In Kanada kam es zu einer beeindruckenden Streikbewegung. Im Interview erzählt Julien Arseneau von Riposte socialiste/Fightback, der kanadischen Sektion der IMT, von den Ereignissen in Ontario.

Der Funke: Wie kam es zum Ausbruch dieses Streiks in Ontario? 

Julien: Es begann mit einem Kampf der Beschäftigten des Unterstützungspersonals an Schulen in Ontario. 55’000 ArbeiterInnen in diesem Sektor verhandeln über die Erneuerung ihres Kollektivvertrags. Zudem werden in Ontario weitere Bereiche des öffentlichen Dienstes in Verhandlungen treten, aber die Beschäftigten im Bildungswesen waren die Ersten. Sie forderten eine Lohnerhöhung von 11,7 % pro Jahr. Das ist bei galoppierender Inflation recht bescheiden. Es ist nur ein Aufholen eines Jahrzehnts von Reallohnsenkungen.

Es war klar, dass es zu einem offenen Konflikt mit der konservativen Regierung von Doug Ford kommen würde, die nicht daran dachte, dieser Erhöhung zuzustimmen. Darum beschlossen die Beschäftigten im Bildungswesen mit 96 % Zustimmung im Voraus einen Streik. Dieser sollte Anfang November stattfinden. Fünf Tage vor dem Streik verabschiedete die Regierung Ford ein Sondergesetz, das den Streik verbot. Das ist ein ziemlich typisches Phänomen in Kanada. Das Streikrecht besteht auf dem Papier, aber jedes Mal, wenn ein Streik geplant wird oder stattfindet, der reale Auswirkungen haben könnte, führen die Regierungen Gesetze ein, die das Streikrecht der betreffenden ArbeiterInnen aussetzen, und es werden hohe Geldstrafen verhängt, wenn sie gegen dieses Gesetz verstossen. Dazu kommt eine Form der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit. Auf diese Weise gelingt es der Regierung seit Jahrzehnten, Streiks in Kanada zu brechen.

In der Vergangenheit hielten sich die Gewerkschaftsführungen an das Gesetz und fochten es dann vor Gericht an. Für den Moment wurden die Streiks so abgeschwächt. Jahre später entschieden Gerichte dann wenig überraschend, dass das Gesetz verfassungswidrig ist. Doch dann war es zu spät, der Streik war bereits gebrochen.

Diesmal liess die Regierung von Doug Ford der Gewerkschaftsführung nicht einmal diesen Ausweg. Sie beschloss eine Ausnahmeregelung, die bewirkt, dass das Gesetz nicht vor Gericht angefochten werden kann. Zudem bestimmte diese Ausnahmeregelung, dass die jährliche Lohnerhöhung auf 2,5 % festgesetzt wäre. Das ist bei steigender Inflation ein Witz.

Daraufhin beschloss die Gewerkschaft, für zwei Tage in einen illegalen Streik zu treten. Die Drohung eines Generalstreiks reichte aus, um die Regierung dazu zu bringen, einen Rückzieher zu machen und ihre Sondergesetzgebung aufzuheben. 

Was zur Androhung des Generalstreiks führte, war ein beispielloser Angriff auf das Streikrecht, der die Gewerkschaftsführungen zwang, Widerstand zu leisten, um das Gesetz herauszufordern.

Wie ging der Kampf über den Bildungssektor hinaus und was führte zur Androhung eines Generalstreiks?

Die Gewerkschaften in anderen Sektoren hatten keine andere Wahl, als sich an der Bewegung zu beteiligen und die Beschäftigten der Bildung zu unterstützen. Denn wenn dieses hinterhältige, undemokratische Sondergesetz durchgesetzt worden wäre, hätte Doug Ford genau das Gleiche mit anderen Sektoren gemacht. Die Solidarität ergibt sich also aus der Logik des Konflikts mit Doug Ford. Eine Niederlage oder ein Sieg für einen Sektor der Arbeiterklasse ist einer für alle. Die Gewerkschaften bereiteten daraufhin eine Pressekonferenz mit den wichtigsten Gewerkschaften Ontarios aus dem öffentlichen und privaten Sektor vor. Umfragen zeigten, dass eine Mehrheit dieser ArbeiterInnen offen war für einen Solidaritätsstreik. Das war es, was die Regierung zum Zurückweichen brachte.

Eine Anekdote dazu: In Kanada wird die Arbeiterbewegung historisch entlang nationaler Linien geteilt. Die Gewerkschaftsbewegung in Québec (französischsprachiger Teil Kanadas) und diejenige im Rest des Landes sind quasi zwei verschiedene Welten. Aber dieses Mal gab es Gewerkschaftsführer in Québec, die sagten: Wenn wir nach Toronto gehen müssen, dann gehen wir! Sobald die Gewerkschaftsführer in Québec diese Erklärung abgaben, wollten sogar die Gewerkschaften im Westen den Streikenden eine grosse Geldspende zukommen lassen.

Die Spaltung der Kämpfe entlang von Sprachlinien kennen wir auch in der Schweiz. Die Schweizer Arbeiterklasse kann sich ein gutes Beispiel an Kanada nehmen. Du hast gesagt, dass es mit diesem Gesetz oft gelungen ist, Streiks zu brechen; und ein Grund, warum es dieses Mal nicht gelungen ist, war das Ausmass des Angriffs auf das Streikrecht mit der Einfügung der Ausnahmeregelung. Was können wir dem noch hinzufügen?

Es zeigt uns die Sackgasse des kapitalistischen Systems. Das zwingt die ArbeiterInnen in den Kampf. Man kann Doug Ford für verrückt halten für die Einführung der Ausnahmeregelung, um das Gesetz vor einer Klage zu schützen. Aber es steckt eine gewisse Logik dahinter. Normalerweise sind Schiedsgerichte immer parteiisch für den Arbeitgeber. Aber aufgrund der Inflation sind die Schiedsgerichte manchmal gezwungen, ein paar Zugeständnisse zu machen. Die Ford-Regierung wollte nicht einmal dieses Risiko eingehen: nicht 100% dessen zu bekommen, was sie wollte. Der andere Aspekt ist, dass, falls die Bildungsarbeiter Zugeständnisse erhalten, dies ein Modell für die Verhandlungen in anderen Sektoren werden könnte.

Es zeigt, dass es in der kapitalistischen Krise um die Straffung der öffentlichen Finanzen geht. Die Regierungen können es sich nicht leisten, die Löhne der Beschäftigten im öffentlichen Sektor zu erhöhen, denn wer soll das bezahlen? Die Reichen wollen das nicht, das bedeutet Austerität.

Die Führung der Gewerkschaft im Bildungsbereich ist aber nicht kämpferischer als andere. Den Ausschlag gab, dass sie wirklich in die Ecke gedrängt wurden, in der sie keine andere Wahl hatten, als Widerstand zu leisten und sich diesem verfassungswidrigen Gesetz zu widersetzen. Das hat sie zum Streik veranlasst. Aber das hätte buchstäblich jedem Teil der Arbeiterklasse in Kanada passieren können. Es liegt in der Natur unserer Zeit, dass es zu solch akuten Klassenkonflikten kommt.

Findest du also, dass ein Kampf dieses Ausmasses, der zu einem drohenden Generalstreik führte, aufgrund der tiefen Wirtschaftskrise vorhersehbar war?

Ich denke, dass es für viele wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam. Denn einige Monate zuvor hatten in Ontario Wahlen stattgefunden, bei denen die Wahlbeteiligung eine der niedrigsten, wenn nicht sogar die niedrigste Wahlbeteiligung in der Geschichte der Provinz war. Das konnte den Eindruck einer gewissen Apathie erwecken, einer gewissen Stimmung des Pessimismus, der Demoralisierung. Wir von Riposte socialiste/Fightback erklären seit langem, dass sich die Widersprüche des Systems anhäufen. Die Wut, die Ressentiments, die Ungleichheiten, die Inflation – das würde zu Klassenkonflikten führen, zu aussergewöhnlichen Kämpfen, aber man kann nie genau vorhersagen, wann. Wir wussten, dass früher oder später jemand sagen musste: Nein, diese Gesetze sind nicht mehr tolerierbar. In diesem Sinne bin ich nicht überrascht. Es ist logisch, dass in jedem Land und in jedem Sektor die Arbeiterklasse solche Konflikte zunehmen werden.

Wie haben die Gewerkschaften reagiert, um den Kampf zum Erfolg zu führen?

Was wir in Ontario gesehen haben, war ein historisch bedeutsamer Sieg, aber nur ein Teilsieg. Denn der illegale Streik führte zur Aufhebung des Sondergesetzes und brachte uns ein Stück weit an den Anfang der Verhandlungen über den Tarifvertrag zurück. Ein Fehler, den die Gewerkschaftsführung wenige Tage vor dem illegalen Streik machte, war, die geforderte Lohnerhöhung von 11,7 % auf 6 % pro Jahr zu reduzieren. Nun hat sich die Gewerkschaftsführung mit der Regierung auf 3,5% geeinigt (bei 7% offizieller Inflation), worüber die Basis abstimmt.

Unsere GenossInnen in Ontario bauen ein Basiskomitee mit einer Präsenz in der Gewerkschaftsbewegung auf. Sie erklären, dass das Angebot abgelehnt werden muss. Und: Dass wir dieses Momentum und die Unterstützung der Öffentlichkeit nutzen sollten, um in die Offensive zu gehen und die 11,7 % einzufordern, die wir von Anfang an gefordert haben. Wenn wir mit dieser Forderung erneut in Streik treten, wie soll es die Regierung dann rechtfertigen, ein neues Sondergesetz zu erlassen?

Wir versuchen eine Kraft in den Gewerkschaften aufzubauen, die eine sozialistische Perspektive vertritt, um die Arbeiterklasse zu mobilisieren. Und das nicht nur in Kanada, sondern mit der IMT überall auf der Welt. Denn ein Streik hätte nicht nur in allen möglichen Sektoren der Arbeiterklasse passieren können und wird es. Es ist ein Prozess, den wir in allen Ländern sehen. Es gibt kein Land, das vor Inflation, Klassenkampf und der Krise des Kapitalismus sicher ist.

Kanada ist nicht als Land des Klassenkampfes bekannt. Es ist ein entwickeltes kapitalistisches Land, das nach der Krise von 2008 im Vergleich zu Südeuropa nicht das Schlimmste erlebt hat. Aber auch Kanada bekommt die Krise des Kapitalismus ab. Die Widersprüche kommen immer mehr zum Vorschein. Das mag an die Schweiz, Belgien und andere Länder erinnern. Besonders die Schweiz gilt als ruhiges Land. Aber diese Dinge werden passieren und darauf muss man sich als MarxistIn vorbereiten.

Interview von Sarah Baumann

Bildquelle: Source: CUPE Ontario/Facebook