Ägypten. Am Wochenende findet die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen statt. Eine Analyse über den Stand der Ägyptischen Revolution von Flo Keller.

Aus der Perspektive der Massenmedien scheint die ägyptische Revolution stillzustehen, ja sogar auf dem Rückzug zu sein. Regelmässig gibt es Proteste, die jedoch genauso regelmässig vom herrschenden Militärrat unterdrückt werden können. Bei den Wahlen zum Parlament Ende 2011 bis Anfang 2012 gingen über 65% der Stimmen an die islamistische Muslimbruderschaft und die noch konservativeren Salafisten. In die zweite Runde der Präsidentschaftswahl schaffte es neben dem Kandidaten der „Freiheits- und Gerechtigkeitspartei“ (dem politischen Arm der Muslimbruderschaft) Mohamed Morsi ausserdem der letzte Premierminister der Ära Mubarak, Ahmed Shafik, ein ausgesprochener Vertreter des alten Regimes und Verkörperung der Konterrevolution.

Shafik und Morsi erhielten 24,8% bzw. 23,7% der Stimmen. Sie repräsentieren jeweils einen der beiden wichtigsten Flügel der herrschenden Klasse in Ägypten: Der eine Teil macht seine Geschäfte über enge Verbindungen zum Militär, der andere gruppiert sich rund um die Muslimbruderschaft, an deren Spitze selbst namhafte Kapitalisten stehen. Gibt dieses Ergebnis nicht jenen recht, die meinen, dass es in Ägypten gar keinen revolutionären Prozess mehr gibt?

Ein genauerer Blick ergibt ein ganz anderes, viel dynamischeres Bild. Dies zeigt sich schon bei einer genaueren Betrachtung der Ergebnisse der Präsidentschaftswahl, die zwar auch nur eine Momentaufnahme gesellschaftlicher Prozesse darstellt, aber wichtige Veränderungen im Bewusstsein der Massen erkennen lässt.

Vor allem dem Militärrat, aber auch der Muslimbruderschaft verloren in den letzten Monaten immer mehr an sozialer Unterstützung. Nach dem Sturz Mubaraks reifte unter den Massen sehr bald schon die Erkenntnis heran, dass der nun herrschende oberste Militärrat nur den verlängerten Arm einer ganzen Ausbeuter- und Unterdrückerschicht rund um das Militär darstellt. Der Unmut und die Proteste richten sich daher seit Monaten immer mehr gegen die Herrschaft des Militärs an sich. Doch auch die Muslimbruderschaft stellte im neuen Parlament schon ihre konterrevolutionäre Rolle durch eine Reihe von Kompromissen mit der herrschenden Militärjunta unter Beweis. Dementsprechend wandte sich auch die Stimmung immer breiterer Teile der Bevölkerung gegen sie. Vor allem die Arbeiterschaft, die sich zusehends eigenständig organisiert, entfremdet sich immer mehr von den Muslimbrüdern. Ein streikender Busfahrer drückte es in einem TV-Interview so aus: „Wir haben die Muslimbruderschaft in der Hoffnung gewählt, dass sie für uns etwas tun könnte. Aber sie sind noch schlimmer und dümmer.“ Ein anderer fügte hinzu: „Weder Muslimbruderschaft noch Salafisten. Die stehen auf der Seite des Militärrates.“

Linke Alternative?

So verwundert es nicht, dass das offizielle Wahlergebnis nur noch durch massive Wahlfälschung möglich wurde. Schon während der Wahl tauchten Berichte von Stimmenkauf im grossen Umfang auf. Ausserdem wurden grosse Mengen an Ausweisen an Soldaten ausgegeben, die damit Shafik wählen sollten.

Interessant ist das gute Abschneiden von Hamdin Sabahi als drittplatziertem Kandidaten. Sabahi, dessen Partei bei den Parlamentswahlen nur 6 Sitze erreicht hatte, kam jetzt auf 20,8%. Er sieht sich in der Tradition von Gamal Abdel Nasser, der Mitte der 1950er Jahre auf einer revolutionären Welle mit einem Militärputsch an die Macht kam. In der Folge verstaatlichte Nasser einen grossen Teil der Wirtschaft, er setzte eine Landreform um und die Reste direkter kolonialer Unterdrückung durch Grossbritannien wurden unter seiner Amtsführung beseitigt. Deswegen geniesst seine Ära unter grossen Teilen der ägyptischen Bevölkerung noch heute einen guten Ruf.

Sabahi machte sich einst einen Namen durch seine Opposition gegen die wirtschaftliche Liberalisierungspolitik von Nassers Nachfolger Anwar as-Sadat und unterstützte von Beginn an die revolutionären Massenproteste gegen Hosni Mubarak. Auch wenn sein Programm viele Beschränkungen aufweist, so knüpft es in seinen Forderungen doch an dem Hauptslogan der Revolution „Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit“ an. Sein Überraschungserfolg zeigt, dass ein wachsender Teil der ArbeiterInnen und der revolutionäre Jugend instinktiv nach einer Lösung zu suchen beginnen, die über den Kapitalismus hinausgeht. War etwa Alexandria in den Parlamentswahlen (und davor) noch eine Hochburg der Islamisten, erreichte Sabahi in der Präsidentschaftswahl hier und in anderen städtischen Ballungszentren den ersten Platz.

Diese sich radikalisierende Stimmung muss durch eine bewusste revolutionäre Führung aufgegriffen, durch mutige Slogans verallgemeinert und zu gemeinsamen revolutionären Massenaktionen der ArbeiterInnenklasse gebündelt werden, um auch wirklich den Kapitalismus als Hemmschuh für die weitere Entwicklung beseitigen zu können. Eine solche Führung muss sich bedingungslos auf der Seite der ArbeiterInnenklasse und klar gegen die herrschende Klasse positionieren. Entschieden bekämpft werden müssen dagegen Illusionen in den einen oder den anderen Flügel der herrschenden Klasse. Doch genau solche Illusionen schürt die Führung der in der radikalisierten Jugend relativ einflussreichen „Revolutionären Sozialisten“, wenn sie in der Stichwahl zu einer kritischen Unterstützung Morsis gegen den „Faschismus“ von Shafik aufrufen. Falls er gewinnen sollte, rufen sie sogar zur Bildung einer Regierung der nationalen Einheit unter Führung der Muslimbruderschaft und unter Einbeziehung der Linken auf.

Gefährliche Illusionen

Die Geschichte einer jeden Revolution zeigt, dass die verschiedenen Flügel der herrschenden Klasse trotz aller Differenzen einig in zumindest einer Sache sind: In der Unterdrückung der Arbeiterinnen und Arbeiter, die für ein besseres Leben kämpfen. Sie mögen um diesen oder jenen Löffel aus den Fleischtöpfen des Kapitalismus streiten, aber wenn die Gefahr besteht, dass die Arbeiterklasse sie von diesen Töpfen vertreiben könnte, werden sie immer zusammenrücken. Deshalb ist von einem marxistischen Standpunkt aus die Wahl des „kleineren Übels“, der „weniger schlimmen“ bürgerlichen Partei kein zulässiges Mittel.
Im Kampf gegen Faschismus und Reaktion setzen wir auf das Konzept der Einheitsfront der Organisationen der ArbeiterInnenklasse. Statt auf hohle Kompromisse mit einem Teil der Spitzen des kapitalistischen Systems setzen wir unser Vertrauen in die Kraft der organisierten ArbeiterInnenbewegung und der mobilisierten Massen auf den Strassen. Die aufflammenden Massenproteste rund um das Ende des Prozesses gegen Mubarak und mehrere Personen aus seinem Sicherheitsapparat geben uns in diesem Vertrauen Recht. Nach dem Freispruch für viele, die während des Aufstands gegen Mubarak Morde an Demonstranten befohlen hatten, sind seit Tagen hunderttausende Menschen wieder auf den Strassen, die den Sturz des Militärregimes und eine Exekution von Mubarak und seinen Schergen für ihre Verbrechen fordern. Bei Redaktionsschluss zeigte die Protestwelle keinerlei Schwäche, im Gegenteil, sie wuchs beständig an und bezog immer neue Schichten in den Kampf ein.

Noch mögen Teile der Bevölkerung, vor allem auf dem Land und unter den Kleingewerbetreibenden, Illusionen in die Rolle der Muslimbruderschaft haben. Doch sollte diese an die Macht kommen, werden auch diese durch ihre Politik sehr schnell zerstört werden. Die Muslimbruderschaft ist ganz klar eine bürgerliche Organisation, auch wenn sie soziale Projekte finanziert, um sich damit eine soziale Basis für den Konkurrenzkampf mit dem militärischen Flügel der herrschenden Klasse zu schaffen. In Zeiten des Kalten Krieges wurde sie gegen Nasser und die „rote Gefahr“ vom CIA unterstützt. Später benötigte der US-Imperialismus ihre Dienste nicht mehr und Washington setzte lieber auf die guten Beziehungen zum Regime in Kairo. In den letzten Monaten änderte die USA aber erneut ihre Haltung. Die Muslimbruderschaft wird nun als eine Art Sicherheitsvorkehrung gegen die Revolution gesehen. Auch für Washington ist die Muslimbruderschaft somit eine Art „kleineres Übel“.

Ihre Führung besteht zu einem grossen Teil selbst aus Kapitalisten, als prominentestes Beispiel sei der ursprünglich als Präsidentschaftskandidat vorgesehene Multimillionär Chairat al-Schater erwähnt. In ihrer Politik mischt sich religiöser Konservativismus mit wirtschaftsliberaler Politik: Um selbst endlich von den Vorteilen der Staatsmacht zu profitieren, von der sie so lange ferngehalten wurden, haben verschiedene Vertreter der Muslimbruderschaft wiederholt grossangelegte Privatisierungen gefordert. Rhetorischer „Kampf gegen die Korruption im alten System“ ist nur der Deckmantel dafür, dass sie selbst gerne die Profiteure dieser Korruption wären.

Um ihre wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen, wird auch die Muslimbruderschaft die Polizei und das Militär einsetzen, auch wenn sie dazu mit der alten machthabenden Clique Kompromisse schliessen muss. Wenn die Revolutionären Sozialisten sie zuvor unterstützen, werden sie als Organisation für die Massen nicht als Alternative in Frage kommen.

Ein Aufruf zum Wahlboykott bei der Stichwahl ist in diesem Sinne unerlässlich. Gegen beide Kandidaten der kapitalistischen Unterdrückung! Der Weg ist steinig und wird voller Hindernisse sein, aber wir schliessen uns der Einschätzung eines weiteren streikenden Busfahrers an, wie die kommende Entwicklung aussehen wird: „Wartet nur, die endgültige Revolution wird kommen. Wartet auf die Revolution der Arbeiter!“

Zum Weiterlesen:
Alan Woods, Which way forward for Egypt: Class collaboration or revolution? Reply to the Revolutionary Socialists