An dieser Stelle möchten wir einen Reisebericht von Rainer Thomann über Griechenland veröffentlichen. Rainer ist Aktivist beim Netzwerk Arbeitskämpfe und hat verschiedene besetzte Betriebe in Griechenland besucht. Er war so freundlich uns diesen Bericht zur Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen.

Nur noch ab und zu berichten die Medien bei uns über Griechenland. Und dann wurde meistens suggeriert, die Wirtschaftslage habe sich verbessert, der Tourismus boome, kurzum es gehe wieder aufwärts. Man könnte daraus den Schluss ziehen, das Land sei zur Normalität zurückgekehrt. [1] Dass dies nicht der Fall ist und dass der kollektive Widerstand gegen die Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen keineswegs erloschen ist, habe ich diesen Herbst, anlässlich der dritten, von deutschen Gewerkschafter_innen und anderen solidarischen Menschen organisierten Solidaritätsreise durch Griechenland, mit eigenen Augen feststellen dürfen.

ENOIKIAZETAIWas bei der Fahrt vom Flughafen ins Zentrum Athens sogleich auffällt, das sind die unzähligen Schilder mit der Aufschrift „ENOIKIAZETAI“. Das ist nicht etwa eine Firmenbezeichnung oder der Name einer Supermarktkette, sondern heisst auf Deutsch: Zu vermieten. 87 geschlossene Geschäfte hat jemand aus unserer Reisegruppe auf dem Weg – kaum 700 m zu Fuss – vom Omonia-Platz bis zum Hotel Exarchion gezählt. In Griechenland hat die globale Krise ganze Arbeit geleistet. Doch aus den Trümmern der bürgerlichen Gesellschaft spriessen die Knospen einer neuen Welt, die auf Selbstorganisation, Gleichberechtigung und Solidarität aufgebaut ist.

Soziale Klinik der Solidarität

„Früher gingen wir nach Lateinamerika, weil es dort eine Art „soziales Labor“ („social factory“) gab. Unmöglich hätten wir uns damals vorstellen können, dass zwanzig Jahre später unser Land zu einem solchen Labor würde“, erzählt eine der Ärztinnen, die sich in der „sozialen Klinik der Solidarität“ in Thessaloniki engagiert. Anfänglich für Flüchtlinge eingerichtet, behandeln dort rund 120 medizinisch Ausgebildete und etwa 80 Hilfskräfte unentgeltlich Kranke aus allen gesellschaftlichen Schichten: Einheimische und Papierlose, Ausgesteuerte ohne Versicherung und solche, die eigentlich Anspruch auf Versicherungsleistungen hätten, jedoch den stark gestiegenen Selbstbehalt nicht bezahlen können. Für Laboruntersuchungen und Behandlungen, die in der Solidaritätsklinik nicht durchgeführt werden können, sucht man die Zusammenarbeit mit den Beschäftigten in den staatlichen Krankenhäusern, wo die Kranken dann an den Chefs vorbeigeschleust und kostenlos behandelt werden.

Der Solidaritätsklinik angegliedert ist eine Apotheke. Die sorgfältig eingeordneten Medikamente stapeln sich bis an die Decke. Auf dem Boden liegen gefüllte Plastiksäcke. „Das ist nur das, was heute angeliefert wurde“, erklärt einer der Helfer, der durch die Klinik führt. Die Leute bringen vorbei, was sie nicht mehr benötigen, oft angebrauchte Packungen. Es ist eindrücklich zu sehen, wie allein damit ganze Solidaritätskliniken versorgt werden können. Davon gibt es mehrere im ganzen Land, allein im Grossraum Athen sind es deren fünf. Vorerst geht es in erster Linie ums Überleben. Gesundheitsvorsorge und alternative Heilmethoden sind daher Themen, die sich angesichts der Zerstörung des griechischen Gesundheitssystems wohl erst in einer lichteren Zukunft stellen werden.

Vio.Me – die selbstverwaltete Fabrik

„Wir haben lange genug mit giftigen Chemikalien arbeiten müssen. Darum wollen wir jetzt Dinge produzieren, die naturnah sind und welche die Menschen wirklich brauchen“, erklärt einer der Arbeiter von Vio.Me anlässlich unseres Besuchs. Nachdem 2011 das Baustoffwerk am Stadtrand von Thessaloniki vom Besitzer in den Konkurs getrieben und die Arbeiter ohne Lohn und Arbeit ihrem Schicksal überlassen wurden, besetzten sie den Betrieb. Am 12. Februar 2013 nahmen sie die Produktion wieder auf. 22 von den ehemals 70 Beschäftigten. Doch diese sind umso entschlossener. Zeit, um über ihre Lage, ihr Leben, die Gesellschaft und die Zukunft nachzudenken, hatten sie lange genug. Nach traditionellen, handwerklichen Verfahren stellen sie heute Seifen und Reinigungsmittel für den Haushalt her. Manche Einrichtungen wirken improvisiert, aber zweckmässig. Die Produkte werden verkauft oder getauscht oder verschenkt. Je nach den Umständen – jede und jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder und jedem nach seinen Bedürfnissen. Vom Erlös werden neue Rohstoffe gekauft und Löhne bezahlt. Jeder bekomme 15 Euro pro Tag, der Rest gehe in „die Solidarität“. Gemeint ist der kollektive, länderübergreifende Kampf für eine solidarische Gesellschaft.

Das revolutionärste an Vio.Me ist wahrscheinlich, dass diese 22 Arbeiter die Logik des Markt und Konkurrenzdenkens, das unser ganzes Leben beherrscht, durchbrochen haben. In der freien Marktwirtschaft besteht die Freiheit hauptsächlich darin, dass die Menschen aus einem kaum überschaubaren Angebot an Waren auswählen können, sofern sie das Geld dazu haben, welche sie kaufen wollen. Und diese Freiheit bezahlen sie mit ihrem Leben: damit, dass sie sich den Zwängen der Lohnarbeit unterwerfen und einen schönen Teil der Freizeit mit Pendeln und Einkaufen verbringen. Wie ein Hamsterrad, das immer schneller dreht. Und jene, die nicht mehr können, fallen heraus und bleiben auf der Strecke: als Arbeitslose, als von der Sozialhilfe Abhängige, als psychisch Kranke, als Obdachlose, wie auch immer der individuelle Schicksalsweg aussehen mag.

Um dem Verkauf der Produkte von Vio.Me einen legalen Rahmen zu verschaffen, wurde eine Genossenschaft gegründet, der auch Aussenstehende als „Solidaritätsunterstützende“ beitreten können. Der monatliche Beitrag beträgt 3 Euro, für Arbeitslose die Hälfte, und kann gegen Produkte getauscht werden. Vio.Me soll der gesamten Gesellschaft gehören, an deren Zukunft auch die Zukunft von Vio.Me geknüpft ist. Vio.Me ist Teil einer sozialen Revolution, die damit begonnen hat, dass die Menschen ihr Leben in die eigene Hand nehmen.

Die „Zeitung der Redakteure“ und „ERT Open“

Wie viele selbstverwaltete Betriebe es in Griechenland gibt, ist schwer abzuschätzen. Vio.Me ist zweifellos der bekannteste. Es gibt noch mindestens zwei weitere, die an der Anzahl der Mitarbeitenden gemessen wesentlich grösser sind: die Tageszeitung „EFIMERIDA TON SYNTAKTON“ (Zeitung der Redakteure) und das ehemalige staatliche Radio- und Fernsehen ERT. Beide Projekte sind ebenfalls aus der Not und dem Kampf geboren.

Als im Dezember 2011 die traditionsreiche griechische Tageszeitung „Eleftherotypia“ (auf Deutsch: Pressefreiheit) Konkurs anmeldete und die Gehälter nicht mehr bezahlte, besetzte die Belegschaft die Zeitungsgebäude und machte eine Zeitlang ohne Chefs und ohne Löhne weiter. In Eigenregie produzierten Journalisten, Techniker und Grafiker als eine Art „Streikzeitung“ einmal pro Woche die „Eleftherotypia der Redakteure“. Nachdem sich abgezeichnet hatte, dass es im Rahmen der früheren Tageszeitung keine Zukunft mehr gab, entschloss sich ein Teil der ehemaligen Angestellten, auf genossenschaftlicher Basis eine neue Tageszeitung zu gründen. Da der Titel „Eleftherotypia“ der insolventen Verlegerin gehörte und nicht verwendet werden durfte, nannten sie ihre Tageszeitung einfach „Zeitung der Redakteure“.

Bei unserem ersten Besuch im September 2012 standen in den Redaktionsräumen erst ein paar Tische und Stühle. Manche unserer Reisegruppe zweifelten daher am Erfolg des Projekts. Ein Jahr später herrschte in den gleichen Räumlichkeiten ein emsiges, kaum überschaubares Treiben. Und man spürte die angenehme Atmosphäre, welche die darin arbeitenden Menschen beflügelt. Es gibt keine Hierarchien mehr, alle sind gleichgestellt, der verantwortliche Herausgeber ist von der Vollversammlung gewählt. Entscheide werden möglichst im Konsens gefällt. „In der ersten Zeit dauerten die Redaktionssitzungen bis morgens um vier Uhr, jetzt sind wir jeweils um Mitternacht zu Ende“, erzählte uns vor einem Jahr einer der Redakteure. Ähnlich wie bei Vio.Me können auch Aussenstehende Anteilscheine zeichnen. Doch 51 Prozent werden stets von den Redakteuren und den andern Mitarbeitenden gehalten, damit die Zeitung in den Händen jener bleibt, die sie herstellen.

Auflagenmässig war die „Zeitung der Redakteure“ bereits im Herbst 2013 die viertgrösste Tageszeitung Griechenlands. Inzwischen sieht es ganz danach aus, dass sie sich in einer Medienlandschaft, die von Reedern, Baumfirmen und andern Grossunternehmern beherrscht wird, definitiv hat durchsetzen können. Ein Hinweis darauf sind nicht zuletzt ganzseitige Inserate der griechischen Fluggesellschaft AEGEAN Airlines sowie der Alpha Bank und der „Marfin Investment Group“ in der Wochenendausgabe vom 27./28. September 2014. Es liegt auf der Hand, dass sie mit ihren Inseraten die kämpferische, unabhängige Zeitung nicht aus Sympathie unterstützen, sondern weil sie wissen, dass sie gelesen wird.

Das ehemals staatliche griechische Radio und Fernsehen ERT ist nicht nur der bisher grösste selbstverwaltete Betrieb in Griechenland, es ist vermutlich auch der zur Zeit bedeutendste Schauplatz politischer Auseinandersetzungen. Als im Juni 2013 die Samaras-Regierung handstreichartig ERT schliessen wollte und auf einen Schlag die mehr als zweieinhalbtausend Beschäftigten entliess, fachte sie mit dieser Massnahme den erlahmenden Widerstand in Griechenland aufs Neue an. Tausende strömten auf die Strasse, um ERT zu verteidigen. Die Belegschaft besetzte die Gebäude und Anlagen. Nicht nur in Athen, auch in Thessaloniki und andern Orten, wo es Sendeanlagen und Netzverteilstationen gibt. Radio und Fernsehen befanden sich nun buchstäblich in den Händen des Volkes. Und es ist kein Zufall, dass sich anstelle der bisherigen Hierarchien sogleich von Gleichberechtigung geprägte Selbstverwaltungsstrukturen entwickelten.

Die Stürmung der Athener Studios durch Sondereinheiten der Polizei in den frühen Morgenstunden des 7. November 2013 war ein eigentlicher Pyrrhussieg der Samaras-Regierung. „Am Anfang waren wir nur wütend, jetzt aber sind wir entschlossen“, erklärte der Nachrichtensprecher Nikos Tsibidas Ende April 2014 an einer Veranstaltung in Berlin. Er war auf Sendung, als an jenem Morgen die MAT-Schergen ins ERT-Gebäude eindrangen, und verabschiedete sich vom Publikum mit den Worten: „Die Mikrofone werden geschlossen – ‚psychi vathia‘.“ „Psychi vathia“, wörtlich „Tiefe Seele“, war der Abschiedsgruss der griechischen Partisaninnen und Partisanen im Krieg gegen die Nazi-Herrschaft.

„ERT open“, wie sich das selbstverwaltete griechische Radio und Fernsehen nennt, sendet auch weiterhin. In seiner Hand befinden sich nach wie vor mehr als ein Dutzend Radiosender sowie das Fernsehstudio in Thessaloniki. In Athen wurden Räumlichkeiten direkt gegenüber den alten Gebäuden gemietet, in denen nun der neue Regierungssender NERIT unterbracht ist, der lediglich ein Notprogramm auf tiefstem Niveau bringt und die Propaganda der Regierung verbreitet. Von den ehemaligen ERT-Angestellten haben etwa dreihundert dort angeheuert, zahlreiche andere haben sonst einen individuellen Ausweg gewählt und mehr als tausend arbeiten mit Leidenschaft weiter für „ERT Open“. Empfangen werden können die Sendungen weltweit im Internet unter www.ertopen.com, in manchen Gegenden Griechenlands auch direkt.

Nach dem Ende der von der Regierung schleppend ausbezahlten Löhne und Abgangsentschädigungen stehen alle, die bei „ERT Open“ geblieben sind, ohne Einkommen da. Die Kosten für den Betriebsunterhalt werden von der Gewerkschaft übernommen, Löhne jedoch werden keine bezahlt. Wer noch Ersparnisse hat, kann diese aufbrauchen und lebt dann von der Solidarität. Im Klartext: von der Unterstützung durch die Familie, durch Freunde und Verwandte. Genau gleich, wie es alle andern in Griechenland tun, die entlassen wurden oder die von ihrer Arbeit nicht leben können oder deren Löhne nicht oder nur verspätet ausbezahlt werden. Das sind etliche Millionen im ganzen Land, vermutlich sogar die Mehrheit der Bevölkerung. [2]

Durch das Studio von „ERT Open“ in Thessaloniki führt uns eine Frau, die auf den schönen Namen „Eleftheria“ hört, was auf Deutsch „Freiheit“ heisst. Zwei unserer Reisegruppe werden zum Interview in die laufende Sendung eingeladen. Die griechische Öffentlichkeit soll über unsere Solidaritätsreise informiert werden. Beim Abschied wünsche ich Eleftheria viel Kraft und Ausdauer und füge an: „Ihr kämpft nicht nur für euch. Ihr kämpft für ganz Europa, nicht nur für Griechenland.“ Daraufhin umarmt sie mich fest und ich spüre, dass sie weint. Als sie sich wieder gefasst hat, schaut sie mir in die Augen und sagt: „Vielen Dank!“ In Wirklichkeit sind es wir im Norden Europas, die zu danken haben. Dafür, dass in Griechenland Unzählige weiterkämpfen, allen Schwierigkeiten zum Trotz, während es bei uns kaum kollektiven Widerstand gegen die schleichenden Verschlechterungen, gegen Unrecht und Ausgrenzungen gibt. Wenn wir heute vom Norden Europas aus nach Griechenland blicken, dann schauen wir in unsere eigene Zukunft. Eine sehr düstere Zukunft, falls es uns nicht gelingt, gemeinsam, länderübergreifend die Pläne des Kapitals zu stoppen.

Der Sieg der Putzfrauen

Der rote Gummihandschuh mit den zwei zum Siegeszeichen gespreizten Fingern ist in Griechenland zum Symbol für einen erfolgreichen Widerstand gegen die Spardiktate der Troika und deren dilettantische Umsetzung durch die Samaras-Regierung geworden. Ein Widerstand, den anfänglich wohl manche als hoffnungslos angesehen hatten. Denn was könnten schon 595 Putzfrauen gegen eine Regierung ausrichten, die durch mehrere Generalstreiks nicht zu Fall gebracht worden war?

Doch es kam anders. Die Samaras-Regierung hatte sich einmal mehr gründlich verrechnet und mit „Sparmassnahmen“ – die in Wirklichkeit reine Privatisierungsmassnahmen sind, weil die Kosten für die private Reinigungsfirma höher sind als die Löhne der entlassenen Frauen! – einen Protest entfacht, der von einer bewundernswerten Hartnäckigkeit und Entschlossenheit ist. Als am 17. September 2013 die mit der Reinigung der Finanzämter ganzen Land beauftragten Frauen von einem Tag auf den andern zuerst freigestellt und danach entlassen wurden, gingen sie nicht einfach – jede für sich – nach Hause, sondern schlugen vor dem Finanzministerium auf dem Syntagma Platz buchstäblich ihre Zelte auf.

Regelmässig standen sie mit Besen und Schrubber Spalier, wenn die Technokraten der Troika zu Besuch in Athen waren. Ebenso nahmen sie solidarisch an allen Protestaktionen anderer Berufsgruppen teil oder besetzten mit einem Überraschungsangriff frühmorgens öffentliche Gebäude. Das Medieninteresse an den kämpferischen Frauen nahm internationale Ausmasse an, als im Mai 2014 das Gericht ihre Klage guthiess und die sofortige Wiedereinstellung verfügte. Die Freude über den unverhofften juristischen Erfolg war allerdings von kurzer Dauer. Denn nun spitzte sich der Konflikt erst recht zu.

Die Regierung legte Berufung ein und erwirkte beim Obersten Gericht die Aussetzung des erstinstanzlichen Urteils. Ausserdem liess sie das Protestcamp vor dem Finanzministerium durch die Polizei gewaltsam räumen. Knüppelpolizei gegen Frauen – die Bilder gingen um die Welt und verschafften den unbeugsamen Athener Putzfrauen zusätzliche Aufmerksamkeit. Und am gleichen Abend waren sie alle wieder dort, einzelne nun mit Gipsbein oder Verband.

Grenzenlose SolidaritätAuch am Tag unseres Besuchs, am Mittwoch, 1. Oktober sind sie noch immer da und freuen sich über die Solidarität und unser zweisprachiges Transparent: „Grenzenlose Solidarität – Troika wegfegen!“ Es ist der 148. Tag, verkündet eine Tafel, und: „Wir machen weiter!“ Und das vermutlich noch sehr lange, insbesondere falls das Urteil der Berufungsinstanz auf sich warten lässt. Dann könnte es durchaus sein, das die mutigen Putzfrauen auch dann noch auf dem Syntagma Platz kampieren, wenn die Regierung Samaras bereits nicht mehr im Amt ist. Einen ungeahnten Wahrheitsgehalt bekäme dann das Plakat mit der wütenden Putzfrau, die mit dem Reisbesen Samaras und Venizelos wegfegt, und der Bildlegende: „Wir putzen für euch!“

Ob und wann die kämpferischen Putzfrauen ihre Arbeit zurückbekommen, bleibt offen. Gewonnen haben sie ohnehin. Denn die Sympathien der Bevölkerung stehen auf ihrer Seite, während jene der Regierung einen neuen Tiefpunkt erreicht haben. Das Wichtigste jedoch ist, dass sie durch ihren Kampf ihre Würde zurückgewonnen haben. Das sieht man ihnen auch an, wenn man sie beobachtet, während sie ihre Geschichte erzählen. So leidgeprüft ihre Gesichter auch sind, aus ihren Augen strahlt Entschlossenheit und Stolz. Wenn sich die Betroffenen gemeinsam zu Wehr setzen, endet es nicht damit, dass der Chef die Kündigung überreicht. Das haben die kämpferischen Putzfrauen von Athen bewiesen und machen mit ihrem Widerstand allen andern Mut – nicht nur in Griechenland.

Die Selbstverwaltungsstrukturen von Perama

Perama ist eine Gemeinde am westlichen Rand des Ballungszentrums von Athen. Nach dem Niedergang der Werftindustrie, mit den entsprechenden Folgen für Zulieferer und ortsansässiges Gewerbe, sind über 80 % der Bevölkerung arbeitslos. Was den meisten geblieben ist, sind lediglich die eigenen vier Wände, in die sich wohl manche zurückgezogen haben. Andere wiederum suchen bewusst einen kollektiven Ausweg und haben eine solidarische Selbsthilfe aufgebaut. Im Vordergrund steht das elementare Bedürfnis, den Magen zu füllen. Mangels ausreichender Mittel sind es nur einige hundert Familien, die gegenwärtig mit Lebensmitteln unterstützt werden können. Nach dem Niedergang des griechischen Bildungswesens organisiert das Kollektiv auch kostenlosen Nachhilfeunterricht für Schulkinder.

Die Versammlung von Perama hat ihren Ursprung in der Syntagma-Platzbesetzung vom Sommer 2011. Nach deren gewaltsamer Auflösung durch die Polizei wollte man nicht einfach nach Hause gehen. Eine Rückkehr zur Normalität war aufgrund der wirtschaftlichen Lage ohnehin nicht möglich. So trug man die Ideen der Platzbesetzungsbewegung in den eigenen Stadtteil. Beschlüsse werden gemeinsam und solidarisch von der Vollversammlung gefällt, die jeden Montag in den Räumlichkeiten der Selbsthilfeinitiative stattfindet. „Wenn irgendwie möglich vermeiden wir Abstimmungen, weil das die Leute spaltet“, erklärt eine Frau. Offenbar diskutiert man lieber so lange, bis eine für alle tragbare Lösung gefunden wird.

Giorgos geht gegen die Sechzig, bezeichnet sich selber als „Grossvater“ und hat offensichtlich eine langjährige politische Erfahrung. Er erläutert die Elemente, aus denen die Selbstverwaltungsstrukturen von Perama aufgebaut sind: „Erstens Selbstorganisation, zweitens Solidarität, drittens Widerstand, viertens Umsturz.“ Am Anfang stand das erste Element: „Wir haben uns selbst organisiert“, erzählt er. Dann sei die Solidarität dazu gekommen und inzwischen sei man beim Widerstand angelangt. Im Einzelnen bedeutet das beispielsweise, dass man gemeinsam Zwangsräumungen von Wohnungen verhindert oder dass man Familien, denen der Staat den Strom abgestellt hat, weil sie die Rechnungen nicht bezahlen konnten, wieder ans Stromnetz anschliesst. Seit einigen Monaten laufe auch eine Bewegung für eine kostenlose Beförderung von Arbeitslosen und Schüler_innen. Konkret fahren Leute des Kollektivs in den öffentlichen Verkehrsmitteln mit und schützen Betroffene vor Strafen bei Fahrscheinkontrollen, indem die Kontrolleure notfalls handgreiflich aus dem Autobus geworfen werden.

Regelmässig nehmen mindestens 30-50 Personen an der wöchentlichen Vollversammlungen teil. Es gebe aber auch Zeiten, da kämen 300 bis 400, so dass man in externe Räumlichkeiten ausweichen müsse. Im Vergleich zu den über 25‘000 Einwohnern, die Perama zählt, ist es sicher eine kleine Minderheit, die sich in den Selbstverwaltungsstrukturen engagiert. Dennoch kann man darin eine Art Keimzelle einer künftigen öffentlichen Ordnung erkennen, nachdem die staatlichen Strukturen zusammengebrochen sind – was hinsichtlich Bildung und Gesundheit ja zu einem grossen Teil bereits geschehen ist.

Solidarität für alle

„Niemand wird in der Krise allein gelassen!“ Entsprechend diesem Grundsatz ist in den letzten Jahren ein Netz von weit über 300 solidarischen Strukturen entstanden, das alle Landesteile umfasst. Dazu gehören Sozialkliniken und Apotheken, Kollektivküchen, kostenloser Nachhilfeunterricht für Kinder, unentgeltliche Rechtshilfe sowie die „Bewegung ohne Zwischenhändler“. Ende März 2014 fand in Athen das erste „Nahrungsmitteltreffen“ statt, an welchem über 100 solidarische Strukturen und unabhängige Landwirte teilnahmen.

Zur Förderung des Erfahrungsaustausches unter den vielfältigen Solidaritätsstrukturen ist im Herbst 2012 das Netzwerk „solidarity4all“ entwickelt worden, das sich auch um die Organisierung internationaler Solidaritätskampagnen und in enger Zusammenarbeit mit den lokalen Strukturen um landesweite Solidaritätskampagnen kümmert, wie beispielsweise die Aktion „Eine Flache Olivenöl für jeden Arbeitslosen“. Direkt von den Produzenten wurde das Öl in Fässern übernommen, weiterverarbeitet, in Flaschen abgefüllt und durch die lokalen Solidaritätsnetzwerke in den Städten an armutsbetroffene Haushalte verteilt.

Bei unserem Treffen mit Leuten von „solidarity4all“ erkundigten wir uns nach Erfahrungen mit den Behörden in jenen Gemeinden, die nach den Kommunalwahlen vom Mai 2014 linke Bürgermeister haben. Ein wenig verfrüht, weil diesbezüglich noch kaum konkrete Ergebnisse vorliegen. Da die Gemeindekassen zumeist leer seien, gehe es eher darum, dass beispielsweise kommunale Gebäude kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Spannend ist in diesem Zusammenhang die Frage, wie die selbstverwalteten Solidaritätsstrukturen mit den hierarchisch aufgebauten staatlichen Strukturen in Einklang gebracht werden. Wer wird sich wem anpassen? Was wird mit gutbezahlten Chefposten geschehen, die in einem System der Selbstorganisation überflüssig sind? Werden jene, die solche Posten innehaben, ihren Sessel freiwillig räumen?

Der bevorstehende Regierungswechsel

Am Tag meiner Ankunft in Athen brachte die „Zeitung der Redakteure“ auf der Titelseite die Resultate der Wahlumfrage, die zwischen dem 15. und 23. September 2014 telefonisch bei rund 1000 Personen durchgeführt worden war. 36 Prozent der Befragten würden SYRIZA wählen und nur noch 25 Prozent die regierende „Nea Demokratia“, die PASOK hätte noch 5.5 Prozent. Die „Goldene Morgenröte“ käme auf 7.5 %, die neue linksbürgerliche Formation „to potami“ (der Fluss) auf 9.5 % und die KKE auf 6.5 %. Hochgerechnet auf Parlamentssitze würde die Linke (SYRIZA und KKE) sogar über die absolute Mehrheit verfügen. Man kann von solchen Umfragen halten, was man will, eines jedenfalls lässt sich daraus klar ablesen: der politische Trend in Griechenland geht (im Unterschied zu fast allen andern europäischen Ländern) weiterhin eindeutig nach links.

Vor zwei Jahren, anlässlich unserer ersten Solidaritätsreise, prophezeiten praktisch alle unserer griechischen Gesprächspartner_innen ein rasches Ende der Samaras-Regierung. „Höchstens ein paar Monate“ werde sie sich halten können. Als sie ein Jahr später noch immer an der Macht war, setzte man die Hoffnungen auf die Europawahlen im Mai 2014, die im Falle eines klaren Sieges von SYRIZA zu vorgezogenen Neuwahlen führen würden. Es hat sich jedoch gezeigt, dass SYRIZA nur deshalb stärkste Partei wurde, weil die Regierungsparteien massiv an Stimmen einbüssten. Der Wähleranteil von SYRIZA blieb praktisch unverändert bei 27 Prozent. Dies entgegen vorherigen Umfragen, die einen höheren Anteil ergeben hatten.

Die Frage, ob die Samaras-Regierung im nächsten Frühjahr an der Wahl des Staatspräsidenten scheitern oder bis zu den regulären Neuwahlen im Jahr 2016 im Amt bleiben wird, ist nicht so entscheidend. Viel wichtiger ist, was nachher kommt. Dass an SYRIZA kein Weg vorbeiführt, haben wahrscheinlich die meisten eingesehen. Selbst Anarchist_innen, so hat mir jemand erzählt, rufen inzwischen unter vorgehaltener Hand dazu auf, für SYRIZA wählen zu gehen. Dies ziemlich sicher nicht, weil sie an eine linke Regierung glauben, als vielmehr weil sie sich darüber im Klaren sind, dass es kurzfristig die einzige Möglichkeit ist, die Samaras-Regierung zu Fall zu bringen.

Wer glaubt, die Entwicklung nach einem linken Wahlsieg in Griechenland voraussagen zu können, liegt mit grösster Wahrscheinlichkeit falsch. Allzu unberechenbar ist die gesellschaftliche Dynamik, die sich dann entfalten wird. Genauso wenig vorhersehbar ist die Haltung, welche eine künftige Linksregierung gegenüber dieser Dynamik, in die sie selber hingerissen werden wird, einnehmen wird. Wird sie beispielsweise besetzte Häuser polizeilich räumen lassen, wenn deren Eigentümer dies verlangen, oder wird sie der Besetzung von leerstehenden Häusern einen legalen Rahmen verschaffen? Wird sie stillgelegte Fabriken, die gegen den Willen ihrer Besitzer wieder in Betrieb genommen werden, legalisieren oder wird sie das Privateigentum an den Produktionsmitteln schützen? Kurzum, wird sich eine künftige Linksregierung als Willensvollstreckerin der sozialen Bewegungen verstehen oder wird sie versuchen, diese zu vereinnahmen und ihrem Willen zu unterwerfen?

Solche Fragen halte ich für wichtiger als beispielsweise die Frage eines Austritts aus der Eurozone. Es ist müssig, über den Ausgang von Verhandlungen mit der Troika zu spekulieren, wenn völlig offen ist, welche politische Dynamik eine von SYRIZA angeführte Linksregierung im übrigen Europa, namentlich in Spanien und Portugal, auslösen wird. Dazu kommt, dass SYRIZA alles andere als eine homogene Partei ist. Man braucht sich bloss an den Parteitag im Sommer 2013 zu erinnern. Der Versuch, die Linke Plattform innerhalb von SYRIZA zu marginalisieren, schlug jedenfalls gründlich fehl: Am Schluss des Parteitags war die Linke Plattform stärker als vorher und wurde von 30 Prozent der Delegierten unterstützt. Es liegt auf der Hand, dass die nach einem linken Wahlsieg entstehende Dynamik nicht ohne Folgen für SYRIZA bleiben wird.

Aus Erfahrung weiss man, dass Linksregierungen, wenn sie einen Weg gehen, der die bestehenden Eigentumsverhältnisse in Frage stellt, sehr schnell mit einem Generalstreik der Unternehmer konfrontiert werden. Wie wird eine SYRIZA-Regierung damit umgehen? Insbesondere für den Fall, dass der von Tsipras geforderte „Marshall-Plan für Griechenland“ bei der Troika auf taube Ohren stossen wird. Und neue „Investoren“ – im Klartext Banken und Konzerne, die ihr Geld gewinnbringend anlegen wollen – werden nur dann nach Griechenland kommen, wenn sie vorteilhafte Ausbeutungsbedingungen (tiefe Lohnkosten, flexibilisierte Arbeitsverhältnisse, möglichst keine Steuern) vorfinden. Eine „wirtschaftliche Erholung“ unter üblichen kapitalistischen Ausbeutungsbedingungen ist daher – selbst wenn man die enorme Anpassungsfähigkeit des Kapitals nicht ausser Acht lässt – sehr unwahrscheinlich.

Ausserdem ist bekannt, dass bei den Europawahlen 2014 wiederum mehr als die Hälfte der Polizeibeamten der „Goldenen Morgenröte“ ihre Stimme gegeben haben. Man darf daher gespannt sein, wie die von SYRIZA angekündigte „Demokratisierung der Polizei“ konkret aussehen wird. Mit andern Worten kann eine Linksregierung nicht davon ausgehen, einfach den Staatsapparat übernehmen und in ihren Dienst stellen zu können. Angesichts der tiefgreifenden Zerstörung der bürgerlichen Zivilgesellschaft in Griechenland besteht die Chance vielmehr darin, ausgehend von den Erfahrungen der Solidaritätsbewegungen eine öffentliche Ordnung zu errichten, die auf Selbstorganisation und Solidarität beruht, ohne staatliche Bürokratie und Hierarchie.

Die Schatten der modernen Barbarei

Die Chancen zur Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise in Europa sind intakt, wenn eine entsprechende Bewegung von Griechenland ausgehend den Balkan und ganz Südeuropa erfasst und somit eine konkrete Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft sichtbar wird. Gleichzeitig müssen wir uns bewusst sein, dass in Griechenland aus dem sich in Auflösung befindenden System nicht nur die Knospen einer neuen, auf Selbstorganisation, Gleichberechtigung und Solidarität aufgebauten Welt spriessen. Aus den Trümmern weht auch der Leichengestank einer „Goldenen Morgenröte“. Jedes weitere Krisenjahr beschleunigt den gesellschaftlichen Zerfall, der ebenso sehr den Nährboden bildet für eine sich anbahnende Barbarei, die bereits heute ihre Schatten vorauswirft.

Man soll sich davor hüten, die „Goldene Morgenröte“ gross zu reden, wie das die Medien tun. Nimmt man die Umfragen und Wahlergebnisse als Massstab, haben die Faschisten in Griechenland kaum ein Drittel so viele Anhänger wie die Linke. Gleichzeitig ist es wichtig, ihnen keinen Fussbreit Raum zu gewähren und die Neonazis überall zu bekämpfen, wo sie auftreten. Wir haben in der Ukraine gesehen, was geschieht, wenn einer kleinen Zahl straff organisierter Faschisten die Möglichkeit geboten wird, sich an die Spitze einer Oppositionsbewegung zu stellen. Es ist daher beruhigend zu wissen, dass in Griechenland der Kampf gegen den Faschismus eine sonst zerstrittene Linke zu einigen vermag – zumindest zeitweilig, beispielsweise nach dem Mord an Pavlos Fyssas. Anlässlich eines Treffens mit der „Antifaschistischen Koordination“ in Athen wurde uns berichtet, dass darin Leute unterschiedlicher politischer Auffassungen, beispielsweise solche von SYRIZA und der anarchistischen „Alpha Kappa“, einvernehmlich zusammenarbeiten. Das gemeinsame Ziel angesichts der faschistischen Bedrohung steht im Vordergrund, die politischen Differenzen treten in den Hintergrund.

In Thessaloniki hat mir jemand erzählt, es sei für Armutsbetroffene einfacher, an Drogen zu kommen als an Nahrungsmittel. Viele Jugendliche ohne jede Perspektive seien von morgens bis abends bekifft und vom Alkohol zugedröhnt. Wer könne und eine gute Ausbildung habe, verlasse das Land. Wie weit sich solche Aussagen verallgemeinern lassen, kann ich nicht beurteilen. Es dürfte jedoch alles andere als einfach werden, eine apathisch gemachte, aller ihrer Träume und Hoffnungen beraubte Jugend wachzurütteln und für eine emanzipatorische Bewegung zu begeistern.

Überall, wo der Kapitalismus an seine Grenzen stösst und nicht durch eine neue Produktionsweise ohne Warenproduktion, ohne Lohnsklaverei und ohne Umweltzerstörung ersetzt wird, macht sich eine moderne Form von Barbarei breit. Werden die gesellschaftlichen Verhältnisse, die zu eng geworden sind für den Stand der Entwicklung der Produktivkräfte, nicht gesprengt und durch neue Formen gesellschaftlichen Lebens ersetzt, werden diese maximal entfalteten Produktivkräfte zum Fluch statt zum Segen für die Menschheit. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist der Goldabbau in Chalkidiki.

Gold hat kaum einen Gebrauchswert und dient hauptsächlich als Äquivalent für den aus der Warenproduktion aufgehäuften Reichtum. Die Gier nach Gold begleitet die kapitalistische Epoche seit ihren Anfängen. Die zerstörerischen Folgen des modernen Goldabbaus haben heute weltweit ein Ausmass erreicht, an dem die Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise augenfällig werden.

Megali Panagia, Stratoni und Ierissos sind drei Dörfer auf der Halbinsel Chalkidiki im Nordosten Griechenlands, knapp zwei Autostunden von Thessaloniki entfernt. Megali Panagia liegt auf einer Anhöhe, die andern beiden Orte an der Küste. Dazwischen befinden sich die Wälder von Skouries, wo man daran ist, auf der Suche nach Gold eine idyllische Gegend in eine Mondlandschaft zu verwandeln. Die Goldmine trennt nicht nur die drei Orte voneinander, sie hat auch die Menschen, die in diesen Dörfern leben, entzweit. Und es wird erst dann wieder Frieden geben, wenn dieser Wahnsinn gestoppt ist.

Auf einem Durchmesser von 700 m wird im Tagbau ein ganzer Berg abgetragen, 250 m tief. Der Wald ist bereits abgeholzt. Anschliessend soll es mehr als 700 m in die Tiefe gehen, in Stollen von insgesamt 25 km Länge. In einer Tonne Gestein, das verwertet wird, hoffen die Betreiber von „Hellas Gold“ zwischen 1 und 5 g Gold zu finden. Weit mehr als 100 Tonnen Gold sollen so in den kommenden Jahrzehnten geschürft werden. „Hellas Gold“ gehört zu 95 % dem kanadischen Bergbaukonzern „Eldorado Gold“, 5 % hält der griechische Bauriese „Ellaktor“, der sich in den Händen des einflussreichen BobolasClans befindet. Für lächerliche 11 Millionen Euro hat im Dezember 2003 der griechische Staat die Schürfrechte auf einer Fläche von 317 Quadratkilometern an „Hellas Gold“ verkauft, die einer Buchprüfung zufolge einen Wert von über 400 Millionen Euro hatten. Der Bobolas-Clan hielt damals auch eine Beteiligung von 20 Prozent an der „European Goldfields“, für deren Aktien „Eldorado Gold“ keine 10 Jahre später den stattlichen Preis von 2.2 Milliarden Euro hinblätterte. [3]

Der hohe Preis erklärt sich durch die Genehmigung aus dem griechischen Umweltministerium, die im Juli 2011 durch die Unterschrift vom eben erst ernannten Umweltminister Georgios Papakonstantinou erfolgte – seine Vorgängerin hatte das Vorhaben blockiert und musste den Hut nehmen. Papakonstantinou war zuvor Finanzminister gewesen und steht im Verdacht, die Namen von Verwandten aus einer Datei mit mutmaßlichen griechischen Steuersündern gelöscht zu haben. [4] „Der grösste Skandal, den es je in Griechenland gab, ist weder jener von Siemens noch jener von Vatopedi. Der grösste Skandal in den letzten Jahren ist der Verkauf dieser Region an ‚Hellas Gold‘ „, empört sich Lazaros Toskas, der Bürgermeister von Megali Panagia, der sich mit aller Kraft gegen den Goldabbau engagiert. [5]

Lazaros Toskas ist es auch, der uns anlässlich unseres Besuches anfangs Oktober 2014 an der Kreuzung nach Skouries empfängt und bis zu den Strassensperren am Eingang zur Mine führt. Alle Zufahrtsstrassen zum Gelände werden von privaten Sicherheitsleuten oder von der Polizei bewacht. „Am Anfang waren fast alle gegen die Goldmine“, erzählt er uns. Heute jedoch sei das Dorf gespalten, weil nun jene, die sich von „Hellas Gold“ haben anwerben lassen, dafür seien. Die Fronten sind verhärtet, ja unversöhnlich. Auch jene zwischen den Dörfern Ierissos und Stratoni. Ierissos ist gewissermassen das Zentrum des Widerstands gegen den Goldabbau. Seit dem Brandanschlag auf die Baumaschinen im Februar 2013 steht das Dorf unter Generalverdacht. Es waren bürgerkriegsähnliche Szenen, als Sondereinheiten der Polizei in die Häuser eindrangen und wahllos Leute verhafteten. Über die Urheber des Brandanschlags ist bis heute nichts bekannt geworden. „Seltsam ist nur, dass ‚Hellas Gold‘ eine Woche vorher noch die Baumaschinen versichern liess“, findet jemand vom Komitee SOS Chalkidiki, mitdem wir uns in Ierissos trafen.

In Stratoni hingegen, wo der Bergbau eine lange Tradition hat und auch heute viele für „Hellas Gold“ arbeiten, wohnen die vehementesten Befürworter der Goldmine. Es ist dort nicht ungefährlich, sich als Gegner zu erkennen zu geben. So seien kürzlich zwei Frauen aus Deutschland nach ihrem Besuch in Ierissos leichtsinnigerweise mit einem „SOS Chalkidiki“ T-Shirt nach Stratoni gefahren, um dort mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Mit Gewalt habe man sie gezwungen, das T-Shirt auszuziehen und ein solches von „Hellas Gold“ überzustreifen.

Der Konflikt um den Goldabbau führt einmal mehr das Dilemma der Lohnsklaverei vor Augen: Hauptsache Arbeit, gleich um welchen Preis und zu welchen Bedingungen! Sind die Leute erst einmal lange genug arbeitslos, macht die Not sie gefügig. Soll man es ihnen übelnehmen, wenn sie dann den individuellen Ausweg wählen? Es ist ein Teufelskreis aus Ausbeutung und Arbeitslosigkeit, den es zu durchbrechen gilt. Die Arbeiter von Vio.Me haben den ersten Schritt getan. Andere Belegschaften von Industriebetrieben jedoch sind ihnen bisher nicht gefolgt. Wie wird es weitergehen? In Chalkidiki, in Griechenland, in Europa.

Die moderne Barbarei, wie man sie für Afrika, Asien und Lateinamerika seit langem als normal hingenommen hat, breitet sich langsam aber sicher nach Norden aus, während gleichzeitig auch die globale Umweltzerstörung, allen Beteuerungen der Herrschenden zum Trotz, immer bedrohlichere Ausmasse annimmt. Falls es nicht gelingt, diese Barbarei innerhalb nützlicher Frist zu beseitigen, so ist zu befürchten, dass die Geschichte der Menschheit als Geschichte von Klassenkämpfen nicht mit dem Sieg der einen über die andere Klasse, sondern mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen enden wird.

Noch ist es nicht zu spät, noch besteht Hoffnung. Ganz konkret darauf, dass die emanzipatorischen Kräfte in Griechenland nach einem zu erwartenden Regierungswechsel weiter an Stärke zulegen und in neuen Formen von Produktion und Austausch, von gesellschaftlichem Leben einen Ausweg aus der modernen Barbarei finden werden. Eine radikale Lösung, die auch bei den Menschen in andern von der globalen Krise hart getroffenen Ländern, namentlich im Balkan und in Südeuropa, Anklang finden wird. Die EU in ihrer heutigen Form kann auf Dauer ohnehin nicht aufrechterhalten werden. Entweder wird sie ersetzt durch eine Föderation gleichberechtigter, miteinander kooperierender Volkswirtschaften oder sie wird in rivalisierende Nationalstaaten zerfallen, in denen Nationalismus und Chauvinismus triumphieren. So widersprüchlich und bedrückend das Bild auch ist, das sich für mich – als aussenstehender Betrachter aus dem Norden, aus der „reichen Schweiz“ – ergibt, so bin ich nach dieser dritten Reise insgesamt mit der festen Überzeugung nach Hause zurückgekehrt, dass in Griechenland die Glut unter der Asche keineswegs erloschen ist. Die Chance auf einen radikalen Wandel ist vorhanden. Nutzen wir sie!

 


1 Nachdem in der zweiten Oktoberhälfte weltweit fallende Börsenkurse insbesondere in Athen zu einem heftigen Kurssturz geführt haben, hat dieses Trugbild jedoch auch in den internationalen Medien erhebliche Risse bekommen.

2 Laut einem Bericht des Parlaments leben in Griechenland fast 6,6 Millionen unter der Armutsgrenze oder sind von Armut bedroht. http://www.griechenland-blog.gr/2014/09/ueber-6-mio-buerger-in-griechenland-an-oder-unter-armuts grenze/2015155/

3 http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/39803/3/1

4 Ebenda

5 http://www.smallplanet.gr/documentaries/chronologically/2012-2013/313-golden-times-cassandras-treasure