Am 24. Juni will sich Erdogan zum Sultan der Türkei wählen lassen. Doch hinter den Kulissen wackelt der Thron des Sultans immer heftiger. Seine Achillessehne ist die Wirtschaft.

Die vorgezogenen Neuwahlen sind ein Versuch Erdogans, seine Macht als Präsident des Landes für die nächsten fünf Jahre zu festigen. Nach aussen tritt er als starker Mann vom Bosporus auf; im Innern kämpft er um sein politisches Überleben. Bereits vor einem Jahr konnte Erdogan ein Referendum trotz brutaler Repression und Kriminalisierung der Opposition nur dank massiver Wahlfälschung für sich entscheiden – mit gerade mal 51% der Stimmen. Währenddessen leidet der Lebensstandard der Bevölkerung unter der Inflation und verstärkter Ausbeutung. Keines dieser Probleme wird Erdogan lösen.

Wieso Neuwahlen?
Mit den Neuwahlen will Erdogan den Umbau des Landes zu einer präsidialen Republik abschliessen. Dass dieser Schritt jetzt kommt, hat drei Gründe. Erstens sollte die Opposition überrumpelt werden. Die neu gegründete IYI-Partei (eine Abspaltung der faschistischen MHP) sollte wegen Formalitäten von den Wahlen ausgeschlossen werden. Dieser Versuch ist mittlerweile gescheitert, weil die Republikanische Volkspartei (CHP) 15 Abgeordnete an IYI ausgeliehen hat; wodurch dieser die Teilnahme ermöglicht wurde. Zweitens soll die nationalistische Euphorie um die Besatzung von Afrin in Stimmen für die AKP umgemünzt werden. Drittens droht der Türkei eine Krise. Die gesamte Wirtschaft ist hoffnungslos überschuldet und die Inflation ist hoch. Neuwahlen in einer Wirtschaftskrise wären Erdogans politischer Untergang – dem will er zuvorkommen. Offensichtlich agiert er nicht aus einer Position der Stärke, sondern unter grossem Druck.

Die politische Krise
Der Aufstieg der AKP in den 2000er Jahren ist eng verbunden mit dem Wirtschaftswachstum und der Industrialisierung Anatoliens. Doch seit 2011 verlangsamte sich das BIP-Wachstum von 11% auf 4%. Unmut gegen die AKP äusserte sich in der Gezi-Bewegung 2013, nach den Minenkatastrophen in Suruç und Soma und schliesslich 2015 im Einzug der HDP (Wahlbündnis von kurdischen und türkischen Links-Parteien) ins Parlament.
Diese Opposition, verbunden mit der demokratischen Revolution in Rojava, stellte eine Bedrohung für Erdogans gross-türkische Ambitionen dar. Als Reaktion darauf führte die Türkei Krieg gegen die kurdische Bevölkerung und unterdrückte die HDP. Ein Fünftel der HDP-ParlamentarierInnen und zahlreiche Mitglieder sitzen im Gefängnis – unter ihnen der HDP-Präsidentschaftskandidat Demirtas. Das hat die Bewegung verständlicherweise zurückgeworfen. Der Kampf für das kurdische Selbstbestimmungsrecht wurde dadurch vom Klassenkampf in der Türkei isoliert. Aber trotz der Repression ist es Erdogan nicht gelungen, die Ursache für die Unzufriedenheit mit seiner Politik zu beseitigen.
Mittlerweile erodiert selbst die Unterstützung in der AKP-Hochburg Anatolien. Unter der AKP-Regierung wurde die Region industrialisiert. Kleine Dörfer entwickelten sich zu modernen Industriestädten. Damit hat sich auch eine neue ArbeiterInnenklasse gebildet. Solange sich der Lebensstandard dieser Schichten verbesserte, unterstützten sie die AKP, der sie diesen Wohlstand zu verdanken glaubten. Seit Jahren wächst ihr Lebensstandard nicht mehr und das Vertrauen schwindet langsam. Heute ist der Alltag der Lohnabhängigen geprägt von verschärfter Ausbeutung und bestenfalls stagnierenden Löhnen. Bei 10% Inflation bedeutet das einen Reallohnverlust von 10%.

Streiks im Ausnahmezustand
Seit dem gescheiterten Militärputsch im Juli 2016 ist die Türkei im Ausnahmezustand. Im «Interesse der nationalen Sicherheit» wird das Arbeitsrecht ausgehöhlt. Erdogan sagte dazu vor Unternehmervertretern: «Wir haben den Ausnahmezustand verhängt, um dafür zu sorgen, dass die Wirtschaft problemlos funktioniert. … Wir nutzen den Ausnahmezustand dazu, um Streiks zu verhindern.» Seither wurden Streiks und Gewerkschaften verboten, 150’000 Oppositionelle und AktivistInnen wurden seit Juli 2016 aus dem Staatsdienst entlassen.
Aber dies hat nicht ausgereicht, um Massenproteste zu unterdrücken. Im Dezember 2017 kündigten beispielsweise die Metallgewerkschaften nach erfolglosen Verhandlungen einen Streik von 130’000 ArbeiterInnen an. Dieser wurde umgehend von der Regierung verboten. Trotzdem streikten die Gewerkschaften im Februar. Darauf lenkte der Unternehmerverband ein und übernahm den Grossteil der gewerkschaftlichen Forderungen.
Ein weiteres Beispiel ereignete sich letztes Jahr beim Glasproduzenten Şişecam. Da der Streik für einen neuen Tarifvertrag gesetzlich verboten wurde, verlangsamten die Beschäftigten die Produktion und besetzen die Fabriken. Innert zwei Wochen wurde so ein Tarifvertrag erkämpft. Im Herbst wehrten sich dieselben ArbeiterInnen mit Demonstrationen und Kundgebungen gegen 91 rechtswidrige Kündigungen. Schlussendlich wurden die   gekündigten ArbeiterInnen wieder eingestellt oder erhielten ihre Abfindungen.
Noch sind diese Streiks und Arbeitskämpfe isoliert und stellen für die Regierung keine echte Gefahr dar. Nur etwa sechs Prozent der Lohnabhängigen sind gewerkschaftlich organisiert. Aber ein wirtschaftlicher Einbruch könnte solche Arbeitskämpfe verallgemeinern.

Eine drohende Wirtschaftskrise
International drohen die problematischen Beziehung zur EU oder ein Platzen der aktuellen Spekulationsblase.  Dies sind ernsthafte Risiken für die türkische Exportindustrie. Eine Eskalation hätte Massenentlassungen in der Textil-, Automobil- oder Elektronikindustrie zur Folge. Die damit verbundenen Angriffe auf die Lohnabhängigen würden früher oder später eine Gegenreaktion provozieren.
Ausserdem wird die staatliche und private Auslandsverschuldung mit dem Erstarken des Dollars zu einem brennenden Problem, die das Land in eine Währungs- und Schuldenkrise zu schlittern lassen droht. Bereits jetzt haben viele türkische Unternehmen Probleme, ihre Schulden bei internationalen Investoren zu begleichen. Durch die schrittweise Erhöhung der Leitzinsen in den USA verteuern sich die Schulden der Türkei. Kapital wird aus der Türkei abgezogen, was auch die türkische Lira unter erheblichen Druck setzt. Dies belastet die Profite der türkischen KapitalistInnen weiter. Zum Ausgleich müssen diese die ArbeiterInnen stärker ausbeuten und die Arbeitsgesetze aushöhlen. Doch wenn sich die Lohnabhängigen vereint wehren, können sich die KapitalistInnen in der Türkei nicht durchsetzen.

Eine Gnadenfrist?
Angesichts dieser Situation ist Erdogans Stellung unsicherer als je zuvor. Ein Wahlsieg im Juni könnte ihm eine weitere Gnadenfrist verschaffen. Bereits heute kämpfen ArbeiterInnen erfolgreich um ihren Lebensstandard. Gegen organisierte Arbeitskämpfe sind die KapitalistInnen trotz Repression machtlos. Was fehlt, ist eine Führung der ArbeiterInnenklasse, die diese Kämpfe verallgemeinert und mit einer revolutionären Perspektive verbindet. Denn ob mit oder ohne Erdogan: der türkische Kapitalismus hat den Lohnabhängigen nichts mehr anzubieten. Der Weg vorwärts heisst gemeinsamer Klassenkampf.

Flo D.
JUSO Baselland

 

Bild: www.kremlin.ru (creative commons)