Antworten der herrschenden Klasse auf die Überakkumulationskrise: Globalisierung und die Entstehung des „Migrationsproblems“

 

[dropcap]D[/dropcap]ie Bewegungsgesetze des Kapitalismus bedingen eine immer weitere Anhäufung von Kapital, das dann irgendwo wieder reinvestiert und verwertet werden muss. Das Kapital hat daher einen inneren Drang, sich stets weiter auszudehnen. Das ist die Grundlage des imperialistischen Strebens der kapitalstärksten Staaten, immer neue Märkte zu erobern. Wie wir mit Marx wissen, führen die Entwicklung der Produktivkräfte und die Technologisierung ebenfalls periodisch zu Überproduktionskrisen, bei denen die Profitraten einbrechen und das Kapital nicht mehr profitabel reinvestiert werden kann. Hier ist nicht die Stelle, die inneren Gesetze des vorherrschenden Wirtschaftssystems ausführlich darzulegen und ihre Durchsetzung in der Weltgeschichte aufzuzeigen. Wir weisen stets auf diese Zusammenhänge hin, darauf wie Staaten und Kapitalisten auf die Herausforderungen der Krisenhaftigkeit ihrer eigenen Grundlage reagieren und damit immer noch mehr Elend und noch mehr Instabilität und Kriege provozieren (unter anderem z.b. hier: Eine marxistische Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung seit 1945).

Nach dem einmaligen Nachkriegsaufschwung geriet die Weltwirtschaft gegen Beginn der 1970er Jahre allmählich ins Stocken. Die Möglichkeiten des sogenannten „fordistischen Akkumulationsmodell“ und der eigenen internen Märkte waren langsam aber sicher ausgeschöpft, das Kapital konnte auf die bisherige Weise nicht mehr profitabel verwertet werden. Die kapitalistischen Zentrumsländer, d.h. die imperialistischen Staaten, haben sich mit zum Teil gewaltvollsten Mittel daran gemacht, sich neue Anlagemöglichkeiten zu verschaffen und ihre Profitraten zu retten. Als notwendige Antwort auf die Probleme der Überakkumulation vollzog sich eine umfassende strukturelle Veränderung der gesamten Weltwirtschaft, die als Globalisierung, ihre Methoden gemeinhin als „neoliberal“, bezeichnet werden. Der Katalog an diesen Expansions- und Umstrukturierungsmethoden der herrschenden Klasse ist zu umfassend, als dass wir hier über die einfache Erwähnung einzelner Punkte hinausgehen könnten.

Für uns sind an dieser Stelle natürlich die globalisierenden Elemente und die Herrschaftsformen der Bourgeoisien des Globalen Nordens über den Süden wichtig, weniger die internen Kampfmethoden gegen die nationale ArbeiterInnenklasse wie dem Sozialabbau oder der Zerschlagung der Gewerkschaften. Hier gilt es in erster Linie auf das Erschaffen neuer und das Aufbrechen bestehender Märkte hinzuweisen. Darin spielten die Bretton-Woods-Institutionen, der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank, eine zentrale Rolle, wobei man ohne die Unterstützung von lokalen Eliten und Diktaturen, die sich gegen die Interessen der eigenen Bevölkerung positionierten, keinesfalls ausgekommen wäre. Die oft sehr gewaltsame Landnahme durch westliche multinationale Konzerne; die Privatisierung der vormals staatlichen Industrien und des Öffentlichen, ihr Ausverkauf an die kapitalstarken ausländischen Unternehmen; die forcierte Integration der unentwickelten Landwirtschaft in den Weltmarkt, die damit verbundene Industrialisierung und Mechanisierung des Agrarsektors und die Urbanisierung schier unglaublichen Ausmasses mit entsprechender Armut und sozialen Problemen; die ebenfalls damit verbundenen Auswirkungen auf die Umwelt, die gezwungene Landflucht auf Grund von Desertifikation und Bodenverknappung; oder das sehr aktuelle Beispiel, wie die EU-Subventionierung der eigenen Landwirtschaft den afrikanischen Markt an Baumwolle und Lebensmittel überflutet und die dortigen Agrarproduzenten ausschaltet; es sind nur einige der imperialistischen Methoden der Zentrumsländer, welche die Lebens- und Gesellschaftsformen in den unterdrückten Peripherieländer komplett umgewälzt haben – ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der dortigen Bevölkerung.

Beim Grossteil der Bevölkerung dieser Länder handelte es sich um Kleinbauern, die von der Subsistenzwirtschaft lebten, also nur allfällige Überschüsse auf dem lokalen Markt verkauften. Mit der Eingliederung der Landwirtschaft in den Weltmarkt konnten viele dem Druck der internationalen Konkurrenz nicht standhalten. Sie sahen sich der eigenen Lebensgrundlage entzogen und in die Lohnarbeit gezwungen, die ihnen jedoch kaum die Möglichkeit bietet, genügend für das eigene Überleben zu verdienen. Der Umweg über den Markt und die bescheidene Entlöhnung, die dieser für die KleinbäuerInnen vorsieht, geht einher mit der Verwundbarkeit gegenüber Preisschwankungen, nicht zuletzt auch auf Grund von Nahrungsmittelspekulation. Die jüngeren Hungerkrisen in Ostafrika oder die rund zwölf Prozent der Menschheit, die heute an Hunger leidet, müssen in diesem Zusammenhang gesehen werden [16]. Diese Prozesse, ein direktes Resultat der Bewegungsgesetze des Kapitalismus und des Expansionsdrangs des Kapitals, haben die ganzen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen erschüttert und eine grundsätzliche Instabilität auf den Plan gerufen.

Es ist jedoch auch wichtig zu sehen, dass die Globalisierung im Süden in eine Situation hineinbricht, die zumindest in Afrika und Asien von der Phase der Dekolonisation charakterisiert war. Die gesamte Geschichte des Kolonialismus hatte die lokalen Strukturen bereits grundlegend verändert und die imperialistischen Interventionen begannen auch zweifelsohne nicht erst da. Allerdings hat die Globalisierung diese rücksichtslose Verwüstung des Südens noch verschärft, was, wie wir gesehen haben, daran liegt, dass der ganze Prozess der Polarisierung und die Widersprüchlichkeit des Systems sich weiter verschärft haben. Nach dem Ende des Kalten Krieges hat sich der Globalisierungsprozess nur noch weiter entfesselt, wobei sich das Entwicklungsgefälle seither nochmals enorm verstärkt hat. Durch den Wegfall der Systemkonkurrenz wurde es dem Westen politisch möglich, in seinem Umgang mit den Peripherieländern noch unzimperlicher zu werden. Die „Entwicklungshilfe“ und die „Entwicklungspolitik“, vormals ein starkes Mittel, um die Länder des Südens am Überlaufen zum Block der UdSSR zu hindern, wurden nun auf ein symbolisches Minimum reduziert. Es wurde dem Westen möglich, im Eigeninteresse und ohne lindernde Massnahmen, den Markt durchzuboxen.

Die beschriebenen Prozesse haben für einen erheblichen Teil der Weltbevölkerung Verhältnisse hervorgebracht, die ihnen das Überleben nahezu unmöglich machen. Grundsätzlich bestehen für die Betroffenen Menschen nur drei Möglichkeiten, dieser düsteren Realität zu entkommen – und alle entsprechen nicht den Erwartungen, die das kapitalistische System an sie stellt.

Die eine besteht in der Flucht. Darin also, die Verhältnisse hinter sich zu lassen und dorthin zu gehen, wo man sich ein besseres Leben verspricht. Wir möchten hier nochmals darauf hinweisen, wie viele Faktoren einer solchen Entscheidung entgegenstehen, wie hoch also die persönlichen Abstriche sind und auch darauf, dass sich schon rein finanziell nicht alle diesen scheinbaren Ausweg leisten können. Eine andere Möglichkeit stellt die politische und ökonomische Veränderung der lokalen Verhältnisse dar. Mittlerweile besteht im Süden allerdings vielerorts ein absolutes Vakuum an politischen Alternativen, erst recht an revolutionären Parteien, die eine tatsächliche Perspektive aufzeigen könnten. Die unglaubliche Schwierigkeit, den Widerstand gegen die Unterdrückung zu organisieren, hängt wiederum stark mit dessen permanenten Zerschlagung durch den Imperialismus zusammen. Seit Jahrzehnten hat der Westen fast jede auch nur annähernd fortschrittliche Regierung zu Fall gebracht, die sich gegen ihre Unterwerfung durch die Zentrumsländer gewehrt hat. Dabei stützten sich die imperialistischen Staaten immer auf diejenigen lokalen Gruppierungen, die gerade am besten ihr momentanes Interesse vertraten. Das wiederum erschüttert die Gesellschaft der betroffenen Länder noch weiter, führt allzu oft zum Zusammenbruch der staatlichen Strukturen und der gänzlichen Abwesenheit von Rechtsstaatlichkeit, was seinerseits wieder zu den zahlreichen lokalen Konflikten und Bürgerkriegen führt, die wir heute sehen müssen. Diese treibende Wechselwirkung zwischen der Schwierigkeit sich politisch zu organisieren und der Unterstützung einzelner Lokalmächte durch den Westen zur Zerschlagung bestimmter anderer Gruppierungen, führt also noch ein drittes Element in diese zerstörende Dynamik ein, die dadurch abermals verstärkt wird. Gemeint sind hier die illegalen Parallelstrukturen, die direkt aus diesen Verhältnissen entstehen und einen dritten Ausweg aus dem Elend darstellen können – diesmal jedoch auf barbarischste Weise und direkt auf Kosten der gleichermassen unterdrückten Mitmenschen.

Es sollte eigentlich nicht erwähnenswert sein, dass die „illegalen“ Organisationen, bewaffneten Gruppierungen, Gangs und all diese anderen alternativen Formen, sich durch die Profitmacherei in den „informellen“ Teilen der Wirtschaft das eigene Überleben zu ermöglichen, nur die Kehrseite der „formellen“ kapitalistischen Wirtschaft und des Imperialismus sind. Beide sind aufeinander angewiesen und stark miteinander verbunden. Nun, da der rechts-konservative Block Europas den ganzen Fokus auf die Schlepperbanden und den Menschenhandel setzt und ihre Forderungen bis in den liberalen Teil der Bourgeoisie auf grosse Unterstützung treffen, schadet es wohl dennoch nicht, explizit darauf hinzuweisen. Schlepper sind organisierte Dienstleister, die der genau gleichen Profitlogik gehorchen, wie der legale Teil der Wirtschaft. Diese barbarischen Auswüchse gehören nur zu den schlimmsten Ausdrücken eines Kapitalismus im seiner Phase des Niedergangs. Die unglaubliche Absurdität der Forderungen, als Flüchtlingshilfe (!) die Schlepperboote zu zerstören und den Kampf gegen den Menschenhandel und die Schlepper militärisch (!) zu führen, müsste nach all dem Gesagten ins Auge springen.

Die Zuspitzung der Widersprüche in der Weltwirtschaft durch die immer weitere Entwicklung der Produktivkräfte, die in der aktuellen Krise seit 2008 ihren vorläufigen Höhepunkt fand, und die damit verbundene stets erheblichere Anzahl an bewaffneten Konflikten, führten also zu den verstärkten Fluchtbewegungen, die in den letzten fünf Jahren nochmals gewaltig explodiert sind. In den vergangenen Wochen wurden wir häufig mit der Zahl des UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR konfrontiert, laut dem Ende 2013 51,2 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht waren – so viele wie noch nie seit dem zweiten Weltkrieg [17].


[16] FAO, IFAD and WFP, „The State of Food Insecurity in the World 2013. The multiple dimensions of food security“, Rome, FAO, online auf: http://www.fao.org/docrep/018/i3434e/i3434e.pdf [zuletzt aufgerufen: 21.5.2015]

[17] UNHCR, “Mid-Year Trends 2014”, online auf: http://www.unhcr.de/no_cache/service/zahlen-und-statistiken.html?cid=12025&did=10544&sechash=e10f2a23 [zuletzt aufgerufen: 14.5.2015]