Mit einer drastischen Erhöhung des Rentenalters zieht Wladimir Putin den Zorn der russischen Bevölkerung auf sich. Hunderttausende demonstrieren gegen die geplante Konterreform. Und es ist kein Ende in Sicht.

«Verrat», «Betrug», «Ausplünderung» und «Völkermord» heisst es auf den Transparenten der landesweiten Demonstrationen in Russland. Noch im März dieses Jahres stimmten 77% bei den Präsidentschaftswahlen für Putin — wären heute Wahlen, würden nur noch 47% der RussInnen für ihn stimmen. Der Eindruck des unerschütterlichen Präsidenten bekommt gründliche Risse. Der Auslöser liegt in der drastischen Erhöhung des Renteneintrittsalters. Annährend 90% der Bevölkerung lehnen die Konterreform ab.

Nach dem Tod in Rente gehen
Die Reform sieht eine schrittweise Erhöhung des Rentenalters vor. Für Männer von 60 auf 65 Jahre bis zum Jahr 2028, für Frauen von gegenwärtig 55 auf 63 Jahre bis 2034. Dies bei einer Lebenserwartung von nur 67.5 Jahren bei Männern und 77 bei Frauen. Im Schnitt sterben 25% der Männer, bevor sie 55 Jahre alt sind. Beschäftigte im Sicherheitsapparat des Staats können währenddessen bereits zwischen 35 und 45 in Rente gehen! Im Schlepptau der Erhöhung des Rentenalters kam zusätzlich diejenige der Mehrwertsteuer um zwei Prozent, was noch zusätzlich auf den Lebensstandard drückt.

Finanziert wird der Rentenfonds durch Lohnabzüge. Diese werden in Russland regressiv belastet: Personen mit umgerechnet mehr als 1’200 Dollar Einkommen pro Monat zahlen einen Beitragssatz von lediglich zehn Prozent, während solche mit weniger als 1’200 Dollar 22% abgeben müssen — zu ersteren gehören gerade mal 5% der russischen Bevölkerung. Allein die Aufhebung der regressiven Skala würde Mittel freigeben, die das jährliche Defizit des Rentenfonds (2018: vier Milliarden Dollar) um mehr als das Dreifache übersteigen. Erhöhung des Rentenalters bei gleichzeitiger regressiver Besteuerung plus Erhöhung der Mehrwertsteuer — es ist klar, wen Putin zur Kasse bittet: nicht etwa das Kapital, sondern die Lohnabhängigen.

Putin bläst zum Angriff
Ein solch tiefgreifender Angriff auf die ArbeiterInnen ist ein Novum in der Ära Putin. Bisher hatte Putin noch Handlungsspielraum: Die Strategien zur Sanierung des Haushaltes zielten bis dato vornehmlich darauf, die Korruption und die Steuerhinterziehung zu verringern. Sie richteten sich so in erster Linie gegen die Mittel- und Kleinbourgeoisie. So gelang es Putin, Unterstützung sowohl beim Grosskapital wie auch bei RentnerInnen und geringverdienenden ArbeiterInnen auf Kosten der Mittelschichten in den Grossstädten zu erhalten. Nun hat sich dieser Spielraum — der es Putin erlaubte, die Arbeiterklasse nicht frontal angreifen zu müssen — verkleinert. Trotz erwartetem Überschuss im Staatshaushalt von 20 Milliarden Dollar für 2018.

Im Interesse des Kapitals
Bis 2024 sind staatliche Investitionen von 400 Milliarden Dollar geplant, grösstenteils um die verrottende Infrastruktur auf Vordermann zu bringen – Ausgaben, die für die Kapitalakkumulation notwendig sind. Ausserdem muss der Kreml die Abhängigkeit des Staatshaushaltes von hohen Ölpreisen reduzieren: eine Lektion der Jahre 2014 und 2015. Damals hat der Sturz der Ölpreise das Land in eine Rezession gestürzt. Der Wechselkurs des Rubel fiel, die Inflation sprang in die Höhe und die Einkommen der Bevölkerung verloren rund einen Drittel ihrer Kaufkraft. Die neue Haushaltsregel plant mit einem Ölpreis pro Barrel von 40 Dollar (aktueller Preis: 76 Dollar). Die Folgen eines erneuten Preiseinbruches sollen somit abgefedert werden. Um die Kapitalakkumulation sicherzustellen und um für kommende Krisen «gewappnet» zu sein, sieht sich der russische Staat gezwungen, die Arbeiterklasse zur Kasse zu «bitten». Die Antwort auf den Angriff wurde auf der Strasse gegeben.

Die Arbeiterklasse betritt die Arena des Kampfs
Weder Putins Ausrede, die demographische Entwicklung lasse ihm keine andere Wahl; noch die harte Repression gegen die Protestierenden; und schon gar nicht der Taschenspielertrick, die Konterreform am Eröffnungstag der WM (an dem notabene Demonstrationsverbot galt) bekanntzugeben, konnten die Proteste verhindern. Die Regierung versuchte vergeblich zu beschwichtigen. Eine Ansage Putins, dass das Rentenalter der Frau nun doch nicht auf 63, sondern «nur» bis 60 erhöht werde, führte zu keinerlei Beruhigung. Die Proteste dauern seit Juli an.

Über 200’000 Menschen beteiligten sich an Protestkundgebungen. Auch wenn sich die Teilnehmerzahlen in den meisten Städten im tiefen dreistelligen Bereich bewegen, gleicht ihre geographische Ausbreitung und die Breite der teilnehmenden Schichten einem politischen Erdbeben. Es sind nicht wie üblich die Moskauer und Petersburger Mittelklassen, welches auf die Strasse gehen. Putin gleicht dem Zauberlehrling, der Geister heraufbeschwört und dann die Kontrolle über sie verliert: Sein Angriff auf die Arbeiterklasse riss diese mit Gewalt aus der Passivität in die Arena des Kampfes. RentnerInnen und ArbeiterInnen aus allen Ecken des Landes stellen nun die überwältigende Mehrheit der Protestierenden dar. Bis anhin konnte die Regierung auf deren Unterstützung zählen. Anders als in vorangehenden Protesten, in denen es mehrheitlich um die Ausweitung demokratischer Forderungen oder den Kampf gegen Korruption ging, durchzieht nun die soziale Frage die Proteste.

Die Erhöhung des Rentenalters gleicht für den Kreml der Büchse der Pandora: In Kritik gerät nicht nur die besagte Reform, sondern auch die Unantastbarkeit der Oligarchen, die Gehälter der Staatsbeamten und die aufgeblasene Bürokratie. Die im Land vormals beliebten Interventionen auf der Krim und in Syrien sorgen nun ebenso für Missmut wie auch das Prestigeprojekt der Olympischen Spiele in Sotschi.

Heisser Herbst
Die noch vor kurzem unerschütterlich scheinende Beziehung zwischen Putin und der russischen Arbeiterklasse erlebt tiefe Einschnitte. Dass diese in den Kampf eintrat, stellt eine ernsthafte Gefahr für Putin dar. Es fehlt jedoch an einer revolutionären Kraft, welche die Proteste und die dahintersteckende Wut kanalisieren könnte. Der Widerstand gegen die Rentenreform könnte sich also fürs Erste totlaufen. Doch die Unzufriedenheit wird bleiben. Die Proteste könnten aufgrund vermeintlich unbedeutender Anlässe wieder entfachen und aufgrund der gemachten Erfahrungen noch stärker hervortreten. Russland steht ein heisser Herbst bevor.

Arman S.
Marxistischer Verein Unibe