Die europäischen Eliten haben Griechenland zum Experimentierfeld für ihre Pläne zur Überwindung der Eurokrise auserkoren. Der Sparkurs, auf dem Merkel & Co. bestehen, führt zu einer sozialen und humanitären Katastrophe.

Die Arbeitslosenzahl ist von 2009 bis 2012 von 9,5% auf 26% (bei Jugendlichen unter 25 Jahren: 56,4%) gestiegen. Bis heute verlieren schätzungsweise 30.000 Menschen jeden Monat ihre Arbeit. Doch auch wer noch Arbeit hat, hat nicht viel davon, denn der Nettomindestlohn für Vollzeitbeschäftigte über 25 Jahren beträgt nach massiven Kürzungen (einschliesslich der Auflösung aller Kollektivverträge) nur noch 427€, das ergibt einen Stundenlohn von ca. 2,70€. Nicht nur in dieser Hinsicht fällt der Lebensstandard in Griechenland auf Dritte-Welt-Niveau: So ist der Strompreis seit 2008 um 44% gestiegen. Dies führt zusammen mit anderen Preiserhöhungen und Sondersteuern dazu, dass 50% der Haushalte ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können – weswegen jeden Monat 30.000 Haushalten der Strom abgedreht wird. 15,2% der griechischen Bevölkerung können sich hingegen nicht nur keinen Strom, sondern auch nicht genügend Essen leisten, wogegen der griechische Staat erst dann etwas unternahm, als sich Lehrkräfte über die Unterrichtsstörungen durch vor Unterernährung zusammenbrechende SchülerInnen beschwerten. Nun gibt es an einigen Schulen immerhin ein Stück Obst gratis.

Auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheitsversorgung sieht es kaum besser aus. Auch wenn man zu den Glücklichen gehört, die sowohl versichert sind als auch genug Geld haben, um sich die Spitalsgebühr von 25 Euro (!) überhaupt leisten zu können, ist es nicht gesagt, dass einem geholfen werden kann, denn nach Budgetkürzungen von über 40% kommt es schon einmal vor, dass man seinen Gips selber mitbringen muss.

Die Bedienung der Schulden ist nach kapitalistischer Logik die völlige Zerstörung einer Zivilisation allemal wert, doch diese Denkweise wird von den Betroffenen so nicht geteilt. Sie wollen ein Leben in Würde führen, und sie wollen sich gegen die andauernden Angriffe des Kapitals zur Wehr setzen. Das ist nicht leicht, wenn man wie die Mehrheit der griechischen Bevölkerung kein Geld, kaum Essen und keine Möglichkeit zum Arztbesuch – von „überflüssigem Luxus“ wie Theater-, Museums- oder Konzertbesuchen einmal ganz zu schweigen – hat.

Und doch tun sie es. Hunderte selbstorganisierte Kollektive und Initiativen in ganz Griechenland haben begonnen, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen und der Barbarei des Kapitals die Solidarität der ArbeiterInnenklasse entgegenzusetzen. Sie kümmern sich nicht nur um die Befriedigung der dringendsten Bedürfnisse der Menschen (Nahrung, Gesundheit, Bildung usw.), sondern vermitteln den Menschen dadurch auch das Bewusstsein darüber, dass sie es nicht nötig haben, sich von der herrschenden Klasse und ihrem Staat wie Tiere behandeln zu lassen.

Diese Projekte entstehen für gewöhnlich in Stadtteilen, wo sie aus offenen Stadtteilversammlungen, vergleichbar mit den spanischen Asambleas, unter demokratischer Mitbestimmung aller Beteiligten hervorgehen. Dabei spielt das Element der direkten Partizipation und Selbstorganisation eine zentrale Rolle. In jüngster Zeit haben auch die Gewerkschaften GSEE und ADEDY begonnen, Solidaritätsinitiativen aufzubauen.

Die griechische Solidaritätsbewegung deckt unzählige Bereiche ab. Nur einige der allerwichtigsten sollen hier beispielhaft erwähnt werden: Es gibt selbstorganisierte Kliniken und Apotheken, die die Menschen nach dem Zusammenbruch des öffentlichen Gesundheitssystems weiterversorgen. Es gibt öffentliche Tafeln und Volksküchen, die nicht nur Essen verteilen, sondern auch streikende ArbeiterInnen und DemonstrantInnen versorgen und deren Veranstaltungen immer öfter in politische Diskussionsabende übergehen. Es gibt Solidaritäts-Nachhilfeunterricht, Solidaritäts-Theater, Kinos, Kulturinitiativen, antifaschistische Gruppen und dergleichen noch sehr viel mehr – und alle diese Strukturen bieten ihre Dienste natürlich völlig umsonst an, sind von Organisierenden und KonsumentInnen gleichermassen demokratisch völlig mitbestimmt und funktionieren nach einem klar antikapitalistischen Grundkonsens.

Darüber hinaus gibt es eine stark anwachsende Strömung in der Solidaritätsbewegung, die sich darum kümmert, dass landwirtschaftliche Erzeugnisse ohne ZwischenhändlerInnen direkt zu den KonsumentInnen gebracht werden. Weil so niemand Profit damit macht, sind die Erzeugnisse dadurch natürlich sehr viel erschwinglicher.

Im Zentrum der Solidaritätsbewegung steht die Organisation „Solidarity for All“ (www.solidarity4all.gr), die sich zum Ziel gesetzt hat, die Kommunikation zwischen den einzelnen Projekten zu vereinfachen, ihre Arbeit zu zentralisieren und dadurch effizienter zu machen, sowie der griechischen Solidaritätsbewegung ein einheitliches Gesicht zu geben – vor allem nach aussen hin. Zu diesem Zweck hat die Gruppe vor kurzem mit einer intensiven europaweiten Öffentlichkeitsarbeit begonnen. Dabei arbeitet sie eng mit der griechischen Linkspartei SYRIZA und vor allem mit deren anarchistischen Mitgliedern zusammen.

Nicht wenige Initiativen und Projekte der griechischen Solidaritätsbewegung empfinden sich selbst als Keimzellen einer Revolution. Durch die Solidaritätsbewegung gewinnen immer mehr Menschen in ihrer täglichen Praxis den Eindruck, dass sie weder Chefs noch Löhne brauchen, um produktiv arbeiten und leben zu können.

Mit vollem Nachdruck ist zu sagen: Damit haben sie absolut recht. Allerdings fällt bei der griechischen Solidaritätsbewegung ins Auge, dass sie sich vor allem um die Distribution, also um die Verteilung bereits hergestellter Produkte an die Menschen kümmert. Die Wichtigkeit dieser Arbeit ist keinesfalls zu unterschätzen. Doch schon Marx brachte es auf den Punkt, als er es für „fehlerhaft“ hielt, von der „Verteilung Wesens zu machen und den Hauptakzent auf sie zu legen.” Denn: „Die jedesmalige Verteilung der Konsumtionsmittel ist nur Folge der Verteilung der Produktionsbedingungen selbst. Die kapitalistische Produktionsweise z.B. beruht darauf, dass die sachlichen Produktionsbedingungen Nichtarbeitern zugeteilt sind unter der Form von Kapitaleigentum und Grundeigentum, während die Masse nur Eigentümer der persönlichen Produktionsbedingung, der Arbeitskraft, ist. Sind die Elemente der Produktion derart verteilt, so ergibt sich von selbst die heutige Verteilung der Konsumtionsmittel.“ (Nachzulesen in: Marx, Kritik des Gothaer Programms)

Das bedeutet: Die Wurzel allen Übels ist das Privateigentum an den Betrieben und deren privatwirtschaftliche Verwendung zur Profitmacherei durch Lohnarbeit. Solange Dinge wie Essen und Kleidung von Unternehmern zum Zwecke ihres eigenen Profits hergestellt werden, wird auch die beste Solidaritätsbewegung es nie erreichen, dass alle Menschen genug davon haben. Der einzige Weg, das zu erreichen, wäre die Übernahme der Betriebe, denn: „Sind die sachlichen Produktionsbedingungen genossenschaftliches Eigentum der Arbeiter selbst, so ergibt sich ebenso eine von der heutigen verschiedne Verteilung der Konsumtionsmittel.“ (ebenda)

Wie einige Beispiele aus Griechenland zeigen – zuletzt die spektakuläre Übernahme und Weiterführung des Baustoffherstellers VIO.ME durch die Belegschaft – gibt es durchaus Tendenzen in diese Richtung. Doch bis zu diesem Punkt kann die Hauptforderung der ArbeiterInnenbewegung, in Griechenland und auf der ganzen Welt, nur lauten: Verstaatlichung aller Betriebe unter ArbeiterInnenkontrolle.