„Ein Gespenst geht um in Europa.” Mit diesem Satz verkündeten die Autoren des Kommunistischen Manifests den Beginn einer neuen Etappe in der Menschheitsgeschichte. Das war 1848, ein Jahr der revolutionären Umbrüche in Europa. Aber jetzt geht nicht nur in Europa ein Gespenst um, sondern in der ganzen Welt. Es ist das Gespenst der Weltrevolution.

Die Weltrevolution ist nicht nur eine leere Phrase. Sie beschreibt genau die neue Phase, in die wir eintreten. Wir müssen nur die Ereignisse der letzten 12 Monate betrachten Revolutionäre Umwälzungen brachen in Frankreich, Iran, Sudan, Algerien, Tunesien, Hongkong und Chile aus und Proteste gegen die Regierung erschütterten Haiti, Ecuador, Irak und Libanon, wo die Massen auf die Strasse gingen und Generalstreiks das Land lahm legten.

In Frankreich überraschte die Bewegung der Gilets Jaunes alle. Vor diesem Massenaufstand schien alles nach Plan zu laufen für das „politische Zentrum“ in der Person von Emmanuel Macron. Seine Reformen (in Wirklichkeit Gegenreformen) verliefen reibungslos. Die Gewerkschaftsführer verhielten sich verantwortungsbewusst (d.h. sie kapitulierten). Dies wurde unhöflich unterbrochen, als die Massen in den besten revolutionären Traditionen ihres Landes auf die Strassen Frankreichs gingen und die Regierung bis ins Mark erschütterten. Diese Bewegung von Millionen von Menschen schien aus dem Nichts zu kommen, wie ein Blitz aus einem heiteren Himmel.

Genau das Gleiche gilt für Hongkong. Jeder, der Zweifel an dem revolutionären Potenzial hat, das heute existiert, sollte diese Ereignisse sorgfältig studieren. Zuvor schienen die Männer in Peking und ihre lokalen Agenten die volle Kontrolle zu haben. Doch auch hier gab es eine mächtige Massenbewegung von Millionen, die eine übermächtige Diktatur auf den Strassen herausforderte. Und wie die Bewegung in Frankreich schien sie aus dem Nichts zu kommen.

Das Gleiche galt für jede der Massenbewegungen, die in einem Land nach dem anderen ausbrachen. Wenn es sich um ein oder zwei Länder handeln würde, könnte man einwenden, dass es sich um zufällige Phänomene handele – vorübergehende Episoden, aus denen keine allgemeinen Schlussfolgerungen gezogen werden könnten. Aber wenn wir sehen, dass genau der gleiche Prozess in einem Land nach dem anderen abläuft, haben wir kein Recht mehr, ihn als Zufall abzutun. Vielmehr sind diese Entwicklungen eine Manifestation des gleichen allgemeinen Prozesses, der die gleichen zugrunde liegenden Gesetze und Tendenzen widerspiegelt.

Revolutionäre Entwicklungen in Lateinamerika

Als Mauricio Macri 2015 die Präsidentschaftswahlen in Argentinien gewann, wurde dies als weiterer Beweis für die „konservative Welle“ Lateinamerikas gewertet. Aber die jüngsten Wahlen setzen den wirtschaftlichen Träumen von Macri und seiner unternehmerfreundlichen Bande ein Ende.

Der Mann, der „null Armut“ versprach, beendete seine Amtszeit mit einem sinkenden Peso und einer jährlichen Inflationsrate von 56 Prozent. Die Zahl der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, ist von 29 Prozent auf 35 Prozent gestiegen. Ein Soforthilfekredit des IWF reichte nicht aus, um das Gleichgewicht wiederherzustellen.

Hätte es eine klare Führung der Arbeiterbewegung gegeben, hätte die Regierung von Macri von einer revolutionären Bewegung von unten gestürzt werden können. Das zeigen die jüngsten Ereignisse im benachbarten Chile. Diese Explosion des Volkszornes brach nur eine Woche nach der Ausrufung des Ausnahmezustands durch die verhasste Piñera-Regierung, der Militarisierung der Strassen und der Ausgangssperre aus. Aber weder brutale Unterdrückung, noch Folter, noch Ausgangssperre, noch falsche Zugeständnisse hielten eine Bewegung, die aufständische Charakterzüge annimmt, auf.

Diese Bewegung begann, als Oberschüler zu Protesten gegen die Erhöhung der Metro-Tarife in Santiago aufriefen. Aber sobald sie einmal begonnen hatten, verwandelte sie sich schnell in eine nationale Bewegung, die auf den Sturz des gesamten Regimes abzielte. Sie war der Höhepunkt von 30 Jahren Kürzungen, Privatisierungen, Angriffen auf die Arbeiterklasse, Deregulierung und zunehmender Ungleichheit.

Am Freitag, den 25. Oktober, demonstrierten mehr als eine Million Menschen in der Hauptstadt. Diese Mobilisierung wurde in Städten und Gemeinden im ganzen Land wiederholt. Insgesamt gingen mehr als zwei Millionen Menschen auf die Strasse. Dies ist kein Einzelfall. Nicht lange zuvor kam es zu einer ähnlichen revolutionären Explosion in Ecuador, wo die Bewegung, die als Protest gegen das von Präsident Lenín Moreno verhängte IWF-Paket begann, zu einem nationalen Aufstand wurde, der die Regierung zwang, aus der Hauptstadt Quito zu fliehen und die Nationalversammlung zu schliessen.

Wie in Chile hat diese Bewegung aufständische Ausmasse angenommen, die die direkte Machtfrage stellt. Die zentrale Frage ist hier nicht diese oder jene Reform, sondern wer regiert? Die Regierung erklärte den Ausnahmezustand und befahl der Polizei und der Armee, die Rebellion zu zerschlagen, wobei ein Mann getötet, Dutzende verletzt wurde und Hunderte von Verhaftungen durchgeführt wurden. Aber angesichts eines Aufstands der Massen haben sich alle normalen Instrumente der staatlichen Repression als machtlos erwiesen.

Die Regierung floh aus der Hauptstadt Quito. Am Mittwoch, den 9. Oktober, lähmte ein mächtiger Generalstreik das Land, und ein riesiger Marsch von 50.000 bis 100.000 Demonstranten machte sich erneut auf den Weg zum Präsidentenpalast von Carondelet, der am Vortag von Moreno eilig verlassen worden war. Für einige Augenblicke übernahm die Bewegung die Kontrolle über die ebenfalls evakuierte Nationalversammlung, mit der Absicht, eine Volksversammlung einzurichten.

Hier ist ein sehr eindrucksvoller Beweis für das gewaltige revolutionäre Potenzial, das nicht nur in Chile und Ecuador, sondern weltweit besteht.

Libanon

Auf der anderen Seite der Welt, im Nahen Osten, schien es, dass die Reaktion überall entschieden gesiegt hatte. Die Arabische Revolution schien tot und begraben zu sein. Doch erneut sind die Kräfte dieser grossen Revolution wieder auf dem Vormarsch.

Im Libanon, einem Land mit nicht mehr als sechs Millionen Einwohnern, sind mehr als zwei Millionen auf die Strasse gegangen. Auch im vom Krieg zerstörten Irak haben Zehntausende gegen das Militär und die Paramilitärs auf den Strassen gekämpft. Im Libanon und im Irak haben mächtige Massenproteste nach nur wenigen Wochen des Kampfes zum Sturz der Premierminister geführt.

Seit Jahren stützen sich reaktionäre Regime auf die sektiererischen Spaltungen in der Gesellschaft, um den Klassenkampf zu durchbrechen, aber diese Taktiken funktionieren nicht mehr. Die Bewegungen rücken die Klassenwidersprüche in den Vordergrund. Die Forderungen auf den Strassen sind Arbeitsplätze, Bildung, Gesundheitsversorgung und ein Ende des skandalösen Diebstahls und der Korruption an der Spitze. In Jordanien führten 2018 ein Generalstreik und weit verbreitete Massenproteste zum Sturz von Premierminister Hani Mulki.

Lenin sagte, dass Politik konzentrierte Ökonomie sei. Diese Aussage wird durch die Ereignisse, über die wir hier diskutieren, eindeutig bestätigt. Natürlich sind die wirtschaftlichen Aspekte nicht das einzige Element in der Gleichung. Aber es besteht kein Zweifel daran, dass die Kombination aus einer akuten Wirtschaftskrise und jahrzehntelanger korrupter Missherrschaft durch eine Klasse wohlhabender Blutsauger und ihrer politischen Handlanger die Gesellschaft an den Rand drängt.

Der Libanon ist ein gutes Beispiel. Das Land hat eine der höchsten Verschuldungsquoten der Welt. Die Arbeitslosigkeit liegt bei fast 25 Prozent und Zehntausende von gebildeten Jugendlichen werden aufgrund fehlender Möglichkeiten jedes Jahr aus dem Land getrieben. All diese Dinge sind ein Rezept für eine soziale Explosion.

Die grossen politischen Parteien, die das Land während des Bürgerkriegs sektiererisch aufgeteilt haben, sind auch heute noch an der Macht, verschleudern öffentliche Gelder und kumulieren Jahr für Jahr Haushaltsdefizite. Es schien, dass sich das nie ändern würde, aber jetzt ist im Libanon eine mächtige revolutionäre Bewegung ausgebrochen, die das ganze Land umfasst und die politische Situation dramatisch verändert.

Seit dem 17. Oktober haben Massendemonstrationen das Land aufgrund einer Vielzahl von langjährigen Missständen, darunter eine grassierende Korruption, mangelnde öffentliche Dienstleistungen und eine sich verschärfende Wirtschaftskrise, mitgerissen. Banken wurden aus Angst vor einem finanziellen Zusammenbruch geschlossen, während Demonstranten zu Hunderttausenden auf die Strassen gegangen sind und diese blockierten und die Plätze füllten.

Die Proteste waren spontan und völlig unorganisiert; keine Organisation beanspruchte die Proteste als ihre eigenen, weil es sich wirklich um eine Volksrevolution handelt. Menschen aus verschiedenen religiösen Gruppen, sozialen Schichten und politischen Hintergründen gingen auf die Strasse, um ihre Wut über den aktuellen Missbrauch der Wirtschaft auszudrücken und forderten den Sturz des kleptokratischen Regimes.

Obwohl die Demonstranten aus unterschiedlichen politischen Hintergründen kommen, ist das Gemeinsame, was sie verbindet, ihre Wut über den Angriff auf ihren Lebensstandard. Diese Wut ist meiner Meinung nach letztendlich auf eine wachsende wirtschaftliche Kluft zwischen den reichsten 10 Prozent des Libanon (die sich zufällig aus den regierenden Politikern und Unternehmenseliten zusammensetzen) und den Menschen aus der Arbeiterklasse zurückzuführen.

Die wachsende Unzufriedenheit erreichte einen Wendepunkt in einer enormen Massenbewegung von zwei Millionen Menschen, die sich über jede Provinz erstreckte und alle sektiererischen Spaltungen durchdrang. Menschen aus allen Religionen haben sich der Bewegung angeschlossen. Ohne jede Organisation oder Führung haben die revolutionären Massen der gewalttätigen Unterdrückung getrotzt, um gegen ihre räuberischen Herrscher zu kämpfen.

Wie in Ecuador und Chile versuchte die Regierung, gegen die Proteste vorzugehen – die Streitkräfte benutzten Tränengas – und mehrere Bilder und Videos von Polizeigewalt gegen Demonstranten erschienen auf sozialen Netzwerken. Unterstützer der libanesischen Hisbollah-Bewegung und ihres politischen Verbündeten Amal griffen Demonstranten in der Innenstadt von Beirut an.

Viele Jahre lang konnten sich die von Iranern unterstützten Schiitenbewegungen hinter ihrem Konflikt mit den USA sowie dem saudischen und israelischen Imperialismus verstecken. Aber jetzt sind sie selbst Teil der herrschenden Elite. Angesichts der aufkommenden revolutionären Bewegung stehen sie alle in engen Reihen, um ihre Klasseninteressen zu verteidigen.

Die Angriffe auf die Demonstranten dienten schliesslich dazu, ihren eigentlichen reaktionären Charakter zu enthüllen. Deshalb richtet sich der Zorn der Massen im Libanon auch gegen die Hisbollah, die schiitische „Partei Gottes“, die sich als Verteidigerin der Armen und Unterdrückten ausgegeben hat. Als ihr Anführer, Hassan Nasrallah, sich hinter die libanesische Regierung stellte, waren die Slogans auf den Strassen „Alle bedeutet alle, Nasrallah ist einer von ihnen“!

Letztendlich musste der Premierminister Saad Hariri zurücktreten und erklärte, er sei nach 13 Tagen des Umbruchs in eine „Sackgasse“ geraten. The Independent kommentierte dies folgendermassen:

„Die Proteste haben die politische Klasse des Libanon ins Chaos gestürzt. Zum ersten Mal steht die sektiererische politische Ordnung, die diese östliche Mittelmeer-Nation seit dem Ende des Bürgerkriegs 1990 regiert, vor einer Massenbewegung, die auf ihren Sturz abzielt.“

Weiter heisst es:

„Was als spontaner Wutausbruch über ein neues Steuerpaket begann, wurde schnell zu etwas Grösserem. Anstatt die Regierung oder einen einzelnen politischen Führer ins Visier zu nehmen, riefen die Demonstranten die korrupte politische Klasse des Libanon in ihrer Gesamtheit auf.“

Kommt euch das bekannt vor? Natürlich! Dies ist genau derselbe Prozess, den wir in Ecuador und Chile erlebt haben. Ausgehend von einem Massenprotest für unmittelbare, konkrete, wirtschaftliche Forderungen entwickelte sich die Bewegung schnell zu „etwas Grösserem“. Das heisst, dass die Massen, die sich auf ihre eigene Erfahrung stützen, beginnen, revolutionäre Schlussfolgerungen zu ziehen. Was wir brauchen, ist nicht diese oder jene kleine Reform, sondern eine tiefgreifende Transformation, um „die politische Klasse in ihrer Gesamtheit“ zu stürzen. Aber das ist genau das, was eine Revolution bedeutet!

Irak, Tunesien, Sudan…

Auch im Irak haben mehrere Wellen von Massenprotesten, die ihren Ursprung in den schiitischen Gebieten hatten, das gesamte politische System erschüttert. Seit dem 1. Oktober haben massive und radikale Proteste das Land erschüttert. Seitdem haben sie sich von Bagdad aus schnell landesweit ausbreitet. Die irakischen Streitkräfte und die Polizei reagierten mit extremer Gewalt, was zum Tod von mindestens 150 Menschen (einige Quellen behaupten über 300) und zur Verletzung von mehr als 6.000 Menschen führte. Doch die brutale Reaktion hat die Proteste nicht gestoppt.

In Tunesien hat eine Welle von Massenprotesten das Land erschüttert. Und in Algerien hat eine mächtige revolutionäre Bewegung den kränkelnden Bouteflika gestürzt und das Regime von oben nach unten erschüttert. In Algerien glaubte das Regime, 2011 einen dauerhaften sozialen Frieden erkauft zu haben, nachdem es die Staatsausgaben drastisch erhöht hatte.

Im Sudan sahen wir eine Massenbewegung mit enormem revolutionärem Potenzial, die die herrschenden Kreise in der gesamten Region erschütterte. Der Mut und die Entschlossenheit der Jugendlichen, insbesondere der sudanesischen Mädchen und Frauen, waren wirklich inspirierend. Die sudanesische Arbeiterklasse ist auf die Bildfläche getreten, um das Regime herauszufordern, indem sie Generalstreiks einleitete, die die Machtfrage aufwarfen.

Das Gleiche galt für Algerien. All dies zeigt, dass die Arabische Revolution nach wie vor über riesige soziale Reserven verfügt. Aber wie erklärt man solche Phänomene? Und was repräsentieren sie? Oberflächliche Beobachter und Empiriker werden von Ereignissen erschüttert, die sie nicht erwartet haben und für die sie keine Erklärung haben. Die oberflächlichen Empiriker der Bourgeoisie schauen nur auf die Oberfläche der Ereignisse (die „Fakten“). Sie bemühen sich nicht, unter die Oberfläche zu schauen, um die tieferen Prozesse aufzudecken, die überall am Werk sind.

Der molekulare Prozess der Revolution

Trotzki sagte einmal, dass die Theorie die Überlegenheit der Voraussicht gegenüber dem Erstaunen ist. Die plötzlichen, gewalttätigen Manifestationen der Volksunzufriedenheit überraschen die Bourgeoisie und ihre angeheuerten „Experte““ immer wieder. Das liegt daran, dass die bürgerlichen „Experten“ keine Theorie haben (ausser der Theorie, dass alle Theorie nutzlos ist) und deshalb immer wieder erstaunt sind, wenn ihnen plötzlich Ereignisse ins Gesicht explodieren.

Um zu einem wirklichen Verständnis dieser unterirdischen Prozesse zu gelangen, ist die dialektische Analysemethode absolut notwendig. Die Bourgeoisie hat natürlich kein Verständnis für Dialektik, die Reformisten haben noch weniger, wenn das überhaupt möglich ist. Die Sekten brauchen in dieser Hinsicht nicht erwähnt zu werden, da sie überhaupt nichts verstehen. Ihr völliges Fehlen jeglicher Perspektive ist der Hauptgrund dafür, dass sie sich alle in einer Krise befinden.

Trotzki prägte einen wirklich bemerkenswerten Ausdruck: „Der molekulare Prozess der Revolution“. Es lohnt sich, über diesen Satz nachzudenken. Trotzki bezog sich auf die Dialektik und ohne ein Verständnis der Dialektik kann man nichts verstehen. Der Prozess einer Bewusstseinsänderung in den Massen findet in der Regel schrittweise statt. Sie wächst langsam, unmerklich, aber auch unerbittlich, bis sie einen Wendepunkt erreicht, an dem die Quantität in Qualität übergeht und die Dinge in ihr Gegenteil verkehrt.

Über lange Zeiträume hinweg drückt sie sich als eine langsame Ansammlung von Unzufriedenheit, Wut, Zorn und vor allem Frustration unter der Oberfläche aus. Hier und da gibt es Symptome, kleine Signale, die nur von einem ausgebildeten Beobachter verstanden werden können, der sehen kann, was sie bedeuten. Aber dies ist ein Buch mit sieben Siegeln für den dickköpfigen Empiriker, der zwar immer auf „den Fakten“ besteht, aber für die tieferen zugrunde liegenden Prozesse blind ist.

Der Philosoph Heraklit äusserte seine Verachtung gegenüber Empirikern, als er sarkastisch schrieb: „Schlechte Zeugen sind Augen und Ohren für Männer, die Seelen haben, die ihre Sprache nicht verstehen.“ Die Bibel drückt die gleiche Idee mit anderen Worten aus: „Ihr habt Augen und sehet nicht …“ Egal wie viele Fakten und Statistiken sie sammeln, sie begreifen das Wesentliche nicht.

Britannien und Frankreich

Plötzliche und starke Veränderungen sind in der Situation implizit miteingeschlossen. Solche plötzlichen Explosionen sind ein Symptom des zugrunde liegenden Stroms von angesammelter Wut und Unzufriedenheit von Millionen Menschen, der tatsächlich gegen das System gerichtet ist. Sie sind ein klares Symptom dafür, dass das kapitalistische System auf globaler Ebene in eine Sackgasse geraten ist.

Einige mögen versuchen zu behaupten, dass revolutionäre Entwicklungen, wie wir sie hier zitiert haben, nur in armen, wirtschaftlich unterentwickelten Nationen möglich sind. Aber das ist völlig falsch. Die Dialektik lehrt uns, dass sich die Dinge früher oder später in ihr Gegenteil verkehren.

Ein hervorragendes Beispiel dafür ist Britannien. Noch vor vier Jahren galt Britannien als das stabilste Land in Europa, vielleicht in der Welt – jetzt steht es völlig auf dem Kopf und ist wahrscheinlich das instabilste Land in Europa. Die „Mutter der Parlamente“ war einst für ihre ruhige Gelassenheit bekannt, wurde aber plötzlich von Krise und Spaltung erschüttert. Anstelle von Gelassenheit gab es absolut chaotische Szenen.

Die britische Gesellschaft ist auf eine Weise stark polarisiert, die seit langem nicht mehr zu sehen war. Es ist diese Polarisierung, die die Kapitalistenklasse und ihre ideologischen Apologeten am meisten beunruhigt. Sie sind beunruhigt, weil sie sich der Tatsache bewusst sind, dass eine solche Polarisierung in sich selbst die Keime zukünftiger revolutionärer Entwicklungen enthält.

Seit der Krise von 2008-09 gibt es einen langsamen Prozess, eine allmähliche Anhäufung von Unzufriedenheit. Das bedeutete einen grundlegenden Umbruch in der gesamten Situation auf internationaler Ebene. Und es war ein Umbruch in jeder Hinsicht des Wortes. Jetzt können wir den molekularen Prozess der Revolution sehen, von dem Trotzki sprach. Dies ist ein stiller, unsichtbarer Prozess. Es ist etwas Immaterielles. Man kann den Finger nicht darauflegen, weil er unter der Oberfläche stattfindet. Aber es ist die ganze Zeit da und vergräbt sich wie ein Maulwurf.

In der Vergangenheit galt das britische Volk als intrinsisch konservativ und organisch unempfindlich gegen jegliche Art von revolutionären Impulsen. Sie hatten solide Institutionen, die als unüberwindliches Bollwerk gegen die Revolution fungierten: das Parlament, das Oberhaus, die Monarchie und die Rechtsstaatlichkeit. Die Menschen respektierten diese Institutionen, die den sozialen Frieden und die politische Stabilität garantierten.

Jetzt sind all diese beruhigenden Illusionen zerschlagen. Der alte selbstbewusste Glaube an die parlamentarische Demokratie wurde fatal untergraben. Das Misstrauen gegenüber Politikern und die Verachtung der Westminster-Elite wächst. Das ist sehr gefährlich für die herrschende Klasse. Wenn es den Menschen nicht mehr genügt, die Verantwortung für ihr Leben und ihr Schicksal der Kaste der Berufspolitiker und Bürokraten („die Menschen, die es wissen“) zu überlassen, könnten sie eines Tages beschliessen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Das war genau das, was vor nicht allzu langer Zeit in Frankreich geschah.

Im November 2018 tauchte plötzlich die Bewegung der Gilets Jaunes auf, scheinbar aus dem Nichts, als eine grosse Anzahl von einfachen Menschen auf die Strasse gingen. Das hat deutlich gezeigt, dass ein revolutionäres Potenzial vorhanden ist. Selbst der Brexit zeigt auf eigentümliche Weise den gleichen Prozess. In vielen anderen Ländern herrscht der gleiche Geist: eine tiefgehende Stimmung gegen das Establishment. Aber wir haben auch gesehen, wie die so genannte Linke dieser revolutionären Stimmung überhaupt keinen organisierten Ausdruck verlieh.

Auch Katalonien hat auch im Oktober eine explosive Protestbewegung erlebt, nachdem politische Gefangene verurteilt wurden, die derzeit wegen ihrer Beteiligung an der Organisation des Unabhängigkeitsreferendums 2017 im Gefängnis sitzen. Die harten Gefängnisstrafen (insgesamt über 100 Jahre) für das „Verbrechen“ der Ausübung eines demokratischen Rechts wurden mit einem Ausbruch von Wut und Zorn beantwortet, wobei Hunderttausende auf die Strasse kamen und Strassen, Bahnlinien und den Flughafen von Barcelona blockierten.

Angesichts der brutalen polizeilichen Repression verteidigten sich Zehntausende von Demonstranten, vor allem Jugendliche, und schlugen mit brennenden Barrikaden und täglichen Kämpfen über eine ganze Woche zurück. Am 18. Oktober fand ein Generalstreik statt, bei dem eine riesige Menschenmenge nach Barcelona kam, organisiert in fünf verschiedenen Kolonnen, die zu Fuss aus verschiedenen Teilen Kataloniens marschiert waren. Die kleinbürgerlichen nationalistischen Parteien, die an der Spitze der Bewegung für eine katalanische Republik stehen, werden zunehmend diskreditiert, aber es wurde keine alternative Führung aufgebaut.

Dies sind die Zuckungen, die das bevorstehende Erdbeben ankündigen. Die Stimmung der Unzufriedenheit der Massen, die in den traditionellen Massenorganisationen keinen Niederschlag findet, drückt sich in den verschiedenen Ländern unterschiedlich aus. Aber was grundlegend ist, ist der unwiderstehliche Prozess der Radikalisierung der Massen auf globaler Ebene, der sich in gewalttätigen Ausschlägen nach links und rechts ausdrückt. Der Radikalisierungsprozess wird sich im Laufe der Krise verstärken, eine noch schärfere Polarisierung zwischen den Klassen provozieren und den Weg für noch grössere revolutionäre Explosionen bereiten.

Die gegenwärtige Lage und die Aufgabe der Marxisten

Marxisten sind von Natur aus optimistisch, aber unser Optimismus ist nichts, was falsch oder künstlich ist. Er basiert auf soliden Analysen und Perspektiven. Wir stützen uns auf den soliden Fels der marxistischen Theorie. Unsere Organisation kann stolz darauf sein, dass wir bei den Grundprinzipien und der dialektischen Methode absolut standhaft geblieben sind, die es uns ermöglicht, unter die Oberfläche zu dringen und die tieferen sich vollziehenden Prozesse zu sehen.

Die Zeit, die wir durchleben, wird als ein Moment des grundlegenden Wandels, als ein Wendepunkt in der gesamten Situation angesehen werden. Vor nicht allzu langer Zeit schien diese Behauptung durch die Fakten widerlegt zu sein. Die Weltwirtschaft schien sich zu beruhigen, und tatsächlich betonen bürgerliche Ökonomen, dass dies die längste Konjunkturerholung in der Geschichte ist. Aber jetzt beschleunigen sich die Ereignisse mit atemberaubender Geschwindigkeit. Nur die dialektische Methode des Marxismus kann eine rationale Erklärung für Prozesse liefern, für die die hoffnungslose bürgerliche Empirie völlig blind ist.

In vielerlei Hinsicht ähnelt die gegenwärtige Situation dem Untergang und Fall des Römischen Reiches. Die Bankiers und Kapitalisten zeigen ständig ihr Vermögen und ihren Luxus. Die reichsten ein Prozent der Welt sind auf dem besten Weg, bis 2030 bis zu zwei Drittel des Weltvermögens zu kontrollieren, da sie auf Billionen von Dollar sitzen, die sie nicht in die Produktionstätigkeit investieren. Die herrschende Klasse ist parasitär und völlig entartet. Das schürt überall die Feuer der Wut und des Grolls.

Es gibt ein riesiges Potenzial für die Verbreitung marxistischer Ideen. Das ist das Wichtigste, worauf wir uns konzentrieren müssen. Wir müssen die Grundlagen diskutieren: nicht die Nebensächlichkeiten, sondern die allgemeine Tendenz. Was ist der gemeinsame Nenner in all diesen Situationen? Extreme politische und soziale Polarisierung. Der Klassenkampf ist überall auf dem Vormarsch.

Wir wachsen und entwickeln uns – aber wir sind zu klein, um ein entscheidender Faktor für die Entwicklung der Ereignisse in naher Zukunft zu sein. Aus unserer Sicht wäre es keine schlechte Sache, wenn entscheidende revolutionäre Situationen für eine Weile verschoben würden, aus dem einfachen Grund, weil wir noch nicht so weit sind. Wir brauchen Zeit, um die revolutionäre Alternative aufzubauen.

Die Geschichte bewegt sich in ihrem eigenen Tempo und sie wird nicht auf jemanden warten. In einer Zeit wie der Gegenwart können gigantische Ereignisse auftreten, bevor wir so weit sind. Scharfe und plötzliche Wendungen sind in der Situation implizit enthalten. Wir müssen bereit sein, uns grossen Herausforderungen zu stellen. Die besten Arbeiter und Jugendlichen sind bereits weit offen für unsere Ideen. Wir müssen den Weg zu diesen Schichten finden und den alten, müden, demoralisierten Elementen entschlossen den Rücken kehren. Alle Spuren von Skepsis und Routine müssen aus unseren Reihen, die von oben nach unten mit einem Geist für Dringlichkeit durchdrungen werden müssen, verbannt werden.

Das ist wirklich ein Wettlauf gegen die Zeit. Grosse Ereignisse können uns überholen. Wir müssen vorbereitet sein. Deshalb müssen wir unsere Organisation aufbauen und so schnell wie möglich Menschen rekrutieren und ausbilden. Das ist der einzige Weg zum Erfolg. Wir haben diesen Weg bereits eingeschlagen. Nichts darf uns von dieser Aufgabe ablenken. Unser Slogan soll lauten:

Es lebe die sozialistische Weltrevolution!

Bild: fair use