In ganz Deutschland und international blicken in diesen Tagen viele arbeitende Menschen, Gewerkschafter, Jugendliche, Antifaschisten und linke Aktivisten nach Sachsen und fragen sich, ob die in den letzten Tagen sichtbare Welle rechter Gewalt nur die Spitze des Eisbergs ist, der ein noch größerer Sturm folgen wird.

Gleichzeitig hat der Schock von Chemnitz und Dresden jetzt viele Antifaschisten aufgerüttelt und eine neue Protestbewegung gegen die rechten Umtriebe angestossen. Sind das nur Zufälle oder ist der sächsische Staatsapparat bereits in hohem Masse mit dem braunen Neonazisumpf verbandelt? Diese bange Frage stellen sich angesichts der jüngsten Ereignisse viele aufmerksame Beobachter. Erst in der vergangenen Woche musste ein staunendes Fernsehpublikum mit ansehen, wie in Dresden am Rande einer Pegida-Demonstration ein fanatischer, aufgebrachter Pegida-Anhänger ein ZDF-Kamerateam bedrohte. Er rief sächsische Polizisten herbei, die die Journalisten länger festhielten und an der Ausübung ihres Berufs und ihrer Recherchearbeit hinderten. Der Mann arbeitet hauptberuflich beim Landeskriminalamt und befand sich angeblich in Urlaub. Unter öffentlichem Druck wurde er inzwischen in eine andere Stelle im öffentlichen Dienst des Landes versetzt.

Nachdem in Chemnitz, der drittgrössten Stadt Sachsens, am Wochenende beim örtlichen Stadtfest etwa zehn Personen unterschiedlicher Nationalität im Streit aneinandergerieten und drei von ihnen schwer verletzt wurden, erlag dem Vernehmen nach ein 35-jähriger Deutsch-Kubaner und Familienvater später im Krankenhaus seinen Verletzungen. Das über soziale Netzwerke von der rechten Szene verbreitete Gerücht, wonach an dem Streit beteiligte Migranten Frauen belästigt hätten und für den Tod verantwortlich seien, reichte aus, um kurzfristig bereits für Sonntagabend knapp 1000 offensichtlich mobilisierte Menschen in die Chemnitzer Innenstadt zu bewegen. Ein Teil startete eine Hetzjagd auf Migranten und vermeintlich migrantisch aussehende Personen, die sich zufällig in der Stadt aufhielten. Die Angegriffen flüchteten unter Lebensgefahr über eine stark befahrene Strasse. Auch Polizisten seien nach Augenzeugenberichten mit Steinen und Flaschen beworfen worden. Augenzeugen berichteten von einem «teils zögernden Eingreifen von Polizeibeamten» gegen die Gewaltausbrüche.

Die rasche Mobilisierung brachte verschiedene rechtsradikale Gruppen, Fussballhooligans und Neonazikader zusammen auf die Strasse und zeigte, wie stark diese Szene inzwischen in der Stadt verwurzelt und vernetzt ist. Es ist kein Zufall, dass Chemnitz der Neonaziterrorbande NSU und insbesondere dem untergetauchten NSU-Trio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe ab 1998 für längere Zeit Unterschlupf bot, ohne dass dies aufgefallen wäre. Dieses Trio tourte bis zur Aufdeckung im November 2011 jahrelang mordend durch die Republik.

Die Serie der Demos von gewaltbereiten Rechten in Chemnitz geht weiter, die Rechten mobilisieren inzwischen regional und überregional und viele von ihnen sind entschlossen, zu zeigen, wer in der Stadt die Hoheit über die Strasse hat. Die Ereignisse erinnern an die rechten Übergriffe und Pogrome, die Anfang der 1990er Jahre in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Mölln und Solingen auf Migranten zielten und Menschenleben kosteten.

Die Rechtspartei AfD, die vor einem Jahr bei der Bundestagswahl in Chemnitz 24,3 Prozent der Stimmen errungen hatte, versuchte aus dem tragischen Tod Honig zu saugen und mobilisierte gemeinsam mit Pegida, Kameradschaften, Neonazi-Parteien und rechten Hooligans für Montag zu einer weiteren Demo. Der für seine Anlehnung an Nazisprüche bekannte Bundestagsabgeordnete Markus Frohnmaier rief über Twitter zur rechten Selbstjustiz auf: «Wenn der Staat die Bürger nicht mehr schützen kann, gehen die Menschen auf die Strasse und schützen sich selber. Ganz einfach.» Bei der Demonstration am Montagabend mit mehreren tausend Menschen zeigten Teilnehmer offen den Hitlergruss. Sie skandierten nach einem Bericht der linken Tageszeitung neues deutschland (nd) ausländerfeindliche Parolen wie «Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!», «Schlagt den Roten die Schädeldecke ein!» und «Wir kriegen euch alle!»

Weiter schreibt der nd-Korrespondent: «… Du wirst sehen, dein Gehirn läuft auch noch aus», sagt ein Versammlungsteilnehmer zu einem Journalisten. Dieser informiert einen Polizisten, von dem jedoch keine Reaktion kommt. Neonazis schlagen einem Reporter das Handy aus der Hand. Auch am Tatort des Messerangriffs werden Journalisten bedrängt. Mit zunehmender Dunkelheit ziehen sich immer mehr Medienschaffende zurück.

Nach rund 90 Minuten erreicht die Demonstration den Ausgangspunkt und damit ihr Ziel. Die Polizei hat die Kontrolle über die rechte Versammlung weitestgehend verloren. Einzelne Gegendemonstranten werden noch zurückgedrängt. Böller fliegen, Gruppen beginnen zu rennen, vereinzelte Schreie. «Wir kommen wieder», skandiert der Mob. Die Polizei gibt noch in der Nacht zu, dass sie zu wenige Beamte im Einsatz hatte. Sie habe mit Hunderten, nicht mit Tausenden Rechten gerechnet. Festnahmen gab es keine.»

Solche Szenen mitten in Deutschland sind eine Herausforderung für die Arbeiterbewegung, die Linke und alle Antifaschisten in diesem Lande. Sie werfen viele Fragen auf, die wir dringend beantworten müssen. Dass in den ostdeutschen Bundesländern und insbesondere in Sachsen der Nährboden für die Rechtsradikalen und Faschisten geschaffen wurde, hat viel mit den Folgen und Begleitumständen der Restauration des Kapitalismus auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zu tun. Einkommen und Lebensverhältnisse im Osten sind auch nach bald 30 Jahren schlechter als im Westen.

Die Verfilzung der von Westbeamten seit 1990 im Osten neu aufgebauten Organe der Staatsgewalt mit der rechten Szene scheint insbesondere in Sachsen schon weit fortgeschritten zu sein. Vergessen wir nicht, dass der Inlandsgeheimdienst Verfassungsschutz durch ein System gut alimentierter V-Leute die rechte Szene mit finanziert und am Leben erhält. Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern zum «Behördenversagen» im Zusammenhang mit dem NSU-Terror haben schockierende Ergebnisse zu Tage gefördert. Viele Fakten wurden vertuscht.

Kurzum: Im Kampf gegen Faschismus und rechte Gewalt können wir uns nicht auf die Staatsorgane verlassen. Dies haben am Mittwoch auch über 300 Stuttgarter Antifaschisten hautnah erfahren, als sie sich in der Stadtmitte zu einer Solidaritäts-Kundgebung unter dem Motto «Dem rechten Mob keinen Meter» trafen. Eine anschliessende Spontandemonstration wurde von der Polizei gewaltsam gestoppt.

In Chemnitz wird deutlich, dass die AfD, die sich im Westen eher bieder und nationalkonservativ geben will, vor allem im Osten zunehmend den Schulterschluss mit faschistischen Organisationen sucht und sich als angebliche «Arbeiterpartei» aufspielt. Im nächsten Jahr sind Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen sowie Europawahlen. Eine Polarisierung mit heftigen Auseinandersetzungen steht an. Es bestehen bereits Pläne von Seiten der AfD, im Osten eine «national-soziale» Ausrichtung zu vollziehen, um noch grössere Schichten der Arbeiterklasse zu gewinnen.

Wir müssen uns selbst schützen – etwa durch eigene disziplinierte Ordnerdienste bei Veranstaltungen. Wir müssen uns schützend vor alle stellen, die ins Visier des braunen Mobs geraten. Gewerkschaften, LINKE und linke Organisationen, antifaschistische und Migrantenvereine müssen zusammenstehen. Um die Gefahren des gewaltbereiten Faschismus zu erkennen, brauchen wir aber keinen Verfassungsschutz und auch nicht mehr Polizei, sondern die detaillierten Erkenntnisse linker Antifaschisten und vor allem mehr Klassenkampf. Der sechswöchige Streik bei Neue Halberg Guss in Leipzig und Saarbrücken wurde leider Ende Juli unterbrochen, ohne dass die Schlichtung bisher ein Ergebnis gebracht hätte. Dabei könnten genau solche Kämpfe mit Unterstützung durch eine breite Solidaritätsbewegung in Ost und West zeigen, dass die Arbeiterbewegung lebt und die potenzielle Macht hat, um die prekären Lebensverhältnisse radikal zu verbessern. Sonst werden manche verzweifelten Menschen weiter in die Arme der rechten und faschistischen Demagogen getrieben. Daher ist es höchste Zeit, dass der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften die Illusionen in die Sozialpartnerschaft und den vermeintlich neutralen Staat über Bord werfen und sich der Realität stellen.

Wer wirksam gegen die rechte Offensive und die AfD handeln möchte, sollte in den nächsten Tagen seine Arbeitskolleginnen und -kollegen, Nachbarn und Freundeskreis aufrütteln und auf die Strasse gehen. Darüber hinaus müssen wir jetzt erst recht gegen den Status Quo und für ein revolutionär-sozialistisches Programm in der Arbeiterbewegung kämpfen. Ein Programm zur Überwindung des Kapitalismus ist der einzige Weg, um einem Krisensymptom wie dem Neofaschismus und der AfD den Boden zu entziehen. Und dies nicht nur auf nationaler, sondern internationaler Ebene.

Hans-Gerd Öfinger, derfunke.de