Marktmechanismen und Migrationskontrollen

 

[dropcap]E[/dropcap]s sind die selben Marktmechanismen, die selben Gesetze der Kapitalakkumulation, die auf der einen Seite Elend und Krieg und damit Fluchtbewegungen produzieren und auf der anderen Seite restriktive Grenzkontrollen notwendig machen. Versuchen wir also, die beiden Aspekte so gut möglich zusammen zu betrachten, auch wenn ihre eigentliche Herausarbeitung hier nur angedacht werden kann.
Marx zeigt im „Kapital“ auf, dass die Entwicklung der Produktivkräfte ermöglicht, mit weniger Arbeitsmasse mehr Maschinerie in Gang zu setzen. Lassen wir ihn für sich selbst sprechen:

Im selben Verhältnis daher, wie sich die kapitalistische Produktion entwickelt, entwickelt sich die Möglichkeit einer relativ überzähligen Arbeiterbevölkerung, nicht weil die Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit abnimmt, sondern weil sie zunimmt…“
Karl Marx, Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie Dritter Band, MEW 25, p.232

Die Entwicklung der Produktion und der technologische Fortschritt führen zur Möglichkeit einer relativen Überbevölkerung auf dem Arbeitsmarkt, also zu dem was wir heute Arbeitslosigkeit nennen. Marx bezeichnet sie auch als „industrielle Reservearmee“. Sie ist ein notwendiges Nebenprodukt der Entwicklung der Produktion, wird dann jedoch selbst zur Voraussetzung für deren Aufrechterhaltung. Das Kapital benötigt die Arbeitslosigkeit einerseits, um die Löhne der ArbeiterInnen zu drücken und andererseits, um die Produktion weiter auszuweiten, wenn sich die Wirtschaft in einer Phase der Expansion befindet. In einer Periode des Aufschwungs greift sie auf die überzählige Bevölkerung zurück, saugt sie in den Produktionsprozess auf und stösst sie wieder aus, wenn sich die Krise anbahnt. Die Arbeitslosigkeit und die relative Überbevölkerung sind also immer relativ zu den momentanen Bedürfnissen des Kapitals. Über diese zyklischen Konjunkturschwankungen hinweg, wächst allerdings „die Arbeiterbevölkerung stets rascher […] als das Verwertungsbedürfnis des Kapitals.“ (Karl Marx, Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie, MEW 23, p.674)

Je grösser der gesellschaftliche Reichtum, […] desto grösser die industrielle Reservearmee. […] Je grösser endlich die Lazarusschichte der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto grösser der offizielle Pauperismus [d.h. die Armut]. Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation. Es wird gleich allen andren Gesetzen in seiner Verwirklichung durch mannigfache Umstände modifiziert, deren Analyse nicht hierher gehört. “
Karl Marx, Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie, MEW 23, pp.673-674

Und weiter:

Es bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend. Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Ungewissheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol.“
Karl Marx, MEW 23, p.675

Marx weist auch da schon darauf hin, wie sich in diesem Prozess auch räumlich eine Polarisierung vollzieht, darauf also, wie in den „Zentren der modernen Industrie […] im grossen und ganzen die Beschäftigung zunimmt“, während sich die relative Überbevölkerung auf dem Land durchsetzt: „Der Landarbeiter wird daher auf das Minimum des Salairs [des Lohns] herabgedrückt und steht mit einem Fuss stets im Sumpf des Pauperismus.“ (MEW 23, pp. 670-671) Beginnen wir nun, dieses Gesetz global zu denken – mit der ganzen gesellschaftlichen Entwicklung, die sich seit Marx’ Zeiten vollzogen hat, im Hinterkopf. So sehen wir: auf der einen Seite die traditionellen industriellen Zentrumsländer der kapitalistischen Weltwirtschaft, die sich jedoch in den letzten drei Jahrzehnten teilweise wieder desindustrialisiert haben (USA/Kanada, Westeuropa, Japan/Ostasien); die wenig industrialisierten und landwirtschaftlich geprägten Peripherieländer auf der anderen Seite; und schliesslich in verschiedenem Ausmass die aufstrebenden „Schwellenländer“ wie unter anderem die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) dazwischen. Letztere sind zwar weiterhin der Dominanz des Finanzkapitals der traditionellen Zentrumsländer unterworfen, allerdings hat eine durchaus brutale Industrialisierung sie zu neuen industriellen Zentren gemacht, „wo im grossen und ganzen die Beschäftigung zunimmt“ und folglich auch eine erhöhte Nachfrage nach immigrierter Arbeitskraft besteht. So ist der Bedarf der Kapitalisten Europas, auf von ausserhalb zugewanderte ArbeiterInnen zurückzugreifen mittlerweile auch nur noch bedingt relevant: längst besteht auch innerhalb Europas wieder eine ausreichende industrielle Reservearmee – wie wir noch sehen werden, ist dies ein zentraler Aspekt, um die Abschottung Europas zu erklären. In der Tat spielt sich heute der mit Abstand wichtigste Teil der weltweiten Migration innerhalb Chinas ab, wo die Menschen auf ihrer Suche nach Arbeit bereits seit Jahren massenweise aus den ruralen Gebieten im Landesinnern an die urbanen Küsten ziehen. Im Jahr 2014 arbeiteten rund 274 Millionen chinesische MigrantInnen ländlicher Herkunft in Chinas Städten, was mehr als der Hälfte der gesamten Bevölkerung der EU entspricht [12]. Der Umfang der Binnenmigration Chinas ist heute im Grossen und Ganzen identisch mit dem Umfang der Internationalen Migration [13].

Im Bezug auf das obige Marx-Zitat ist es ausserdem wichtig, bei diesem Verhältnis zwischen der relativen Überbevölkerung und der Löhne nachzuhaken und nicht einzig in den beiden Kategorien Arbeitslose und Beschäftigte zu denken. Die erhöhte Konkurrenz durch den Anstieg der relativen Überbevölkerung ermöglicht diese Ausdifferenzierung zu verschiedensten Abstufungen nach Löhnen; sie ermöglicht, dass der Grossteil der weltweiten Bevölkerung nicht arbeitslos ist, jedoch in oder am Rande der Armut lebt. Unverkennbar sehen wir heute, wie fest sich diese Anhäufung von Reichtum auf dem einen und Elend auf dem anderen Pol auf globalem Massstab verwirklicht hat.

Auch wenn sich Migrationsbewegungen selbstverständlich nicht alleine auf das Materielle zurückführen lassen und auch hier wieder starke Gegenimpulse bestehen, so bleibt dennoch plausibel, dass die Menschen durch den freien Markt der Ware Arbeitskraft dahin gebracht würden, wo eine höhere Nachfrage nach ihr besteht – in die Zentrumsländer und dort wiederum in die städtischen Zentren. Diesen freien Markt immer noch vorausgesetzt, würde das wiederum dazu führen, dass sich dort die Konkurrenz erhöht, entsprechend die Löhne sänken und die Armut stiege. Zwar ist der Kapitalist an möglichst tiefen Löhnen interessiert, jedoch nicht an der massiven Arbeitslosigkeit und der Armut vor den Türen seines Unternehmens. Ende des 19. Jahrhunderts war dieses Phänomen in den sich industrialisierenden westeuropäischen Ländern zu beobachten. Die Landbevölkerung migrierte in Massen in den städtischen Raum, was das Überleben des Kapitalismus ernsthaft gefährdete: Die „soziale Frage“ entblösst die Interessensgegensätze zwischen Kapitalisten und LohnarbeiterInnen egal welcher Herkunft.

Der freie Markt an Arbeitskraft bedeutet also, dass die Kapitalisten selbst keine Kontrolle darüber haben, wo die Arbeitskraft hingebracht wird. Getrieben durch die Profitlogik des Marktes an sich, sind sie permanent dazu bestrebt, diesen Markt, der ihnen mal dienlich, mal hinderlich sein kann, einzuschränken und nach den eigenen Interessen zu regulieren. Menschliche Bewegungsfreiheit – nach den liberalen Prinzipien der Menschenrechtserklärung ein absolutes Grundrecht – auf der einen Seite, Bewegungsfreiheit des Kapitals auf der anderen. Für jeden Bürgerlichen ist klar, auf welche Seite seine Wahl fällt. Der Liberalismus beginnt an dieser wie an anderen Stellen, gefangen in den eigenen Widersprüchen seines unumstösslichen Glaubens an den Markt, sich selbst und alle anderen zu belügen.

Immigrationskontrollen, also die Einschränkung der menschlichen Bewegungsfreiheit durch Grenzmechanismen, müssen in diesem Licht gesehen werden. Wir haben gesehen, dass die Überbevölkerung immer relativ zu den momentanen Bedürfnissen des Kapitals ist und die Kapitalisten zur Sicherung ihres eigenen Profits so gut wie möglich die Kontrolle über die Zufuhr von Arbeitskraft erlangen müssen. Hier tritt der Staat als Verteidiger der nationalen Kapitalinteressen auf den Plan [14]. Er steuert die Immigration nach den momentanen Bedürfnissen des Kapitals. In einer Boomphase wird der nationalen Wirtschaft ausländische Arbeitskraft hinzugefügt, die nachfragegesteuerte Migration kaum eingeschränkt oder gar gefördert. In einer Baisse wird geschaut, dass die Immigration verhindert werden kann, damit die inländische Arbeitslosigkeit nicht noch höher wird. Grenzkontrollen und Migrationsmanagement wie es sie erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts gibt, sind also in erster Linie ein Mittel der herrschenden Klasse zur Regulierung der Zufuhr von Arbeitskraft in eine nationale Wirtschaft. Die Schweiz stellt hier sicherlich eines der musterhaftesten Beispiele dar. Nachdem ausländische ArbeiterInnen bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges zum Katalysator der wirtschaftlichen Entwicklung wurden, antwortete der Bundesrat im Jahr 1934 mit der Einführung des Saisonnierstatuts auf die Weltwirtschaftskrise. Die rund 200’000 Gastarbeiter schliesslich, die während des Aufschwungs der knapp drei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg die Kapitalakkumulation vorantrieben und mit dem Ausbruch der Krise 1973 wieder herausgeschmissen wurden, zeigen die Funktion von Migrationskontrollen und deren Zusammenhang mit der Konjunktur anschaulich auf [15].

Im Keim ist also in dem von Marx beschriebenen „absoluten, allgemeinen Gesetz des Kapitalismus“ bereits die ganze Widersprüchlichkeit enthalten, die auf die Polarisierung von Reichtum und Elend in seiner räumlichen Zentrum-Peripherie-Dimension hinausläuft. Migration, ein Nebenprodukt dieser Polarisierung, wird zu einer Gegentendenz der immer krasseren Anhäufung von Reichtum durch einige Wenige an bestimmten Orten und vom Elend der Restlichen an den übrigen Orten, indem diese räumliche Polarisierung zumindest teilweise umgangen werden soll. Wenn das Interesse der Nationalstaaten darin besteht, den Reichtum innerhalb der eigenen Grenzen weiter anzuhäufen und sich die politischen Gefahren der damit verbundenen sozialen Kollateralschäden möglichst vom Leib zu halten, so erstaunt kaum, dass versucht wird, diese Gegentendenz mit Grenzmechanismen unter Kontrolle zu bringen.

Seit den hier beschriebenen Migrationsregulierungen bis in die Nachkriegszeit musste jedoch noch viel passieren, dass wir heute auf der einen Seite Migrationsströme und auf der anderen Seite eine Abschottung und Grenzsicherung diesen Aussmasses beobachten müssen. Bis in die frühen 1980er Jahre bestand für die herrschende Klasse Europas auch noch kein „Immigrationsproblem“, tatsächlich handelte es bis kurz davor um einen Emigrationskontinent. Das Auseinanderklaffen von angehäuftem Reichtum auf der einen und von Elend und Ungewissheit auf der anderen Seite hat jedoch mittlerweile eine Dimension erreicht, die es schwierig macht, die Grenzen noch als Mittel zur Regulierung der Zufuhr von Arbeitskraft zu erkennen. Wie wir gesehen haben, sind die Grenzen um Europa heute für den Grossteil der Menschen geschlossen. Sehen wir uns kurz an, wie es dazu kommen konnte.


[12] China Labour Bulletin, „Migrant Workers and their Children“ , online auf: http://www.clb.org.hk/en/content/migrant-workers-and-their-children [zuletzt aufgerufen: 21.5.2015]

[13] Bettina Gransow, „Binnenmigration in China – Chance oder Falle?“, Bundeszentrale für politische Bildung, online auf: http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/151241/binnenmigration-in-china [zuletzt aufgerufen: 21.5.2015]

[14] Staaten innerhalb des Kapitalismus sind in erster und schliesslich auch in letzter Linie da zur Verteidigung des nationalen Kapitals. Dazwischen schieben sich zwar verschiedene Vermittlungsebenen, Ziel und Zweck des Staates bleibt allerdings das „Wohlergehen“ der nationalen Wirtschaft. In dieser Rolle entwickelt sich der Staat notwendigerweise zu einem Körper, der primär an seiner Selbsterhaltung und folglich seiner eigenen Sicherheit interessiert ist. Damit setzt der Staat sich über den Klassengegensatz, der ihn hervorgebracht hat, braucht für das eigene Überleben notwendigerweise die Aufrechterhaltung dieses Klassengegensatzes, verfestigt diesen und muss entsprechend, um das eigene Überleben zu sichern, auch in letzter Linie die Interessen des nationalen Kapitals vertreten.

[15] Toni Lienhard, „Schweizer nennen sie Fremdarbeiter“, DIE ZEIT vom 29.6.1973, online auf: http://www.zeit.de/1973/27/schweizer-nennen-sie-fremdarbeiter/ [zuletzt aufgerufen: 21.5.2015] Für eine kurze Übersicht über die Migration und Migrationspolitik in der Schweiz, vgl: Gianni D’Amato, «Historische und soziologische Übersicht über die Migration in der Schweiz», Schweizerisches Jahrbuch für Entwicklungspolitik, Band 27, Nr. 2, 2008, online auf: http://sjep.revues.org/340 [zuletzt aufgerufen: 14.5.2015]