Die deutsche Regierung ist gezwungen, heisses Wasser zu rationieren, die Strassenbeleuchtung zu dimmen und es werden speziell beheizte Hallen für diejenigen eingerichtet, die sich keine Zentralheizung leisten können – und das in einem Land, in dem die Temperaturen im Winter regelmässig weit unter den Gefrierpunkt fallen.

Viele Deutsche legen einen Vorrat an Holz an, um zu heizen, weil sie davon ausgehen, dass die Gasvorräte bis Anfang 2023 ganz oder fast erschöpft sein werden. Dies sind die düsteren Aussichten für die Arbeiterklasse des Wirtschaftsmotors Europas.

Das Zusammenwirken von Inflation, dem Krieg in der Ukraine und den russischen Sanktionen lässt die Gaspreise weltweit in die Höhe schnellen. Der niederländische TTF-Gasvertrag, der auf den europäischen Märkten als Referenzwert gilt, wird zu einem Preis gehandelt, der zehn Mal so hoch ist wie der Durchschnittspreis im Jahrzehnt bis 2020. Dies alles führt zu dem, was Alex Munton, ein Analyst der globalen Gasmärkte, beschrieben hat als: «…die extremste Energiekrise, die es je in Europa gegeben hat… [Das bedeutet] die sehr reale Aussicht, nicht genügend Gas zu haben, wenn es am meisten gebraucht wird, nämlich während der kältesten Zeit des Jahres».

Diese Umstände bedeuten, dass Deutschland auf eine Krise auf allen Ebenen zusteuert: sozial, wirtschaftlich und politisch. Ein Land, das einst ein Pfeiler der Stabilität war, ist wie der Rest der Welt in einen Zustand des Chaos und der Verwerfung geraten.

Die Abhängigkeit Deutschlands von Russland

In letzter Zeit ist Deutschland immer abhängiger von russischer Energie geworden. Unmittelbar vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine bezog Deutschland ein Drittel seines Öls und über die Hälfte seines Gases aus Russland. Diese beiden Energieträger deckten zusammen 60 Prozent des deutschen Primärenergiebedarfs ab. Diese Abhängigkeit ist kein Zufall, sondern darauf zurückzuführen, dass russisches Gas die billigste Brennstoffquelle ist.

Die Schwerindustrie erwirtschaftet 30,7 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts und dieser Sektor verschlingt 37 Prozent des deutschen Gases. Ein Grossteil der Produktion wird letztendlich exportiert. Deutschland ist der drittgrösste Exporteur der Welt. Wie der Chef eines grossen Chemieunternehmens es ausdrückt, hat «die billige Energie Deutschland Reichtum gebracht», obwohl natürlich die deutschen Kapitalisten den grössten Teil dieses Reichtums selbst eingestrichen haben. 

Wie wir erklärt haben, ist der Krieg in der Ukraine im Wesentlichen ein Stellvertreterkrieg zwischen dem russischen Imperialismus und dem viel stärkeren US-Imperialismus, der bis zum letzten Tropfen ukrainischen Blutes kämpft. Da die USA und ihre Verbündeten nicht bereit sind, mit Bodentruppen zu intervenieren, haben sie stattdessen Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt und Waffen im Wert von zig Milliarden Dollar an die Ukraine geliefert.

Da Putin auch nicht bereit ist, sich auf einen umfassenden Krieg mit dem US-Imperialismus einzulassen, der die totale Vernichtung beider Seiten riskieren würde, greift er als Vergeltungsmassnahme auf wirtschaftliche Mittel zurück. Die Kontrolle Russlands über einen grossen Teil des Energiemarktes ist eine der besten Karten in Putins Hand. Wir müssen unterstreichen, dass der Westen trotz heuchlerischen Krokodilstränen der westlichen Medien immer wieder Methoden der wirtschaftlichen Kriegsführung gegen seine Gegner eingesetzt hat, wobei die 60-jährige Wirtschaftsblockade Kubas nur ein Beispiel ist. 

Da die westlichen Länder versuchen, die Importe von Rohstoffen wie Treibstoff zu reduzieren, ist es aus Putins Sicht für Russland absolut sinnvoll, auch die Exporte zu begrenzen, da somit der Preis in die Höhe getrieben wird. Trotz der verringerten Treibstoffexporte nach Deutschland nimmt Russland aufgrund der gestiegenen Öl- und Gaspreise und der Tatsache, dass Länder wie Indien und China neuerdings immer mehr Treibstoff konsumieren, schätzungsweise immer noch 800 Millionen Dollar pro Tag ein. 

Es ist offensichtlich, dass Russland versucht, den Druck auf seine Feinde zu erhöhen, indem es Gaslieferungen als Waffe einsetzt. Das vom russischen Staat kontrollierte Unternehmen Gazprom verwaltet etwa 20 Prozent der deutschen Gasspeicherkapazitäten, die laut Robert Habeck, dem deutschen Vizekanzler, im vergangenen Winter «systematisch geleert» wurden. Hinzu kommt, dass Gazprom die Gaslieferungen nach Deutschland unter allen möglichen Vorwänden langsam reduziert hat. Diese Ströme liegen jetzt bei 20 Prozent der Kapazität. 

Bloomberg behauptet, dass der Kreml dies absichtlich tut, um Druck auf die EU auszuüben. Im selben Artikel wird Andrej Kortunow vom russischen Rat für internationale Angelegenheiten, der vom Kreml gegründet wurde, zitiert. Er sagt, dass diese Politik wahrscheinlich nicht in der Hoffnung betrieben wird, die Politik der EU zu ändern, sondern dass sie «interne Schwierigkeiten» innerhalb des Blocks beschleunigen und so zu «Regierungswechseln in einer Reihe von europäischen Ländern» führen könnte, die sich «mehr auf die inneren Angelegenheiten konzentrieren». 

Mit anderen Worten: Russland hofft, dass die Drosselung der Gaslieferungen Europa so sehr wehtun wird, dass die derzeitigen europäischen Regierungen ersetzt werden durch Regierungen, die weniger daran interessiert sind, den Krieg in der Ukraine fortzusetzen, und sich mehr für die Beendigung der Brennstoffknappheit und die Bewältigung der Wirtschaftskrise im eigenen Land einsetzen.

Heute versuchen die Grossmächte also, ihre Macht mit wirtschaftlichen Mitteln auszuüben, anstatt sich in einem direkten Konflikt mit Kugeln zu bekämpfen. Um ihren eigenen Zwecken nachzugehen sind beide Seiten bereit, die Bevölkerung auf der gegnerischen Seite aufs Brutalste leiden zu lassen. 

Interne Schwierigkeiten in Deutschland

Schon vor dem Ausbruch des Krieges war die wirtschaftliche Lage in Deutschland düster. Die Auswirkungen der Pandemie hatten grossen Druck auf die globalen Lieferketten ausgeübt. Das hat dazu geführt, dass das deutsche BIP in den letzten drei Monaten von 2021 geschrumpft ist. Diese düsteren Aussichten haben sich inzwischen ins Katastrophale verschoben. 

Die jüngsten Zahlen zeigen, dass die Inflation im Juli 8,5 Prozent erreicht hat. Der zusätzliche Druck auf die KonsumentInnen führte dazu, dass die Einzelhandelsumsätze so stark zurückgingen wie seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1994 nicht mehr, was sich nun auf die Aussichten der Kapitalisten auswirkt: Das Vertrauen in die Wirtschaft ist so niedrig wie seit Beginn der Pandemie nicht mehr. 

Als exportabhängiges Land ist Deutschland den Problemen des Welthandels besonders ausgeliefert. Da die COVID-bedingten Lockdowns in China noch immer in Kraft sind, gingen die Exporte nach China im Vergleich zum Vorjahr um 3,9 Prozent zurück. Auch die Autoindustrie, die für die deutsche Wirtschaft von grosser Bedeutung ist, wird hart von der Verknappung von Halbleitern und Kabelbäumen, die in der Ukraine hergestellt werden, getroffen. Insgesamt meldeten 73,3 Prozent der Hersteller im vergangenen Monat Lieferprobleme. 

Vor allem aber ist die herrschende Klasse Deutschlands äusserst besorgt über die Reduzierung (oder den Stopp) der Gaslieferungen aus Russland. Martin Brudermüller, der Vorstandsvorsitzende des weltgrössten Chemieunternehmens BASF, sagte, dass dies die «gesamte deutsche Wirtschaft» zerstören und die schlimmste Wirtschaftskrise seit 1945 auslösen könnte. Einige der wichtigsten Industriezweige der deutschen Wirtschaft könnten ohne ausreichende Gaslieferungen einfach nicht mehr arbeiten. 

Die BASF zum Beispiel sagt, wenn die Gaslieferungen unter 50 Prozent des normalen Niveaus sinken würden, müsste sie die Maschinen, mit denen sie Inhaltsstoffe für medizinische Produkte und Lebensmittel herstellt, komplett abschalten. Wenn ausserdem die Schmelzöfen für die Glasherstellung abgeschaltet werden müssen, bedeutet dies, dass das geschmolzene Glas zu erstarren beginnt, wodurch die Maschinen in Zukunft unbrauchbar werden. Die Glasindustrie kann nicht einfach nach Belieben ein- und ausgeschaltet werden, und das gilt auch für eine Reihe anderer Sektoren.

Zu allem Überfluss trocknet auch noch der Rhein aus. Der Fluss ist eine wichtige Wasserstrasse für den Transport von Kohle, Öl und Gas und liefert Wasser für die Kühlung von Motoren. Der Wasserstand nähert sich einem Punkt, an dem die Durchfahrt von Lastkähnen unmöglich wird. Dies hätte zu keinem schlechteren Zeitpunkt geschehen können und wird die Energiekrise noch weiter verschärfen.

Kann das Gas ersetzt werden? 

In Deutschland gibt es eine Denkschule, die behauptet, die Krise sei übertrieben. Der Wirtschaftswissenschaftler Rüdiger Bachmann behauptet, dass es «machbar» sei, die russischen Energieimporte zu ersetzen und dies nur «eine vorübergehende Krise» verursachen würde. Er verweist auf die Fähigkeit der deutschen Regierung, Arbeitsplätze durch Kurzarbeit zu sichern (Arbeitszeitverkürzungen oder Lohnkürzungen, wobei der Staat die Löhne ganz oder teilweise ausgleicht) und Unternehmen durch Kapitalspritzen vor dem Konkurs zu bewahren. Er kommt zu dem Schluss, dass der Schaden für die Wirtschaft «nur» zwischen 0,5 Prozent und 3 Prozent des BIP liegen würde. 

Moritz Schularick, der zum gleichen Team wie Rüdiger gehört, behauptet, dass Deutschland aufgrund des Handels sicher sei. Deutschland könne sich an andere Länder wenden, um Energie «indirekt an anderen Stellen der Wertschöpfungskette» zu importieren. Am Beispiel von Glas sagt er, dass eine Unterbrechung der Gaslieferungen zwar schlecht für die «Produzenten» wäre, die «Konsumenten» aber nichts zu befürchten hätten, da sie einfach Produkte aus anderen Ländern kaufen könnten. Was die energieintensiven Industrien betrifft, so werden sie nicht mehr in der Lage sein, die heimische Produktion aufrechtzuerhalten, aber dies war aufgrund der «grünen Wende» der Wirtschaft «ohnehin abzusehen». 

Diese Ansicht teilt Bundeskanzler Olaf Scholz jedoch nicht, der diesen Ansatz als «unverantwortlich» kritisierte. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum. Das russische Gas auf einen Schlag zu ersetzen ist nicht gerade einfach. Diese kurzsichtigen Ökonomen glauben, dass alles durch «Handel» gelöst werden kann, aber sie unterschätzen die Grenzen, die dem kapitalistischen System durch die Schranke des Nationalstaates auferlegt sind. 

Der zweitgrösste Pipeline-Gaslieferant der Welt (nach Russland) ist zum Beispiel Norwegen. Allerdings erwägt das Land jetzt, die Stromexporte einzuschränken, weil es Bedenken hinsichtlich der Versorgung der eigenen Bevölkerung hat. Jedes zusätzliche Gas, das durch die Pipeline kommt, wird von allen europäischen Ländern umkämpft sein, was bedeutet, dass die Preise weiter steigen werden.

Im Gegensatz zu Pipeline-Gas könnte Deutschland auf Flüssigerdgas (LNG – eng. Liquefied Natural Gas) aus Katar oder den USA zurückgreifen. Um LNG importieren zu können, muss es jedoch in Terminals «regasifiziert» werden, von denen Deutschland keine hat. Der Bau dieser Terminals würde Jahre dauern. Deutschland hat zwar einige schwimmende Regasifizierungsschiffe erworben, doch werden diese wahrscheinlich nicht vor Anfang nächsten Jahres in Betrieb genommen werden. 

Selbst wenn Deutschland über Regasifizierungsterminals verfügen würde, wäre LNG kein Allheilmittel. Zum Vergleich: Europa importiert mehr Pipelinegas als die gesamte LNG-Exportkapazität der USA und Katars. Darüber hinaus sind bis zu 95 Prozent der derzeitigen Produktion Katars bereits über langfristige Verträge verkauft worden, und das Land ist zwar bestrebt, die Produktion zu erhöhen, doch bis das erreicht wird, wird’s einige Jahre dauern. 

Ebenso wird geschätzt, dass neue Kapazitäten aus den USA nur zwischen 5 und 9 Prozent des zuvor von Russland gelieferten Gases ersetzen können, und ähnlich wie im Falle Norwegens wird im selben Artikel von «Gerüchten über eine Begrenzung der Gasexporte» aus den USA gesprochen, um zu versuchen, die Kosten im Inland zu begrenzen. Wenn das kapitalistische System stabil ist, sind begrenzte Vereinbarungen und Absprachen zwischen den Ländern möglich. Wenn das System jedoch in eine Krise gerät, versucht jeder Nationalstaat, seine eigenen Interessen vor allen anderen zu schützen. 

Einige Optimisten unter den Strategen der herrschenden Klasse behaupten, dass dies eine hervorragende Gelegenheit sei, die deutsche Wirtschaft grüner zu machen. Um erneuerbare Energien nutzen zu können, muss jedoch eine neue Infrastruktur aufgebaut werden, die die Energiespeicherung ermöglicht. Das ist notwendig, denn leider scheint die Sonne nicht immer und der Wind weht nicht immer. Der Aufbau dieser Infrastruktur wird nicht nur Zeit brauchen, sondern die wirtschaftliche Situation mit der steigenden Inflation könnte bedeuten, dass die Kosten für die Infrastruktur für erneuerbare Energien um bis zu 20 % höher werden als noch vor dem Krieg. 

Dieser Krieg ist das Ergebnis jahrzehntelanger zwischenimperialistischer Wettstreite. Mit dem relativen Niedergang der USA versucht Russland, seine Interessen im «nahen Ausland» durchzusetzen. Aus diesem Grund versuchen die Verbündeten der USA vorerst, ihre eigene Wirtschaft und ihre eigenen Häuser weiterhin mit Strom zu versorgen. Weil es keinen globalen, rationalen Plan gibt, ist alles, was übrig bleibt, eine chaotische Situation mit schnell ansteigenden Preisen und zunehmender Spannung zwischen den Nationalstaaten. Wie immer ist diejenige, die die Rechnung zu bezahlen hat, die Arbeiterklasse der einzelnen Länder.

Taumeln am Rande des Abgrunds

Die deutsche Wirtschaft taumelt derzeit am Rande des Chaos. Ein Regierungsberater schätzt den Schaden auf zwischen 3 % des BIP (wenn die russische Energie problemlos ersetzt werden kann) und 12 % des BIP (wenn Deutschland die russische Energie nicht problemlos ersetzen kann). Die Prognosen für die deutsche Wirtschaft gehen weit auseinander. Der Grund dafür wurde vielleicht am besten von Ira Joseph, einer Energieberaterin, ausgedrückt, die sagte, dass «die Preise so hoch sind, dass wir nicht wirklich wissen, wie die Wirtschaft oder die Nachfrage reagieren wird». Wie die Bundesbank erklärt hat, ist es äusserst schwierig, die potenziellen Auswirkungen auf die Wirtschaft zu messen, da die Wirtschaftsmodelle die möglichen Auswirkungen, die durch Unterbrechungen der Energieversorgung ausgelöst werden könnten, nur schwer erfassen können. Die Commerzbank verweist auf das Risiko einer «Kettenreaktion mit unvorhersehbaren Folgen». 

Die Weltwirtschaft ist ein komplexes System aus verschiedenen Elementen, die alle aufeinander einwirken und sich gegenseitig beeinflussen. Wenn ein Glied in der Kette beschädigt wird, kann die Quantität in Qualität umschlagen und die Auswirkungen können weitaus grösser sein als zunächst befürchtet. 

Eine Befürchtung ist, dass der Druck auf die Energiemärkte einen «Lehman-Effekt im Energiesystem» auslösen könnte, wie Habeck gewarnt hat. Deutschland musste bereits das Energieunternehmen Uniper retten. Das Unternehmen erhielt nur 40 Prozent des vertraglich vereinbarten Gases und war daher gezwungen, Gas auf dem weitaus teureren Spotmarkt zu kaufen, um die Versorgung der Kunden aufrechtzuerhalten. Zu einem bestimmten Zeitpunkt verlor das Unternehmen 35 Millionen Dollar pro Tag. 

Abgesehen von den erheblichen Befürchtungen für das nächste Jahr hat sich bei vielen Mitgliedern der deutschen herrschenden Klasse ein existenzielles Grauen breit gemacht. Die Angst bezieht sich nicht nur auf eine vorübergehende Abschaltung der Industrie, die zwar erhebliche Auswirkungen haben wird, die aber überwunden werden kann. Die Herrschenden befürchten, dass die deutsche Industrie, ein äusserst wichtiger Bestandteil der deutschen Wirtschaft, auf dem Weltmarkt faktisch nicht mehr wettbewerbsfähig sein wird. Sollte dies der Fall sein, so steht die Deindustrialisierung des Landes bevor. 

Diese Befürchtung wurde von verschiedenen seriösen Strategen der deutschen herrschenden Klasse geäussert, und bereits 16 Prozent Industrie-Unternehmen geben an, dass sie auf höhere Preise mit einer Drosselung der Produktion oder der teilweisen Einstellung bestimmter Geschäftsbereiche reagieren würden. Andere, wie das Chemieunternehmen BASF, erwägen, die Produktion dorthin zu verlagern, wo sie billiger sein könnte, wie etwa nach China, in die Türkei oder in den Mittelmeerraum. 

Deutschland befindet sich in einer Situation, in der die Kosten in die Höhe schiessen und die Nachfrage sinkt. Für eine Exportwirtschaft ist das eine sehr schlechte Situation. Die ersten Anzeichen sind schon sichtbar: Zum ersten Mal seit 30 Jahren verzeichnet Deutschland ein Handelsdefizit. 

Einige Unternehmen versuchen, Erdgas durch andere Energieträger, wie z. B. Erdöl, zu ersetzen. Die BASF, die zu diesen Unternehmen gehört, weist jedoch darauf hin, dass die Voraussetzung dafür «die ausreichende Verfügbarkeit von Heizöl ist». Ein plötzlicher Nachfrageschub nach Erdöl (von dem Russland ebenfalls einer der grössten Produzenten der Welt ist) wird auch den Preis dieses Rohstoffs in die Höhe schnellen lassen. Es handelt sich also lediglich um das gleiche Problem, übertragen auf einen anderen Rohstoff.

Doch selbst wenn Deutschland in der Lage wäre, sich mit alternativen Brennstoffen zu versorgen, ist Gas als Rohstoff viel schwieriger zu ersetzen. Das grösste Stahlunternehmen des Landes, ThyssenKrupp, benötigt Gas für den Betrieb seiner Hochöfen, während Unternehmen der chemischen Industrie es für die Herstellung von Chemikalien benötigen, die aus Kohlenwasserstoffen gewonnen werden. Jorg Rothermel vom Fachverband der deutschen Chemieindustrie behauptet, dass nur 2-3 Prozent des verbrauchten Gases durch alternative Brennstoffe wie Kohle oder Öl ersetzt werden können. 

In der Chemiebranche sind mehr als 1 Million Menschen beschäftigt, aber um wirklichen die Auswirkungen einer Krise in diesem Bereich zu verstehen, reicht es nicht aus, diesen Sektor isoliert zu betrachten. Der Vorstandsvorsitzende von H&R, einem Hersteller von Spezialchemikalien hat erklärt, dass für ihn «Gas im Grunde unersetzlich ist». Das Unternehmen selbst ist ein grosser Hersteller von Wachs, Emulsionen, Vaseline, Kabelverbindungen und Motorölen. Diese werden in einer Vielzahl von Industriezweigen verwendet, von der Pharmaindustrie bis zur Lebensmittelindustrie. 

Henrik Follman, der Leiter des Chemieunternehmens Follman Chemie, sagte, dass ohne Gas «die Raffinerien stillstehen, die chemische Industrie stillsteht und die gesamte deutsche Industrie stillsteht». Er weist darauf hin, dass das Unternehmen Chemikalien an die Holz- und Möbelindustrie liefert. Martin Brudermüller, der Vorstandsvorsitzende der BASF, weist darauf hin, dass es bei einem Produktionsstopp in ihrem Werk in Ludwigshafen «keine Autos, keine Arzneimittel und viele andere Dinge mehr geben wird».

Die Wirtschaft entwickelt sich nicht geradlinig. Eine Krise in einem Sektor kann einen Dominoeffekt auslösen, der zu einer weitreichenderen Krise führt. Wenn die oben beschriebenen Industrien, die die «Inputs» liefern, zusammenbrechen, kann dies die gesamte deutsche (und europäische) Industrie unter Druck setzen. Es ist unmöglich, genau zu wissen, wie hart die deutsche Wirtschaft getroffen werden wird, aber die Krise könnte ein katastrophales Ausmass annehmen, mit weit verbreiteten Entlassungen und extremem Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen, da die Unternehmen die Ausbeutung intensivieren und ihre Belegschaften ausquetschen werden, um zu überleben.

Was ist die Lösung? 

Die herrschende Klasse versucht verzweifelt, die Bevölkerung auf das Kommende vorzubereiten. Robert Habeck sagte, die Menschen müssten «ihren Beitrag leisten», während der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck die deutsche Bevölkerung aufforderte, «für die Freiheit zu frieren». Da es laut The Guardian unmöglich ist, den Gasverbrauch jedes Einzelnen zu überwachen, wird der Verbrauch nur durch höhere Preise gesenkt werden können. Die Deutschen werden also gezwungen sein zu frieren, um dem US-Imperialismus die Freiheit zu lassen, so zu handeln, wie er will.

Derzeit ist etwa die Hälfte der Deutschen der Meinung, dass die Regierung Kiew trotz der steigenden Energiekosten weiter unterstützen sollte. Auf die Frage, ob sie bereit seien, «für die Freiheit zu frieren», stimmten im April jedoch – wenig überraschend – nur 24 Prozent zu. 

Zu Beginn, wenn die Folgen noch nicht spürbar sind und die chauvinistische Stimmung auf dem Höhepunkt ist, kann ein Krieg eine Atmosphäre der nationalen Einheit schaffen. Doch wenn die wirtschaftlichen Folgen spürbar werden, kann sich dies in sein Gegenteil verkehren. Was sich in Deutschland anbahnt, ist eine gewaltige soziale Explosion. 

Parallel dazu gibt es Vorschläge für die deutsche Industrie, «die mit Gas betriebene ‚Illusion der Wettbewerbsfähigkeit‘ abzuschütteln.» Unternehmen wie BASF wird empfohlen, nicht mehr nur Düngemittel zu verkaufen, sondern Düngemittel-Dienstleistungen anzubieten. Dies ist ein Argument für die Deindustrialisierung Deutschlands. Es mag als ein netter, freundlicher, «grüner» Übergang dargestellt werden. Wer jedoch in den Rostgürteln der USA, Grossbritanniens oder Frankreichs lebt, weiss, was diese Art von Politik wirklich bedeutet: einen massiven Angriff auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse. 

Leo Trotzki hat einmal gesagt, dass nicht unbedingt eine Senkung des Lebensstandards an sich die Ursache für eine Radikalisierung ist, sondern die Instabilität, die mit dem Übergang vom Aufschwung zum Abschwung einhergeht und die Menschen aus jedem möglichen Konservatismus aufschreckt. Die Zukunft, die der Masse der deutschen Bevölkerung bereitet wird, besteht aus steigenden Rechnungen, Druck auf die Löhne, Arbeitslosigkeit und Massenentlassungen. Dieser rasche Wandel wird über kurz oder lang eine ebenso rasche Radikalisierung des Bewusstseins nach sich ziehen.

Schon jetzt lebt rund ein Viertel der Deutschen in sogenannter Energiearmut. Diese wird sich aber noch deutlich verschärfen. Die Regierung plant einen Aufschlag, um die Mehrkosten für Gas zu «verteilen», und wird auch dem von ihr geretteten Unternehmen Uniper erlauben, die Mehrkosten an seine Kunden weiterzugeben. Die Rechnungen, die voraussichtlich im Herbst an die Haushalte weitergegeben werden, könnten um 200 Prozent steigen, was für einen Ein-Personen-Haushalt einen zusätzlichen Betrag von 2.700 Euro pro Jahr bedeuten würde. Diese zusätzlichen Kosten werden die ArbeiterInnen zum Handeln zwingen. Die Menschen werden für Lohnerhöhungen kämpfen und die Regierung zum Handeln zwingen müssen, um sich bloss über Wasser zu halten.

Diese Schlussfolgerung wird nicht nur von MarxistInnen gezogen, sondern auch von den Kapitalisten, ihren Strategen und ihren Vertretern. Frans Timmermans, der Vizepräsident der Europäischen Kommission, sagt, dass die europäischen Länder Gefahr laufen, in «sehr, sehr starke Konflikte und Unruhen» abzugleiten. Marcel Fratzscher, der Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, weist auf die Gefahr eines «sozialen Backlash» hin, und Aussenministerin Annalena Baerbock warnt vor «Volksaufständen».

Weltweite Beziehungen

Wenn der Druck von unten zunimmt, wird die viel beschworene Einheit des Westens zu bröckeln beginnen. Michael Kretschmer von der CDU hat bereits ein «Einfrieren» des Krieges gefordert, da seine Fortsetzung die Gefahr einer «Deindustrialisierung» Deutschlands berge. Dies widerspricht der bisherigen Politik des Westens, denn es würde im Grunde ein Einfrieren der aktuellen Kriegsfront bedeuten. Zurzeit ist dies nicht die Mehrheitsposition der CDU, aber wenn sich eine Massenstimmung gegen den Krieg entwickelt, könnte eine politische Gruppierung oder eine Partei durchaus beginnen, diese Ansicht zu vertreten. 

Auch in der Regierungspartei gibt es Anzeichen für Unruhe. Als Jens Plötner, der aussenpolitische Berater von Olaf Scholz, im Juni auf die Vorwürfe einging, Deutschland habe nicht genug zur Unterstützung der Ukraine getan, forderte er die Medien auf, sich mehr auf «Deutschlands künftige Beziehungen zu Russland als auf die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine» zu konzentrieren. Scholz äusserte sich zwar nicht direkt zu diesen Bekenntnissen, schloss aber eine Rückkehr zu einem normalen Verhältnis zu Russland aus. Dennoch hat Scholz im Vergleich zu den USA oder den baltischen Ländern stets eine mildere Haltung zu dem Konflikt eingenommen, indem er immer wieder sagte, dass Russland «nicht gewinnen darf», anstatt einen ukrainischen Sieg zu fordern. Dieser mildere Ton ist eindeutig eine Folge der Abhängigkeit Deutschlands von russischen Treibstofflieferungen. Wenn der Druck zunimmt, könnten sich diese Risse in tiefe Brüche verwandeln. 

All dies bedeutet, dass der Klassenkampf in Deutschland, der lange Zeit hinter demjenigen anderer Länder zurückgeblieben war, nun mit einem Paukenschlag aufholen wird. Die Zeit, in der wir leben, ist eine Zeit des Krieges, der Krise und der Revolution. Es ist eine «spiralförmige Krise», die die Masse der Arbeiterklasse zum Handeln zwingen wird. In einem Land nach dem anderen werden wir eine titanische Schlacht erleben, wenn die ArbeiterInnen sich gegen die Versuche ihrer herrschenden Klassen wehren, die Lasten des kapitalistischen Verfalls auf ihre Schultern zu laden. Deutschland ist keine Ausnahme. Was wir brauchen, ist eine revolutionäre Führung, die die ArbeiterInnen zum Sieg führt und die menschliche Zivilisation endlich von den Fesseln des Nationalstaates und der privaten Eigentumsverhältnisse befreit und den Weg zum Sozialismus weist.

Jack Halinski-Fitzpatrick, IMT
11.08.2022