Eine Erklärung der Abschottung entwickeln

Wer Migriert

[dropcap]W[/dropcap]enn wir die Flüchtlingsströme in ihren Dimensionen erfassen wollen, so gilt es zu allererst darauf hinzuweisen, dass nur ein kleiner Bruchteil der Vertriebenen Europa als Ziel ansteuert. Im Jahr 2013 flohen nach Angaben des UNHCR 86% in Entwicklungsländer, wobei über die Hälfte von ihnen aus Afghanistan, Syrien und Somalia kommt [9]. Die wichtigsten Zielländer sind für die Flüchtlinge in der Regel die Nachbarländer. Mit 1,6 Millionen afghanischen Flüchtlingen führt Pakistan die Liste der Gastländer an – vor dem Iran, dem Libanon und Jordanien. Die meisten (33,3 Millionen) blieben jedoch als Binnenflüchtlinge innerhalb der Landesgrenzen, insbesondere in Syrien, Kolumbien, der Demokratischen Republik Kongo, dem Sudan und Südsudan sowie der Zentralafrikanischen Republik und Mali. Auch wenn man Flüchtlinge in einem breiteren Sinn versteht als das UNHCR, so lässt sich festhalten, dass der mit Abstand wichtigste Teil der internationalen Migration innerkontinental und regional ist. Europa stellt dabei höchstens ein Nebenschauplatz dar. Was die überregionale Migration betrifft, so führt der wichtigste Strom der letzten Jahren von Asien (insbesondere aus Indien, Pakistan und Bangladesh) in die Öl-reichen Golfstaaten [10].

Der verhältnismässig kleinere Teil der Migration nach Europa konnte jedoch mit der Abschottung an den Aussengrenzen keineswegs verhindert werden. Ganz grundsätzlich lässt sich sagen, dass jeder Schritt innerhalb dieser restriktiven Migrationspolitik stets nur dazu geführt hat, dass sich die Migrationsrouten nach Europa und die Transportmethoden verändert, die Ströme sich, je nach Repression und Überwachung, verlagert und angepasst haben. Im Jahr 2010, noch vor den Arabischen Revolutionen und vor Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs, schätzte Frontex, dass über 80% der irregulär einreisenden Flüchtlinge aus dem Osten über die türkisch-griechische Grenze nach Europa gelangten. Damals war der grösste Teil noch aus Afghanistan, dem langjährigen Spitzenreiter, was die Anzahl der Flüchtlinge angeht. Mittlerweile führt die Hauptroute von Libyen aus über das Mittelmeer nach Italien und Malta. Rund 60% der irregulären Immigration verlief im Jahr 2014 laut Frontex über diese Route, auf der alleine im Monat April geschätzte 1’300 Menschen starben [11]. Insgesamt hat die Grenzschutzagentur im vergangenen Jahr rund 280’000 illegale Grenzübertritte nach Europa ausgemacht, was das Doppelte des vorherigen Rekordjahrs 2011 bedeutet. Mit 79’169 Menschen stammt der Grossteil (28%) von ihnen aus dem bürgerkriegserschütterten Syrien. Da die kürzeste Landroute über die Türkei nach Griechenland mittlerweile durch eine Mauer verschlossen ist, nehmen viele SyrerInnen den Umweg über Ägypten nach Libyen und die längere Überfahrtstrecke in Kauf. Nach den SyrerInnen kamen laut Frontex mit rund 34’500 am zweitmeisten Menschen aus Eritrea „illegal“ über die europäischen Grenzen; gefolgt von 22’000 aus Afghanistan. Mit 26’340 Menschen gelangten ausserdem 15% aus dem subsaharischen Afrika über die zentrale Mittelmeerroute nach Europa.

Vor diesem Hintergrund ist eindeutig, dass das Flüchtlingssterben im Mittelmeer eng mit der Abschottung Europas zusammenhängt. Wenn wir nun die Gründe für die Entstehung der „Festung Europas“ zu verstehen versuchen, um wirkliche politische Handlungsmöglichkeiten zu ergründen, so sollten wir uns von einigen grundsätzlichen Fragen leiten lassen. Angefangen mit der Frage, wodurch Migration verursacht wird. Eine Vielzahl soziologischer Theorien und Modelle versuchen, darauf eine Antwort zu geben. Doch das Offensichtliche haben sie alle gemein und es ist unnötig, hier darüber hinaus zu gehen. Unterschiedliche Lebensperspektiven an Herkunfts- und Zielort führen zu Wanderungsbewegungen der Menschen. Auf keinen Fall sollte jedoch vernachlässigt werden, dass die Emigration selbst mit erheblichen Kosten verbunden ist. Es braucht unglaublich viel, seine Heimat zu verlassen. Zentral sind somit alle Faktoren in ihrer räumlichen Ebene, die ein lebenswerte Existenz ermöglichen oder verhindern. Dass also das enorme globale Wohlstandsgefälle – Wohlstand hier im breiten, nicht rein wirtschaftlichen Sinne – zu internationaler Migration führt, sollte für alle fassbar sein. Ebenso, dass Kriege und bewaffnete Konflikte den Höhepunkt einer so misslichen Situation darstellen, welche die Existenz an sich erschwert (was sich, wie wir oben gesehen haben, auch in den Zahlen über die Herkunft der Flüchtlinge niederschlägt). Die willkürliche und politisch äusserst kontraproduktive Unterscheidung zwischen einerseits Flüchtlingen, die nach Definition der Genfer Konvention – wegen Verfolgung auf Grund von Rasse, Religion, Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischer Überzeugung – ein Anrecht auf Asyl haben und andererseits den restlichen MigrantInnen, werden wir hier übrigens nicht aufrechterhalten. Es handelt sich qualitativ um das genau gleiche Phänomen, wobei einzig das Ausmass und die Intensität der Fluchtgründe sie unterscheidet. Entsprechend werden die Begriffe hier synonym verwendet.

Dieser erste Punkt führt uns direkt zur zweiten Frage: warum hat die erzwungene Migration in den letzten drei Jahrzehnten immer stärker zugenommen? In Verbindung mit der kurzen Antwort auf die erste Frage wird klar, dass der Anstieg der weltweiten sozio-ökonomischen Ungleichheit und der existentiellen Unsicherheit in den peripheren Ländern sowie die aktuelle Vielzahl der lokalen Konflikte und Krisenherde zu diesem Anschwellen der Fluchtbewegungen geführt haben. Diese zweite Frage muss demnach mit der Frage verknüpft werden, weshalb sich diese wachsenden globalen Kontraste herausgebildet haben und wie die immer häufigeren bewaffneten Konflikte im Globalen Süden damit in Verbindung stehen.

Drittens sollte uns die Frage beschäftigen, wieso Europa – wie übrigens auch die anderen Kernregionen des Weltwirtschaftssystems – mit Abschottung auf die Herausforderung der Migrationsströme reagiert. Wem ist eine Abschottung dienlich und warum ist ein Kontinent mit über einer halben Milliarde Einwohnern nicht gewillt, einigen wenigen Millionen – verteilt über Raum und Zeit – Einlass zu gewähren? Folgende noch zu beweisende These sei hier vorweggenommen: In der bedingungslosen Verteidigung ihrer eigenen Interessen lässt die Systemlogik der herrschenden Klasse, die das Grenzregime bestimmt, nur bedingt Raum für einen wirklich alternativen Umgang mit der Migration. Der Kapitalismus entzieht sich permanent seiner eigenen Grundlage. Er hat den Menschen und seine Arbeitskraft zur Ware gemacht, doch kann sich das ohnehin schon angeschlagene politische und ökonomische Fundament des Kapitals das freie Spiel des Marktes und der menschlichen Bewegung hier nicht leisten.

Wenn wir hier nun vorerst davon ausgehen, dass sich diese These ohne Weiteres bestätigen lässt, sehen wir, dass auch die zweite und die dritte Leitfrage zusammengehören. Die Migrationspolitik ist den Profitinteressen des Kapitals unterstellt und wird diesen entsprechend angepasst. In dieser Logik sind die wenigen Profiteuren eines maroden kapitalistischen Systems dazu bestrebt, sich gewaltvoll vor den Konsequenzen und dem Elend der von ihnen getragenen Marktmechanismen zu verschliessen. Die Stärke der Gewalt, mit der Europa seine Festung verteidigt, ist also mit ein Zeichen einer eigenen, verborgenen Schwäche. Sie macht Grenzen und Abschottung notwendig, hält die eigens kreierten Probleme gewaltsam von sich fern und überdeckt damit nur ihr eigenes unüberwindbares Ungleichgewicht.


[9] Eine anschauliche Darstellung der Daten des UNHCR findet sich hier: http://info.arte.tv/de/nie-zuvor-gab-es-so-viele-fluechtlinge-und-vertriebene [zuletzt aufgerufen: 17.5.2015]

[10] Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital, „Global Data Sheet 2005-2010“, online auf: http://www.global-migration.info/VID_Global_Migration_Datasheet_web.pdf [zuletzt aufgerufen: 17.5.2015]

[11] Frontex, „Annual Risk Analysis 2015“, online auf: http://frontex.europa.eu/assets/Publications/Risk_Analysis/Annual_Risk_Analysis_2010.pdf [zuletzt aufgerufen: 17.5.2015]