Abschottung Europas: das europäische Grenz- und Migrationsregime

Grenzregiem[dropcap]L[/dropcap]eiten wir unsere tiefste Empörung, Trauer und Wut nun in rationale Kanäle und fragen wir uns mit der obligaten Nüchternheit einer jeden marxistischen Analyse, wie und weshalb es zu solchen Tragödien im Mittelmeer kommen kann. Dabei ist es offensichtlich und wurde bereits vielerorts erwähnt, dass die Abschottungspolitik der EU, inklusive Schweiz, die direkteste Ursache darstellt. Schauen wir uns also kurz und ohne den geringsten Anspruch auf Vollständigkeit an, worin das europäische Grenz- und Migrationsregime besteht, um danach in die tieferen gesellschaftlichen Prozesse einzutauchen, die eine solche Festung Europa hervorgebracht haben. Es ist klar, dass eine umfassende Analyse der zugrundeliegenden Dynamiken Bücher füllen würde und hier nur angerissen werden kann. Dennoch wird uns eine kurze Einordnung der europäischen Abschottung in ihren historisch-strukturellen Kontext erlauben, den Sachverhalt zu politisieren. Sie wird uns erkennen lassen, dass von der herrschenden Klasse Europas selbst keine Veränderung ausgehen wird, wenn sie sich nicht unter erheblichen Druck gesetzt sieht.

Während im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts stückweise die inneren Grenzen abgebaut wurden, hat sich, beinahe mit umgekehrter Proportionalität, eine ebenso stückweise Verfestigung der Aussengrenzen vollzogen. Ab den 1980er haben die europäischen Staaten auf nationaler wie auf supra-nationaler Ebene nach und nach die Bestimmungen für die Immigration von ausserhalb verschärft. Die immer restriktiver werdende Einwanderungspolitik wurde begleitet und legitimiert von einer ihrerseits zunehmend dominanten Rhetorik von riesigen Flüchtlingsströmen, die Europa zu überschwemmen drohten. Diese Darstellung und Wahrnehmung der Immigration als einer Gefahr für die innere Stabilität und die inneren Wertesysteme führten dazu, dass die Migrationspolitik über weite Strecken zur Domäne der Sicherheitspolitik wurde und sich mehr und mehr auch deren klassischen Methoden zu bedienen begann. Die Abschottung Europas als „Verteidigungsstrategie“ wurde folglich zum Hauptcharakteristikum des europäischen Migrationsregimes, begleitet einerseits von der Auslagerung des Flüchtlingsproblems durch eine möglichst weite Vorverlagerung der Grenzen und andererseits durch die Abschiebung der sogenannten „illegalen Einwanderer“. Politische Praxis war und ist, die Unerwünschten am Kommen zu hindern und diejenigen von ihnen, die dennoch in die Festung eindringen konnten, unter anderem auf Basis von Rückführungsabkommen wieder abzuschieben.

Das Schengener Abkommen, seit 1995 in Kraft (seit 2008 für die Schweiz), hat die Einreisebestimmungen für alle Nicht-Mitgliedsstaaten gemeinsam geregelt. Mit einem Schlag wurde die vormals legale Einwanderung aus ganzen Weltregionen illegalisiert. Gesiebt durch eine pauschale Diskriminierung nach Herkunft, hinderte die Visa-Politik der Schengen-Staaten die Unerwünschten nunmehr gleich an der Abreise. Zur effektiven Umsetzung dieser Vorverlagerung der europäischen Grenzen an die Flughäfen der „dritten Welt“ wurde nichts unversucht gelassen – von der logistischen Hilfe europäischer Behörden bei den strikten Kontrollen an den Herkunftsflughäfen über harte Sanktionen für Transportunternehmen, die Menschen ohne ausreichende Reisebefugnisse befördern [5]. Wer einigermassen klar denken kann, wird sehen, dass die logische Folge dieser Politik darin besteht, dass die Flüchtlinge ihre Reise nun auf einem längeren, illegalen Weg antreten müssen – einem lebensgefährlichen Umweg, bei dem sie auf kriminelle Banden und brutale Schlepperorganisationen angewiesen sind. Eine Lösung der Flüchtlingsproblematik stellt dies freilich nicht dar. Aber Europas Problem sind schliesslich auch nicht die Flüchtlinge, sondern die Flüchtlinge vor Europas geschlossenen Pforten. Von Nigeria und Afghanistan nach Europa ist ein weiter Weg und bis dahin wird sich das Problem wohl von selbst gelöst haben.

Gleichzeitig – auch das sollte erwähnt werden – wird Fachkräften und Menschen aus andern kapitalistischen Zentrumsländern, also jenen, die in einer rassistisch hierarchisierenden Logik als „nützlich“ eingestuft werden, keinerlei Hürden zur Einwanderung auf den Weg gelegt. Geschieht der Einreisewunsch auf Anfrage aus dem Innern Europas, von einem Unternehmen oder einer Hochschule, werden die Reise- und Aufenthaltsbefugnisse zu nicht mehr als einer kleinen bürokratischen Formalität. Legitimiert wird diese Politik durch einen Diskurs, demzufolge der Wohlstand jedes Arbeiters in Europa gegen die Begehrlichkeiten von aussen verteidigt werden muss. „Es wäre ja schön und nett, doch wir können nicht alle reinlassen, da wir sonst alle ärmer würden“, so das wohlbekannte Argumentationsmuster.

Doch die Illegalisierung des Reisens und Einreisens für über 80% der Weltbevölkerung [6] ist nur die erste und unterste Schwelle, die unsichtbarste der verschiedenen geschlossenen Grenzen vor Europa. In ihrem völligen Einklang mit dem Staatsfetisch und dem unbewussten Rassismus in der westeuropäischen Gesellschaft, bröckelt ihre Legitimität noch nicht einmal an der Fassade. Die Existenz dieser Grenze durch die ausschliessende Visums-Politik wird heute nicht im Geringsten in Frage gestellt, ja fast schon als natürlich gegeben akzeptiert [7]. Dahingegen wurde mittlerweile fast schon zum Common Sense, dass die Dubliner Übereinkommen massgeblich für die Brutalität bei der Sicherung der europäischen Aussengrenzen mitverantwortlich sind. Die vielkritisierte Drittstaatenregelung, wonach der Flüchtling nur noch einen Asylantrag für alle Mitgliedsstaaten stellen kann und die Verantwortlichkeit bei jenem Land liegt, in dem das Gesuch gestellt wurde, führte direkt zu einer Verschärfung und Militarisierung der Abschottung. Die europäischen Staaten, deren Territorium die Flüchtlinge aus einfachen geographischen Gründen in der Regel als erstes betreten – Spanien, Italien, Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Slowakei, Ungarn und Polen – verhindern mit härtesten Mittel, dass die Migranten überhaupt ins Land kommen. Gelingt dies nicht, sind sie – sofern sie die Verträge einhalten – gezwungen, das Asylgesuch zu prüfen, dürfen die Flüchtlinge folglich nicht mehr ins europäische Innern weiterschieben. Dementsprechend setzen die Aussenstaaten auf eine brutale Abschreckungsstrategie, um für die Flüchtlinge „nicht mehr anziehend zu wirken“. Folter und überfüllte Flüchtlings- und Ausschaffungslager in Griechenland, unterlassene Hilfeleistung und Rückweisungen auf offenem Meer in Italien, tödliche Stacheldrahtzäune in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla. Diese wenigen erwähnten Einzelbeispiele haben sich in den letzten paar Jahren zu einer fast lückenlosen Mauer verallgemeinert. Auch hier sind die verheerenden Folgen, dass die Flüchtlinge einen immer weiteren, immer gefährlicheren Weg nehmen müssen. Sowohl die Ertränkten vor Lampedusa wie auch die nun Ertränkten vor Libyen sind Opfer dieser Strategie. Das ist der zu oft verschwiegene Teil in der mittlerweile lautstarken Kritik an den Dublin-Verordnungen. Wenig erstaunlich, folgen auch die EU-internen Zankereien darüber einer durchaus erbärmlichen Logik: es ist ein einziges Geheul über die ungerechte Verteilung der „Last der Flüchtlinge“ auf die verschiedenen Mitgliedsstaaten, ohne jeglichen Blick auf die eben beschriebenen Folgen für die Flüchtlinge selbst.

Hier liegt, für alle ersichtlich, offen, inwiefern es sich bei der EU nicht um einen einheitlichen Block handelt. Vielmehr ist die gesamte Europäische Integration ein Konstrukt, das von Beginn weg auf Machtasymmetrien und gegensätzlichen Interessen gebaut war. Mit dem Dublin-System hat die deutsche Bourgeoisie, vor allem unter Schröder, ihr Interesse durchsetzen können. Um sich den „Kosten“ der Flüchtlinge bestmöglich zu entziehen, haben sich die anderen nationalen Regierungen also einerseits gegenseitig zu immer noch restriktiveren Migrations- und zu immer noch repressiverer Grenzpolitik hochgeschaukelt. Andererseits hebeln verschiedene Mitgliedsstaaten das Vertragswerk aber auch nach Belieben aus, wobei sich allen voran Italien in dieser Hinsicht zu einer wahrhaftigen Spezialistin entwickelt hat. Schon länger haben die italienischen Behörden begonnen, den Flüchtlingen Aufenthaltserlaubnisse auszustellen, die ihnen die legale Weiterreise im Schengen-Raum erlaubte. Jüngst sind sie, ebenfalls unter Missachtung der Dubliner Verträge, dazu übergegangen, die Identität der Flüchtlinge gar nicht erst zu kontrollieren und die „Illegalen“ einfach Richtung Norden weiterziehen zu lassen.

Allerdings ist die Brutalität an den Aussengrenzen und die Abschottung Europas auch nicht einzig dem nationalen Handeln im Rahmen der Dubliner Verträge geschuldet. Viel wichtiger ist umgekehrt, dass sich das Dublin-System selbst in die Dynamik der Europäischen Integration einschreibt, die von den Kapitalinteressen der mächtigsten nationalen Bourgeoisien (namentlich Frankreich und Deutschland) massgeblich bestimmt wurde. Die damit verbundene Schaffung eines gemeinsamen Marktes und der Fall der inneren Grenzen machte auch die Europäisierung der Aussengrenzsicherung notwendig, die gleichermassen für die Abschottung verantwortlich ist. In dieser Europäisierung sind zwei Säulen entscheidend, die es hier unbedingt kurz zu erwähnen gilt. Dies deshalb, weil alles darauf hindeutet, dass die vermeintlichen Lösungsansätze der Flüchtlingsproblematik durch die hohe Politik in der nächsten Zeit auf ihre weitere Verstärkung hinauslaufen wird – ohne dass die einzelnen Mitgliedsstaaten jedoch aufhören werden, selbst gegen die Europäisierung zu handeln, wenn diese ihrem nationalen Interesse widerspricht.

Die eine Säule könnte man als Grenzschutz durch Kooperation mit Drittstaaten umschreiben. Die Logik dahinter besteht darin, mit aussereuropäischen Staaten Verträge auszuhandeln, um die Flüchtlinge möglichst fern zu halten oder Rückschiebungen zu ermöglichen. Bereits beim EU-Gipfel in Sevilla im Jahr 2002 wurde beschlossen, die Entwicklungshilfe an die Bereitschaft der Drittstaaten zur Verhinderung der Emigration zu knüpfen. Seit Beginn der 2000er Jahre sind viele solche „Fördergelder“ geflossen, entweder direkt durch die EU oder auf Basis bilateraler Verträge. Wirtschaftsabkommen mit Tunesien unter Diktator Ben Ali gegen Bau von Aufnahmelagern oder Material- und Technologielieferungen sowie „Sicherheitsprojekte“ von hunderten von Millionen Euro im Libyen des Muammar Al-Gadaffi – das sind nur die prominentesten Beispiele einer weit fortgeschrittenen Strategie, wobei ein erheblicher Aspekt auch die technische Zusammenarbeit und die gemeinsame Informationssammlung betrifft. Bis zu den Arabischen Revolutionen waren die nordafrikanischen Diktaturen die effizientesten Wächter der Festung Europa. Die Brutalität und die Menschenrechtsverletzungen, derer sie sich dabei bedienten, sind dort nicht mehr Europas Problem. Selbsterklärend hat sich die Situation seit 2011 und der Zerbombung Libyens durch die NATO-Streitkräfte verändert. Während das alte Problem nicht gelöst wurde, ist ein neues entstanden. Wenn staatliche Strukturen von aussen zerschlagen werden, ohne dass sich im Innern bereits ausreichend starke Kräfte mit eigenen gesellschaftlichen Strukturen entwickelt haben, so versinkt ein Land nur weiter in der Instabilität. Worauf eine solche Intervention hinauslaufen musste, war allen klar, die sich jemals mit Staatlichkeit auseinandergesetzt haben – also auch den Verantwortlichen in Brüssel und Washington. Doch das Kapital folgt seiner eigenen Rationalität, weitab von der Vernunft. Libyen befindet sich jetzt im Bürgerkrieg und im kompletten Chaos, faktisch mit zwei Regierungen und mit verschiedensten konkurrierenden Milizen. Auch wenn die EU zum Grenzschutz natürlich mit den verschiedenen neuen Lokalmächten zu kooperieren versucht hat, ist klar, dass der Zusammenbruch des Staates kaum mehr Möglichkeiten bietet, die Flucht über das Mittelmeer zu verhindern. Was die jetzigen europäischen Forderungen nach einer Stabilisierung Libyens wieder bedeuten mögen, sollte man sich gar nicht erst ausmalen.

Die andere Säule in der Europäisierung der Aussengrenzsicherung betrifft die Aktivitäten der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Seit ihrer Gründung im Jahr 2004 wurde sie zum immer zentraleren Akteur in der Abschottung Europas. Frontex koordiniert und vereinheitlicht den nationalen Grenzschutz, perfektioniert die Sicherung an den Aussengrenzen, entwickelt neue Praxen und trägt einen erheblichen Teil zu ihrer Militarisierung bei [8]. Sie hat ein schier unglaubliches Überwachungssystem auf die Beine gestellt, welches – höchst technologisiert – ermöglicht, die Flüchtlingsbewegungen zu erfassen und damit effizient zu verhindern, dass die Unerwünschten die Grenzen passieren. Auch hier ist das eigentliche Ziel, das Problem möglichst weit auszulagern und zu verhindern, dass die Boote überhaupt ablegen.

Wir sollten uns immer vor Augen halten, was diese Praxis tatsächlich bedeutet, wenn ihre Durchsetzung erfolgreich ist. In der nächsten Zeit wird noch mehr Geld in den Ausbau dieser beiden Säulen, der verstärkten Überwachung und Koordination durch Frontex einerseits und der Kooperation mit Drittstaaten andererseits, gesteckt werden, wobei die Urheber dieser Politik es sich einfach machen, dies zu rechtfertigen: Durch Kooperation mit und „Entwicklungshilfe“ für afrikanische Länder würde das Flüchtlingsproblem bei den Ursachen angegangen; in Verbindung mit dem Ausbau des Informations- und Überwachungssystems von Frontex würden Schlepperbanden bekämpft und somit verhindert, dass die Flüchtlingsboote in See stechen – folglich würden die Flüchtlinge vor dem Ertrinken gerettet. Doch damit werden keine Leben gerettet; im besten aller Fälle wird das Sterben verhindert. Was es für ein Menschenleben bedeutet, in einem Auffanglager in Nordafrika zu landen oder in die Fänge von barbarischen Milizen zu geraten, ist scheinbar irrelevant. Es spielt sich in der höchst unfruchtbaren, dürren Gegend des Nicht-Seins ab, die sich hier auch räumlich denken lässt.


[5] Vgl. hierzu: Christoph Marischka, „FRONTEX – Das Nachrichtendienstliche Vorfeld “, in: Frontex – Widersprüche im erweiterten Grenzraum, herausgegeben von der Informationsstelle für Militarisierung, August 2009.

[6] Frontex, „Annual Risk Analysis 2015“, online auf: http://frontex.europa.eu/assets/Publications/Risk_Analysis/Annual_Risk_Analysis_2010.pdf [zuletzt aufgerufen: 17.5.2015]

[7] Vgl.: Fabian Georgi, „Was ist linke Migrationspolitik?“, Zeitschrift Luxemburg, online auf: http://www.zeitschrift-luxemburg.de/was-ist-linke-migrationspolitik/ [zuletzt aufgerufen: 21.5.2015]

[8] Vgl. hierzu: Bernd Kasparek, „Von Grauzonen und Legalisierungen der anderen Art“, in: Frontex – Widersprüche im erweiterten Grenzraum, herausgegeben von der Informationsstelle für Militarisierung, August 2009.