Plötzlich ist eine Idee wieder im Gespräch, die in bürgerlichen Kreisen lange verpönt war: die Verstaatlichung lebensnotwendiger und strategischer Bereiche in Wirtschaft und Infrastruktur.
Ein Artikel unserer deutschen Schwesterorganisation.

«Spain has nationalized all of its private hospitals» (Spanien hat alle privaten Krankenhäuser verstaatlicht), lautete eine Meldung, die seit vergangenen Montag die Runde macht. Dies wurde auch im liberalen britischen Guardian berichtet und hat in sozialen Netzwerken viele begeisterte «Likes» und Diskussionen ausgelöst. Na endlich, sagen sich viele. Warum nicht auch in unserem Land? Das Gespenst der Verstaatlichung geht wieder um.

Nach genaueren Recherchen ist es im Fall der spanischen Krankenhäuser aber nicht einmal eine Enteignung oder wie auch immer geartete Verstaatlichung im sozialistischen Sinn. So viel Mut hat auch die neue linke, gemäßigt reformistische Minderheitsregierung in Madrid derzeit nicht. Ganz aus der Luft gegriffen ist die Schlagzeile allerdings nicht. Der sozialdemokratische Gesundheitsminister Salvador Illa stellte für eine bessere Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie alle staatlichen Krankenhäuser im Land unter staatliche Kontrolle und verkündete die Beschlagnahme privater Gesundheitseinrichtungen und leerstehender Hotels für Corona-Patienten. Er forderte Hersteller und Lieferanten von medizinischen Geräten und Hygieneartikeln auf, der Regierung binnen 48 Stunden die Bestände zu melden. So handelt es sich hier um einen Eingriff in das Privateigentum. Der Staat bzw. die Öffentliche Hand verschafft sich Zugriff auf die Einrichtungen und Ausrüstung der privaten Kliniken und Einrichtungen. Hintergrund ist die immer katastrophaler werdende Situation bei der Bekämpfung des Coronavirus im spanischen Gesundheitswesen. Bis heute wurden bereits über 1000 Corona-Todesfälle gezählt.

Fiasko Privatisierung – zentrale Lenkung und Planung nötig

Eine solche Maßnahme ist durchaus ein kleiner Fortschritt und Hinweis darauf, dass die Politik der Privatisierung, das Diktat des privaten Profits und die «Marktwirtschaft» im Gesundheitswesen versagt haben. Und dass eine zentrale Lenkung und Planung notwendig ist. Der jetzige Krisenfall verdeutlicht also genau das, was linke Privatisierungskritiker seit vielen Jahren betonen.

Von Verstaatlichung und staatlichem Zugriff als Option redet man übrigens nicht nur in Madrid. So will nun auch die französische Regierung notfalls Unternehmen verstaatlichen, um einen Zusammenbruch zu verhindern. Man werde «alle Mittel ergreifen, um große französische Unternehmen zu schützen», sagte Wirtschaftsminister Bruno Le Maire. Dazu gehöre ausdrücklich auch eine staatliche Beteiligung an Unternehmen bis hin zur kompletten Verstaatlichung, so der Politiker, der für Frankreich mit dem Einbruch einer wirtschaftlichen Rezession rechnet.

Ähnlich haben sich jüngst auch Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) geäußert. Auch für sie kommt in der aktuellen Krise eine (vorübergehende) Beteiligung des Staates an «strategisch wichtigen Unternehmen» bis hin zur Verstaatlichung in Frage. Thüringens Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) kündigte die Bildung eines «Thüringen-Fonds» an, über den der Freistaat vorübergehend Beteiligungen an «strategisch wichtigen Unternehmen» eingehen könnte. Vor der 2008 hereinbrechenden Wirtschaftskrise war Tiefensee noch ein begeisterter Privatisierer. Als damaliger Bundesverkehrsminister im ersten Kabinett Merkel setzte er auf einen Börsengang der Deutschen Bahn (DB). Nur der Einbruch der Krise verhinderte damals die Teilprivatisierung.

Unterdessen verkündete die italienische Regierung die Wieder-Verstaatlichung der teilprivatisierten Luftfahrtgesellschaft Alitalia. New Yorks Bürgermeister Bill de Blasio forderte im Zusammenhang mit der Corona-Bekämpfung eine «kriegsartige» Mobilisierung und Verstaatlichung der Versorgungskette für notwendige Medizinprodukte wie Desinfektionsmittel und Beatmungsgeräte.

Eingriffe zur Rettung des Kapitalismus

Wenn bürgerliche Politiker, die jahrzehntelang Privatisierung und freie Marktwirtschaft predigten und propagierten, von Verstaatlichung reden, schweben ihnen natürlich keine sozialistischen Grundsätze und selbstverwalteten Musterbetriebe vor. Es geht ihnen letztlich um staatliche Eingriffe zur Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems. Dies ist an sich nichts Neues. Schon 1938 verstaatlichte die mexikanische Regierung unter Präsident Lázaro Cárdenas die heimische Ölindustrie. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als das kapitalistische System in weiten Teilen Mittel- und Südeuropas angeschlagen am Boden lag und sich in Osteuropa und China unter stalinistischer Herrschaft und Regie Planwirtschaften nach dem Vorbild der Sowjetunion entwickelten, blieb der herrschenden Klasse nichts anderes übrig, als durch massive Intervention des Staates ihr eigenes System zu retten. So wurde in Ländern wie Großbritannien, Frankreich, Italien oder Österreich die Verstaatlichung von lebensnotwendigen Bereichen und wichtigen Industriezweigen vorangetrieben, die zuvor von den privaten Besitzern heruntergewirtschaftet und vernachlässigt worden waren. Der britische Staat übernahm unter der Labour-Regierung des Attlee ab 1945 Eisenbahnen, Kohlebergbau und Stahlwerke und richtete den staatlichen Gesundheitsdienst NHS ein. Die selbe Attlee-Regierung bremste jedoch als Besatzungsmacht in Westdeutschland die Sozialisierung der Schwerindustrie aus.

Volkswagen war nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus 1945 jahrelang ein hundertprozentiger Staatskonzern. Erst ab 1960 wurde die materielle Privatisierung vorangetrieben und mit einer breit angelegten «Volksaktien»-Propaganda verbrämt. Nach wie vor hat das Land Niedersachsen mit rund einem Fünftel der VW-Aktien Einfluss und eine gesetzlich garantierte Sperrminorität. Immer wieder übernahmen selbst konservative Regierungen angeschlagene Betriebe, um sie zu sanieren und später wieder zu privatisieren. So verstaatlichte die konservative britische Regierung unter Edward Heath 1971 den angeschlagenen Motorenhersteller Rolls Royce. Die konservative Premierministerin Margaret Thatcher privatisierte die Firma 1987. In Niedersachsen übernahm Gerhards Schröders SPD-Landesregierung 1998 gemeinsam mit der NordLB die Mehrheitsanteile an der Preussag-Stahl AG in Salzgitter.

All dies waren keine Schritte in Richtung Sozialismus, sondern letztlich staatskapitalistische Maßnahmen. Für einen Übergang zum Sozialismus wäre es notwendig, dass die maßgeblichen und tonangebenden Konzerne, Banken und Versicherungen verstaatlicht, in einen demokratischen Produktionsplan einbezogen und der Kontrolle durch die Arbeiterklasse unterstellt werden. Die Verstaatlichungen waren allerdings ein Fortschritt, weil so eine bessere Entwicklung der Produktivkräfte möglich wurde, wohingegen Privatisierungen auch im Kapitalismus gesamtgesellschaftlich ein Rückschritt sind. Daher ist es für uns selbstverständlich, dass wir jeden Kampf gegen die Privatisierung staatlicher Betriebe und Einrichtungen aktiv unterstützen. «Das Staatseigentum an den Produktivkräften ist nicht die Lösung des Konflikts, aber es birgt in sich das formelle Mittel, die Handhabe der Lösung. Die Lösung kann nur darin liegen, dass … die Gesellschaft offen und ohne Umwege Besitz ergreift von den – jeder anderen Leitung außer der ihrigen – entwachsenen Produktivkräften», brachte es einst Friedrich Engels im «Anti-Dührung» treffend auf den Punkt.

Nach den Jahrzehnten des Nachkriegsaufschwungs gingen die herrschende Klasse und ihre politischen Vertreter seit den 1980er Jahren wieder verstärkt in die Offensive. So wurden Bereiche wie Bahn, Post, Telekom, Energie, Flughäfen, Gesundheitswesen und weitere öffentliche Bereiche und Betriebe, die zuvor unter der öffentlichen Hand einigermaßen gut funktioniert hatten, oftmals privatisiert und zerschlagen. Hier ging es jedoch nicht um irgendeine neoliberale Ideologie, sondern vor allem darum, dem Kapital zusätzliche und weitgehend risikolose Anlagemöglichkeiten zu eröffnen. Damit wurden gleichzeitig auch starke und gut organisierte Belegschaften geschwächt und gespalten. Während Privatisierung viele Jahre lang von Bürgerlichen und vielen Sozialdemokraten als Allheilmittel oder vermeintlicher Sachzwang angepriesen wurde, wurden damit rückblickend viele negative Folgen für Beschäftigte und den Großteil der Bevölkerung angerichtet. Die Corona-Pandemie macht dies deutlich. Es ist ein Widersinn, wenn ausgerechnet jetzt die Welle der Schließung kleinerer Krankenhäuser in ländlichen Bereichen weiter geht.

Enteigungen gehören übrigens auch im Kapitalismus zum Alltag: Besitzer von Grundstücken werden gegen ihren Willen enteignet, wenn ihr Stück Land einer Autobahn, Bahntrasse, Landebahn oder der Europäischen Zentralbank in Frankfurt im Wege steht. 2017 beschlossen Bundestag und Bundesrat auf Anregung des damaligen Landwirtschaftsministers Christian Schmidt ein Gesetz zur Enteignung von Lebensmittelbetrieben im Krisenfall. In der letzten Wirtschaftskrise wurden von der damaligen Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD Banken verstaatlicht, um später wieder zum Wohle des Kapitals privatisiert zu werden. Angesichts der Coronakrise und einer hereinbrechenden Weltwirtschaftskrise beginnen nun viele Regierungen Rettungspakete für Banken und Konzerne zu schnüren. Wenn diese unter anderem (Teil-)Verstaatlichungen beinhalten, werden hier hohe Entschädingungsummen für die privaten Eigentümer ausstehen. Die Zeche soll später die Arbeiterklasse bezahlen und die Folgen der Krise werden harte Angriffe sein.

Was nun?

Der Kampf gegen das Coronavirus wird zwangsläufig im Kampf gegen die Auswirkungen der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise aufgehen. Wir erfahren jetzt auf Schritt und Tritt, dass das kapitalistische System unseren akuten Lebensinteressen nicht gerecht wird. Wie sehr das Privateigentum an Produktionsmitteln und bürgerliche Patentrechte im Interesse des privaten Profits unter extremen Umständen tödlich sein können, zeigt eine aktuelle Meldung aus Norditalien. Dort benötigte ein Krankenhaus in der Stadt Chiari bei Brescia dringend Nachschub an Kunststoffventilen für Beatmungsgeräte zur lebensrettenden Behandlung von Corona-Patienten. Der übliche private Produzent und Lieferant der Ventile erklärte, dass er die Ventile nicht rechtzeitig herstellen und liefern könne, um die Patienten zu behandeln. Zwei Helfer, die bei einem Start-Up arbeiten, baten die Firma um Blaupausen, mit denen sie die Ventile für Coronavirus-Behandlungen rasch über ihren 3D-Drucker produzieren könnten. Das Unternehmen lehnte ab und drohte mit einer Klage wegen Verletzung der Patentrechte. Die beiden Helfer ließen sich jedoch nicht irritieren und sorgten für eine rasche Vermessung und Produktion der Ventile per 3D-Drucker. Die so rasch produzierten Ventile kosteten pro Stück einen Euro, während der offizielle Verkaufspreis beim Medizinproduktehersteller bei etwa 11.000 US-Dollar liegt. Darum: Gesundheitsindustrie in öffentliche Hand und unter demokratische Kontrolle! Menschenleben statt Profite!

2009 rettete der Bund die angeschlagene Commerzbank mit hohen zweistelligen Milliardenbeträgen. Er hätte die Bank ganz legal komplett übernehmen können. Weil dies ausblieb, konnten die Manager seither munter Cum-Ex-Deals zu Lasten der Steuerkasse betreiben. Schluss damit! Verstaatlichung der Banken und demokratische Kontrolle gehören jetzt auf die Agenda!

Wenn nun angesichts der Corona-Pandemie und des hereinbrechenden weltweiten Wirtschaftsabschwungs selbst die Bürgerlichen wieder vermehrt ein Eingreifen des Staates fordern und von Verstaatlichung als «Ultima Ratio» reden, sollten wir dies durchaus aufgreifen – aber in unserem Sinne. Das heißt: offensiv die Enteignung der großen, «strategisch notwendigen» Konzerne, Banken, Versicherungen und aller Bereiche zu fordern, die der Grundversorgung dienen. Entschädigung an Kleinaktionäre nur bei erwiesener Bedürftigkeit. Betriebe unter demokratische Kontrolle. Lasst die Beschäftigten ran! Sie sind die Experten und können es besser als die abgehobenen Manager!