigung der Interessen der Lohnabhängigen gegen die ihnen schadenden Profitinteressen der Kapitalisten.


[18] Solidarité, DIESIS, „The Illegal Work of Migrants in the European Union“, online auf: http://www.pourlasolidarite.eu/sites/default/files/publications/files/report_illegal_work_of_migrants_in_the_eu_0.pdf [zuletzt aufgerufen: 21.5.2015]

[19] Gfs.bern, „1. Welle Wahlbarometer, Schlussbericht“, online auf: http://www.gfsbern.ch/DesktopModules/EasyDNNNews/DocumentDownload.ashx?portalid=0&moduleid=677&articleid=1278&documentid=1003 [zuletzt aufgerufen: 14.5.2015]

[20] Für dieses Argument, vgl. auch: Fabian Georgi, „Was ist linke Migrationspolitik?“, Zeitschrift Luxemburg, online auf: http://www.zeitschrift-luxemburg.de/was-ist-linke-migrationspolitik/ [zuletzt aufgerufen: 21.5.2015]