Kolumbien: Die historische Massenmobilisierung hat die Regierung in die Knie gezwungen. Doch weder dieser Sieg noch die anhaltende Repression konnten die Bewegung stoppen. Jetzt richtet sie sich gegen das ganze Regime.

Kolumbien erlebt seit dem 28.  April eine Welle von Massendemonstrationen gegen die ultrareaktionäre Regierung Iván Duques. Dies ist eine in den letzten Jahrzehnten beispiellose Mobilisierung in diesem Land. In der Bastion des lateinamerikanischen US-Imperialismus schien eine Massenbewegung gegen die Regierung der Reichen jahrelang unmöglich.

Der unbegrenzte landesweite Streik hat die Rücknahme der Steuerreform erwirkt, die der Auslöser der Proteste war. Ausserdem führte er bereits zum Rücktritt des Finanz- und der Aussenministerin. Dies ist ein schwerer Schlag für die kolumbianische Bourgeoisie, die eindeutig die Stärke des Volkes unterschätzt hatte.

«Wir werden massakriert!»

Die Regierung von Duque unterdrückt brutal jeden Protestversuch. Nach Angaben der NGO Temblores gab es zwischen dem 28.  April und dem 24.  Mai mindestens 3155 Fälle von Polizeigewalt, darunter 43 angebliche Tötungen durch Sicherheitskräfte, 1388 willkürliche Verhaftungen, 46 Opfer von Augenverletzungen und 22 Opfer sexueller Gewalt. Die ESMAD (Bereitschaftspolizei) entführte und verprügelte Demonstranten, drang in der Nacht gewaltsam in Häuser ein und ermordet kaltblütig. 

Trotz der horrenden Zahen muss man klarstellen, dass die Repression ein Ausdruck der Verzweiflung der herrschenden Klasse ist. Ihr Repressionsapparat ist die einzige Waffe, die sie kennen. Doch diese funktioniert nicht auf Dauer. Die Arbeiterklasse hat begonnen, Vertrauen in ihre eigene Stärke zu gewinnen. Diese gibt ihr den Mut, sogar den schlimmsten Schrecken entgegenzutreten.

Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte

Dieser Aufstand folgt auf die Protestbewegung «Paro nacional» Ende 2019, der grösste Generalstreik in Kolumbien seit 50 Jahren. Die damalige Bewegung war Teil der revolutionären Welle, die im Oktober 2019 über Lateinamerika fegte. Sie richtete sich gegen ein antisoziales Massnahmenpaket der Regierung Duques. Die Corona-Pandemie lähmte die Bewegung in ganz Lateinamerika, verschlimmerte aber gleichzeitig die ohnehin schon beklagenswerten Bedingungen und steigerte den Unmut. Gerade Kolumbien ist mit mehr als 3,2 Millonen Ansteckungen und mehr als 86’000 Todesfällen zu einem der am stärksten von der Pandemie betroffenen Länder geworden. Die Arbeitslosigkeit schnellte auf über 17%, unter Jugendlichen auf 27%. 2.3 Millionen Haushalte können sich nur zwei Mahlzeiten pro Tag leisten.

Am 28.  April löste Duques geplante Steuerreform den Protest wieder aus. Ziel der Reform war es, die riesigen Staatsschulden und das steigende Haushaltsdefizit zu finanzieren. Drei Viertel dieser Reform wären auf Kosten der Arbeiterklasse gegangen, insbesondere der ärmsten Schichten.

Die Regierung hat keinen Spielraum, was eigentlich das Ergebnis der globalen Krise des Kapitalismus ist, verschärft durch die Pandemie. Darüber hinaus drückt sich die Herrschaft des US-Imperialismus über Kolumbien in einer erstickenden Auslandsverschuldung von 51,8 % des BIP aus. Die Wahrheit ist: Der Regierung steht das Wasser bis zum Hals. Gerade deshalb kann sich die Regierung keine andere Antwort als die brutale Repression der Proteste leisten.

Weiter mit dem revolutionären Kampf!

Die Bewegung hat eine historische Leistung erbracht: Sie hat die Regierung in die Knie gezwungen! Doch das konnte die Proteste nicht stoppen. Demonstranten rufen Slogans, die den tiefen Unmut der Bevölkerung widerspiegeln, wie «Der Streik endet nicht» und «El pueblo unido jamás será vencido» (Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden).

Weder Repression, Militarisierung, noch die Angst vor der Pandemie schaffen es, die mächtige Mobilisierung der Massen zu stoppen, die besonders durch die starke Präsenz der Jugend geprägt ist. Die kühnen Forderungen des Nationalen Streikkomitees reichen von der Rücknahme der Gesundheitsreform von 2010 über die Inhaftierung des Finanzministers, die Auflösung der ESMAD, den Rücktritt des Verteidigungsministers Diego Molano und schliesslich von Präsident Duque.

Diese Forderungen sind richtig und zeigen, in welche Richtung die Bewegung gehen sollte. Doch die Massen können nicht ewig auf der Strasse ausharren. Ohne klares Programm riskieren sie, die schon errungenen Siege zu verlieren. Die Bewegung braucht Organisation und muss sich die Strukturen geben, mit denen sie ihre Ziele erreichen kann. Und genau das fehlt: Die Gewerkschaften, die überhaupt erst zum Streik aufgerufen hatten, haben sie im Stich gelassen. In der Tat zeichnet sich der Aufstand, wie in Myanmar und Palästina, durch seine Spontaneität und seine fehlende Führung aus. 

Die Bewegung muss sich in Quartier- und Stadtversammlungen organisieren und diese national vernetzen. Das Streikkomitee sollte zu einem nationalen Kongress aufrufen, wo Delegierte aus allen Versammlungen einen Plan zum Sturz der Regierung von Duque beschliessen können. Gegen die Repression müssen Verteidigungskomitees organisiert werden.

Nur so können die kolumbianischen Massen den Kampf bis zum Sieg führen! Eine sozialistische Revolution in Kolumbien kann der Funke für Aufstände in anderen lateinamerikanischen Ländern werden. Wir erklären allen kolumbianischen Genossen unsere volle Unterstützung. Es ist an der Zeit, dass die Arbeiterklasse der Welt vereint und Seite an Seite kämpft, um dieses System zu stürzen, das nur Ausbeutung, Elend, Hunger und Unterdrückung bringt.

Die Welle an Massenaufständen setzt sich fort

Die Pandemie setzte der Wellen an Massenprotesten in Lateinamerika vorübergehend einen Deckel auf. Doch die angestaute Wut sprengt diesen nach und nach weg. Spätestens mit der Bewegung in Kolumbien läuft der rote Faden wieder weiter.

Der „rote Oktober“ 2019 hat einigen herrschenden Klassen einen horrenden Schrecken eingejagt. Konzessionen und die Pandemie erlaubte eine kurze Verschnaufpause. Doch die grundlegenden Probleme wurden nirgends gelöst. Im Gegenteil. Die Pandemie liess Arbeitslosigkeit, Hunger und die Staatsverschuldung überall hochschnellen. Die Wirtschaft schrumpfte um 7% im 2020. 30% der weltweiten Covid-Toten kommen aus dieser Region (wo nur 8% der Weltbevölkerung leben). Für die Mehrheit der Bevölkerung besteht das Leben aus täglichen Strapazen.

In Paraguay und Kolumbien führte diese Situation bereits letztes Jahr, trotz Virus, zu enormen Massendemonstrationen. Dieses Jahr beginnen die Dämme des Klassenkampfes überall zu brechen: In Chile kam es zu grossen Streiks der Hafenarbeiter gegen die Rentenreform. Bei den Wahlen zur konstituierenden Versammlung erlitt die regierende Reche eine schallende Niederlage. In Peru erreichte der Linkskandidat Pedro Castillo bei den Präsidentschaftswahlen die zweite Runde und hat eine reelle Chance Präsident zu werden.  Die letzten fünf Präsidenten stehen oder standen wegen Korruption vor Gericht. Castillos Erfolg verkörpert, genauso wie die Wahlen in Chile, für Hunderttausende die Rückweisung der bestehenden Ordnung.

Die Situation führt uns schnell zum Vergleich mit der Krise von 1929. Nach dem Krach wurden die Regierungen Lateinamerikas reihenweise zwischen Imperialismus, Wirtschaftskrise und den revoltierenden Massen aufgerieben. Entscheidend ist, ob die unterdrückte Mehrheit die angestauten Widersprüche diesmal selber löst. Die Welle beweist jedenfalls eindrücklich, dass weltweit eine Ära an revolutionären Bewegungen begonnen hat.

Die Redaktion Der Funke
14.06.2021

Bildquelle: marxist.com, fair use, von 2019