Am 20. Januar traten im kosovarischen Mitrovicë über 800 Bergbauarbeiter in den Streik. Dies, weil die Regierung von ihrem Plan zurückgewichen war, die Trepca-Mine zu übernehmen. In den Tagen und Wochen darauf kam es zu Grossdemonstrationen, Strassenschlachten und dem Rücktritt eines Ministers. Dieser Artikel behandelt die Geschehnisse, die dazu führten, bietet einen Einblick in die politische Struktur des Kosovo und behandelt die Frage der Unabhängigkeit.


BalkanDer Rückzug der staatlichen Übernahme der Trepca-Mine war aufgrund von Drohungen von Serbien erfolgt, welches behauptet, Anspruch auf drei Viertel der Mine zu haben. Die Trepca-Mine, in der nach Blei, Zink und Silber geschürft wird, ist die grösste auf dem ganzen Balkan und die drittgrösste in Europa. In ihrer Blütezeit war sie für einen Grossteil von Jugoslawiens mineralischem Reichtum verantwortlich. 23’000 Kumpels arbeiteten damals in den Stollen – heute sind es noch wenige hundert. Nach der Abspaltung Kosovos von Serbien 1999 in Folge des Kosovo-Kriegs wurde die Mine von der „Privatisierungsagentur Kosovos“ im Auftrag der UNO verwaltet und zum Verkauf unter anderem an serbische Investoren vorbereitet.

Die Streikenden machten ihren Standpunkt klar: Sie wollten eine Wiederaufnahme der Gespräche und forderten den Erhalt der nationalen Reichtümer in der öffentlichen Hand. Am zweiten Streiktag besuchte eine Delegation der Metallarbeitergewerkschaften Kosovos die Bergbauarbeiter. Ihr Vorsitzender Hasan Abazi erklärte: „Die Würde sämtlicher Arbeiter in Kosovo wird in Trepca geschützt und verteidigt. Grundsätzlich solidarisch zu sein ist die Pflicht aller Arbeiter und aller Gewerkschaften in Kosovo.“ Er forderte einen Wiederaufbau der Kapazitäten der Mine und verurteilte die Privatisierungspläne und die Ansprüche Serbiens. In ihrer Botschaft erklärten die Metallarbeiter auch: „Die Privatisierung schädigte Kosova enorm. Ungeheure nationale Werte wurden billigst an diverse Investoren verhökert. Dadurch wurde die Wirtschaft des Landes stark geschädigt. Die Werte Kosovos sollen nur noch dem privaten Profit dienen.“ Nach drei Tagen lenkte die Regierung ein und kündigte an, mit Serbien Kontakt aufzunehmen. Die Bergbauleute beendeten darauf den Streik. Sie machten jedoch klar, dass der Streik wieder aufgenommen wird, sollte nicht innerhalb eines Monats eine Lösung gefunden worden sein.

Entfesselte Wut

Auf den 24. Januar wurde in der Hauptstadt Prishtinë eine Grossdemonstration einberufen, organisiert von der sogenannt linksnationalistischen Partei Vetëvendosje („Bewegung für Selbstbestimmung“) und der „Vereinigung der Frauen der Verschwundenen“. Die Kundgebung mit um die 30’000 Teilnehmern stand unter der Parole „Nieder mit Jablanovic – Trepca gehört uns!“ Aleksander Jablanovic, ethnisch serbischer Arbeitsminister Kosovos, hatte die albanischen Demonstranten öffentlich als „wilde Tiere“ bezeichnet. Diese Aussagen des mutmasslichen Kriegsverbrechers Jablanovic hatte zum Ziel, den ethnischen Konflikt und rassistische Ressentiments zu schüren. Ob nun die SVP gegen Kosovaren in der Schweiz hetzt oder serbisch- und albanischstämmige kosovarische Kapitalisten gegen die jeweils andere Volksgruppe: Ihre Absicht ist die Spaltung der Arbeiterklasse zur Erstickung des Klassenkampfs. Die ArbeiterInnen und die Bauern im Kosovo müssen diesen widerlichen Spaltungsversuch zurückweisen und zeigen, dass die Grenzen der Gesellschaft nicht zwischen Serben und Albanern verlaufen, sondern zwischen arm und reich. In Prishtinë entlud sich die angestaute Wut über die Armut, die Korruption, den Diebstahl von öffentlichem Eigentum und die rassistischen Äusserungen. „Nieder mit der Regierung!“, riefen die Demonstrierenden und setzten Premierminister Mustafa ein Ultimatum, Jablanovic zu entlassen, welches nicht erfüllt wurde. Dazu beigetragen hat wohl auch ein Treffen des Präsidenten mit den Botschaftern der USA, Deutschlands und Frankreichs. Seit Jahrzehnten verfolgen diese Staaten rücksichtslos ihre wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen auf dem Balkan, ob mit eigenen Mitteln oder durch Organisationen wie der EULEX, UNMIK oder der NATO.

Darauf fanden erneute Massenproteste statt, bei denen es wiederum zu brutaler Repression durch die Polizei kam. An den Protesten beteiligten sich auch vermehrt ArbeiterInnen in grosser Zahl und nicht nur traditionelle Wähler von Vetëvendosje. Am 4. Februar kam das, was keiner zu hoffen gewagt hatte: Jablanovic gab den Rücktritt bekannt. Um ihre Macht zu erhalten und die Situation zu beruhigen, liess die Führungsclique ihn über die Klinge springen. Der Rücktritt wurde zwar zu Recht gefeiert, jedoch darf sich die Bewegung nicht auf solchen Lorbeeren ausruhen. Der Kampf muss weitergehen für einen fundamentalen Wandel des Systems.

Man nannte sie „Wirtschaftsflüchtlinge“

Die Streiks und Massenproteste blieben in den meisten grossen Medien Westeuropas unbeachtet. Kosovo geriet aber jäh wieder ins internationale Rampenlicht, als bekannt wurde, dass zehntausende Menschen in einem regelrechten „Massenexodus“ aus dem Land ausreisten. Allein zwischen August 2014 und Februar 2015 verliessen 50’000 Kosovaren und Kosovarinnen ihre Heimat. 35’000 davon in den letzten zwei Monaten dieser Periode. Hunderte stiegen täglich in die Busse in Prishtinë, und immer noch reisen viele aus. Die Route verläuft über Serbien nach Ungarn und für viele dann nach Österreich, Deutschland oder in die Schweiz. Manche haben Verwandte hier, bei denen sie für eine Zeit leben können und schwarz arbeiten, viele stellen einen Antrag auf Asyl. Die Reaktion der Bourgeoisie und des kleinbürgerlichen Mobs kamen wie erwartet: Rassistische Hetze gegen die „faulen Jugos und Schippis“ füllten die Kommentarspalten der Online-Medien und auch Politiker liessen mit Aussagen aus der Mottenkiste nicht lange auf sich warten. Von einem Asylstopp für Menschen aus Kosovo war etwa die Rede bei der bayrischen CSU. Die Chancen, in Westeuropa Asyl zu erhalten, liegen für Kosovaren meistens fast bei Null, denn sie kommen ja aus einem für „sicher“ erklärten Herkunftsland. Hier offenbart sich ein weiteres Mal die Natur des Kapitalismus, der das gute Leben nur einigen Wenigen ermöglicht.

Für diese Auswanderungswelle gibt es verschiedene Gründe. Der wichtigste ist die bittere Armut und die Perspektivenlosigkeit, mit der sich viele Kosovarinnen und Kosovaren konfrontiert sehen. Unter den Auswanderern ist die Zahl der Jugendlichen und jungen Familien erschreckend hoch. Offiziell liegt die Arbeitslosigkeit im Kosovo bei rund 25%. In Wahrheit dürfte schätzungsweise das Doppelte zutreffen. Für viele gibt es so gut wie keine Möglichkeit, Arbeit zu finden. Die allermeisten Betriebe im Land sind Kleinbauernbetriebe, wovon ein grosser Teil aus ehemaligen ArbeiterInnen besteht, die nach dem Zusammenbruch von Jugoslawien keine Arbeit mehr hatten. Die Industriearbeiter sind im Zuge der weltweiten Krise des Kapitalismus erneut harten Angriffen durch die Unternehmer ausgesetzt. Einfache Angestellte der öffentlichen Institutionen sind – wie in Trepca – Privatisierungsattacken ausgesetzt. Eine gut bezahlte Anstellung zu finden und zu studieren ohne Geld oder die nötigen (familiären) Verbindungen zu haben, ist für viele unmöglich.

Ein weiterer Grund für die Perspektivenlosigkeit dürften die Wahlen im letzten Dezember sein. Die zwei grössten Parteien PDK und LDK haben erneut zugelegt. Sie stellen gemeinsam 67 von 120 Parlamentssitzen, was eine absolute Mehrheit bedeutet. Kein Gesetz wird sich ändern ohne die Zustimmung dieser Parteien. Gemeinsam mit einigen kleinen Splitterparteien haben sie eine grosse Koalition gebildet, die das Land regiert. Einzige ernstzunehmende Opposition ist die „Bewegung für Selbstbestimmung“ (VV). Aber auch sie bietet einen grundfalschen Ansatz für den Wandel. Um zu verstehen, warum die politischen Perspektiven für viele Leute so schlecht sind, dass sie keine Zukunft im Kosovo sehen, müssen wir einen kurzen Blick auf die Positionen und Geschichte dieser Parteien werfen.

Die kosovarische Bourgeoisie

Die PDK bezeichnet sich selbst als „sozialdemokratisch“. Sie ist tatsächlich auch Mitglied der Sozialistischen Internationalen. Hervorgegangen ist die Partei aus dem Kosovokrieg 1999 als politischer Arm der kosovo-albanischen paramilitärischen Guerillaarmee UÇK. Ihr heutiger Parteipräsident, Hashim Thaçi, war damals ein führender Kopf der UÇK. Von Albanien und der NATO unterstützt führte sie einen bewaffneten Kampf für die Unabhängigkeit des Kosovos. Im Krieg mit der Armee und den Paramilitärs aus Serbien starben tausende und zehntausende wurden zu Flüchtlingen. Nachdem der Krieg durch Bombardements der NATO auf serbische Militärstellungen und Fabriken beendet wurde und Serbien dem Kosovo die Autonomie zugestehen musste, wurde die UÇK mehrheitlich entwaffnet, bzw. sie verschwand in mehrere Nachfolgeorganisationen.
Die Positionen und die Tradition der LDK sind wirtschaftsliberal und konservativ. Ihre Gründung fällt in die Zeit, als sich eine albanische Opposition bildete gegen die wachsende Dominanz durch das serbisch kontrollierte Jugoslawien. Ihre Basis bildeten damals viele alte Funktionäre der Kommunistischen Partei. Durch das Aufkommen der radikal-nationalistischen UÇK und ihrer Nachfolgepartei PDK verlor sie einen Teil ihres Einflusses.
Schon die UÇK selbst finanzierte sich vermutlich aus Organschmuggel. Heute ist der Kosovo einer der wichtigsten Umschlagplätze Europas für Organschmuggel und Drogenhandel. Die Führungsriegen von PDK und LDK – mit anderen Worten die kosovarische Bourgeoisie – ist längst ein wichtiger Player im organisierten Verbrechen. Regelmässig kommen auch haarsträubende Korruptionsskandale an die Öffentlichkeit.

VV – eine Alternative?

Vetëvendosje Gründer Albin KurtiIn Opposition zu PDK und LDK steht die Lëvizja Vetëvendosje („Bewegung für Selbstbestimmung“), kurz VV. Geführt wurde sie bis Anfang 2015 von Albin Kurti, der in den Achtzigerjahren Studentenproteste gegen die diskriminierende Politik Milosevics organisierte und in den Neunzigern der UÇK beitrat. Die Partei versteht sich als Volksbewegung und hatte sich bis 2014 geweigert, an Wahlen teilzunehmen.
Ihr Programm prangert zwar klar die systematische soziale Ungerechtigkeit an, unter der die grosse Masse der Bevölkerung leidet. Jedoch ist ihr Ansatz zur Lösung der sozialen und wirtschaftlichen Probleme der albanische Nationalismus. So führt VV die geistige Haltung der UÇK weiter und lehnt jegliche Verhandlungen mit Belgrad über den Status des Kosovo kategorisch ab. In einem Interview mit der NZZ im Jahr 2010 bezeichnete der damalige Parteichef Albin Kurti die einseitig erklärte 1 Unabhängigkeit als Fortschritt und sagt: „Die Unabhängigkeit impliziert im Falle Kosovos aber noch keine Souveränität. Mehr noch, die Formalität der Unabhängigkeit ist seit ihrer Proklamation immer mehr verloren gegangen. Wir wollen daher den Staat insofern stärken, als Kosovos Unabhängigkeit endlich auch Kosovos Souveränität hinzugefügt wird.“ [1] Die faktische Durchsetzung dieser Souveränität ist kaum denkbar ohne ein erneutes grosses Blutvergiessen in Kauf zu nehmen. Die Idee einer Angliederung des Kosovo an Albanien ist weit verbreitet in der Partei. Politiker Serbiens oder der serbischen Minderheitsgebiete im Kosovo werden häufig mit dem Attribut „faschistisch“ verwendet. Im Bezug auf die internationale Solidarität der Arbeiterklasse liess Vetëvendosje kürzlich verlauten, man würde mit einer „wirklich sozialistischen Linken Serbiens“ zusammenarbeiten. Die Trennung der beiden Staaten sei jedoch nicht verhandelbar. Solche Aussagen zeigen, dass die Partei versucht, sich einen linken Anstrich zu geben, im Grunde aber eine tief nationalistische und Kleinbürgerliche Haltung vertritt. Zur Rechtfertigung berufen sich die albanischen Nationalisten auf das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“, das in der UN-Charta festgehalten ist und berufen sich dabei auf Freiheitskämpfer wie Ché Guevara oder Ghandi. Es braucht aber ein historisches Verständnis der nationalen Frage auf dem Balkan. Viele einzelne Zwergstaaten dienen nur der Spaltung der Lohnabhängigen in diesen Ländern und sind auf Dauer wirtschaftlich nicht überlebensfähig. Diese Zersplitterung begünstigt die imperialistische Ausbeutung durch nordeuropäische Staaten und die USA und deren Kapitalistenverbände. Doch was ist die Haltung von MarxistInnen bezüglich dem Selbstbestimmungsrecht der Völker? Jorge Martin von der International Marxist Tendency, der Mutterorganisation vom Funke, formulierte folgenden Grundsatz: „Bezüglich der nationalen Frage gibt es zwei Gefahren für MarxistInnen: einerseits Zugeständnisse an die Nationalisten zu machen und andererseits die Existenz und Wichtigkeit dieser Frage für die ArbeiterInnenklasse zu negieren.“ Unter Lenins Führung nahmen die Bolsheviki die Selbstbestimmung der Völker in ihr Programm auf. Für Lenin bedeutete dies aber niemals die Unterstützung für separatistische Nationalisten, sondern eine Forderung für die unterdrückten Völker gegen die Repression des Zarenreichs und seiner Bourgeoisie. Bereits vor 100 Jahren war die Lage auf dem Balkan ähnlich verworren und problematisch wie heute. Schon 1910 argumentierte Leon Trotzki, es gäbe nur zwei Möglichkeiten, diese Kleinstaaterei zugunsten eines grossen, lebensfähigen Staates zu aufzulösen: „Entweder durch die Ausdehnung eines Balkanstaates, der sich als stärkster erweist, auf Kosten der schwächeren – das ist der Weg der Vernichtungskriege und der Unterdrückung schwacher Nationen, ein Weg, der den Monarchismus und Militarismus festigt; oder von unten, durch den Zusammenschluss der Völker selbst – das ist der Weg der Revolution, der den Sturz der Balkandynastien bedeutet.“

Nein zu Nationalismus und Imperialismus!
Für eine sozialistische Föderation des Balkans!


[1] http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/wenn-das-extreme-normalisiert-wird-erscheint-der-1 normale-als-extrem-1.8604728