Die Krise des kapitalistischen Systems findet dieser Tage seinen Ausdruck auch in einer tiefen politischen Krise in den Staaten der Europäischen Union. Resigniert durch anhaltende Verschlechterungen der Lebensbedingungen wenden sich die Massen gegen das Projekt der Europäischen Integration. Bedeuten Massenproteste und Brexit das Ende der EU?

Die Nachricht schlug am 24. Juni ein, wie eine Bombe. Es wäre nicht zu viel gesagt, wenn man den Brexit als politisches Erdbeben von globalem Ausmass bezeichnet. Das britische Pfund stürzte auf den tiefsten Stand seit 1985 ab, David Cameron kündigte seinen Rücktritt an, die Abspaltung von Schottland und Nordirland vom Vereinigten Königreich wird wieder vermehrt gefordert und in der Labour Party versuchen die rotbemäntelten bürgerlichen Anhänger von Tony Blair einen Putsch gegen den Vorsitzenden Jeremy Corbyn. Das Vereinigte Königreich scheint tief gespalten. Während Europaskeptiker jubilieren klagen grosse Teile der europäischen Sozialdemokratie über das Schicksal ihres „Friedensprojekts“. Doch auch andernorts herrscht Aufruhr: Die Arbeitskämpfe nehmen zu, Massenproteste überziehen ganze Staaten und die KapitalistInnenklasse weiss dem Widerspruch gegen eine Politik, die den Massen nichts mehr zu bieten hat, nur mit Repression und Notrecht zu begegnen. Bestes Beispiel hierfür ist momentan Frankreich, wo Millionen sich gegen die Konterreform des Arbeitsrechts durch die sozialdemokratische Regierung stemmen. Die Lage lässt nur einen Schluss zu: Europa steckt in einer tiefen Systemkrise.

Nach dem Brexit der Czexit oder der Nexit?
In Ungarn, Finnland, Frankreich oder Österreich bringen sich rechtspopulistische Parteien in Position, um ebensolche Referenden durchführen zu lassen. Mit einer verlogenen Anti-Establishment Rhetorik führen die bourgeoisen EU-SkeptikerInnen einen Freudentanz auf und loben das Vereinigte Königreich über den grünen Klee. Die Stimmung bei den Massen lässt den Austritt weiterer Mitglieder und letztlich sogar den Zerfall der EU möglich erscheinen. Jedoch sind die Austrittsdrohungen nicht gleich ernst zu nehmen. Während bei den Nettozahlern unter den EU-Mitgliedern Sezessionen durchaus realistisch scheinen, werden Staaten wie Polen oder Ungarn kaum eine Abspaltung in Betracht ziehen: Zu sehr profitieren die KapitalistInnenklassen von Ländern wie Polen oder Ungarn von den Geldern, die von Brüssel aus fliessen. Die Sezessionsdrohungen haben dort einen anderen Charakter: Sie werden in die Waagschale geworfen, um angesichts der Kritik durch die EU an einer Politik von Antidemokratie und geschlossenen Grenzen politischen Druck aufzubauen. Ganz getreu dem Motto: “Wir machen, was wir wollen, oder wir spielen nicht mehr mit.“ Die politischen Formationen, die sich auf dem Kontinent momentan am lautesten gegen die EU stellen haben einen zutiefst reaktionären, in manchen Fällen gar faschistoiden Charakter. Es wäre jedoch völlig fern der Lebensrealitäten der Millionen Personen, die sich für den Brexit ausgesprochen haben und sich in anderen Ländern gegen die Europäische Integration stellen, wenn man den Ausgang des Referendums einfach nur auf Rassismus oder rechte Gesinnung zurückzuführen versucht. So stimmten Gemeinden in England, die massiv unter der Deindustrialisierung und der Schliessung der Zechen zu leiden haben, in der Regel für den Brexit. Die Stimmen für den Austritt waren auch (aber nicht ausschliesslich) Stimmen gegen eine EU, die als Ausdruck eines bürokratischen Establishments gewertet wird, das einzig sein eigenes Fortkommen im Sinne hat und dem die Massen nichts bedeuten. Damit steht der Brexit stellvertretend dafür, was in Europa momentan geschieht. Der Ausgang war nicht einfach ein Sieg reaktionärer, nationalistischer Kräfte gegen internationalistische, fortschrittliche Formationen, sondern Folge tiefster Unzufriedenheit der Massen mit dem Status Quo.

Ein Europa von Ausbeutern und Rassisten
Ein Ausdruck hiervon ist auch der wachsende Rassismus, wie wir ihn am starken Anstieg rassistischer Übergriffe nach dem Brexit sehen. Viele EinwanderInnen reagieren angesichts einer recht plötzlichen Explosion von Fremdenfeindlichkeit zu Recht mit Verunsicherung. Der Rassismus der vom rassistischen Pack nach dem Brexit in aller Öffentlichkeit ausgelebt wird, ist aber nicht aus dem Nichts entstanden. Er ist im Kontext eines Europas zu sehen, dass sich seit Jahren in einer tiefen Krise befindet. Einer Krise, die für eine Verschlechterung der Lebensbedingungen der Massen sorgt, während die Reichen immer reicher werden. Die Krisenpolitik der Bourgeoisie mitsamt Austerität und massiven Prekarisierungen hat das Vertrauen in das politische Establishment nachhaltig erschüttert und in vielen Staaten Europas die Politlandschaft völlig verändert. Der versprochene Wohlstand für die Massen bleibt aus. Stattdessen sehen sich die Werktätigen einer bourgeoisen Krisenpolitik ausgesetzt, die auf Austerität und dem Frontalangriff auf Lebensbedingungen und ArbeiterInnenrechten basiert. Wohlstand bedeutete die EU freilich nur für die KapitalistInnen. In aller Offenheit nahm Brüssel die Rolle der Vollzugsgehilfin der KapitalistInnenklasse ein, wenn es darum ging Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung zu zerschlagen und Arbeitskraft billiger zu machen. Solange grosse Teile der KapitalistInnenklassen Europas von der Europäischen Integration profitierten, ging das Konzept der EU auf. Doch mit der Krise änderte sich die Lage und nun sehen Teile der Bourgeoisie ihr Heil im Austritt.

Ein innerbourgeoiser Konflikt
Beispielhaft für diese Krise der EU steht der Entscheid der BritInnen die EU zu verlassen. Dass es überhaupt zum Referendum kam, ist dabei zwei Umständen geschuldet. Einerseits handelt es sich um einen politischen Konflikt innerhalb der konservativen Partei im Vereinigten Königreich. Kreise um den Londoner Ex-Bürgermeister Boris Johnson nutzten das Referendum, um die Führung durch Premier David Cameron anzugreifen und damit die eigenen Karrieren zu befördern. Insofern basiert das Referendum auf einem Kampf um Macht, Einfluss und Pfründe unter den Tories. Dabei war der Erfolg der Brexit-Fraktion für einen Teil der Austrittswilligen wohl selber überraschend. So kündigte Boris Johnson eine Woche nach dem Referendum an, nicht das Amt des Premiers und Vorsitzenden der Tories anzustreben. Doch auch in ökonomischer Hinsicht handelt es sich um einen Konflikt innerhalb der kapitalistischen Klasse. Ohne dass sich Teile der Bourgeoisie dem Remain- bzw. dem Brexit-Lager angeschlossen hätten und die Kampagnen finanziell unterstützt hätten, wäre kein so knapper Ausgang bei massivem öffentlichem Interesse denkbar gewesen. Wir dürfen uns die KapitalistInnenklasse nicht als homogenen Block mit einheitlichen Interessen vorstellen. Der Brexit ist also auch Folge des Konflikts zwischen einer Clique nationalistischer KapitalistInnen, die ihr Heil in der Abschottung sucht und, um sich vor ausländischer Konkurrenz zu schützen und zwischen jenen KapitalistInnen, die davon profitieren, dass sich ihnen mit dem europäischen Binnenmarkt neue Märkte eröffnen.

Eine grosse Rolle bei der Ablehnung der EU durch Wirtschaftskreise spielt aber auch die Hoffnung bei einem Austritt Regulierungen abschaffen zu können, die von Brüssel eingeführt und standardisiert wurden. Letztlich kamen die verschiedenen Brexit-Kampagnen auf höhere Spendeneinnahmen aus der Wirtschaft, als die Remain-Kampagne. Kurz vor dem Referendum war die Unterstützung durch Wirtschaftskreise für den Austritt von 30 auf 37% gestiegen. Die Zustimmung zum Verbleib ist im gleichen Zeitraum von 60 auf 54% gesunken. In Zeitungsberichten zur Unterstützung vom Brexit durch Teile der Bourgeoise schimmert bei den befragten KapitalistInnen oft die nationalistische Hoffnung auf, dass durch ein Wiedererstarken des Vereinigten Königreichs auch wirtschaftlicher Aufschwung erreicht würde. Ihre Hoffnungen werden vermutlich ebenso unerfüllt bleiben, wie die der Werktätigen, die im Brexit eine Perspektive auf das Ende der Austeritätsprogramme sahen. Die Hoffnungen der Massen wurden schon Stunden nach der Bekanntgabe des Ergebnisses zerschlagen. So hatte die rechtspopulistische Partei Ukip im Abstimmungskampf angedeutet, dass mit dem Brexit 350 mio Pfund zusätzlich für das Gesundheitswesen frei würden (dieses Versprechen wurde sogar in meterhohen Lettern auf einem Kampagnenbus plaziert). Den offenen Bruch seiner Abstimmungsversprechen kündete Ukip-Chef Nigel Farrage schon Stunden nach Bekanntwerden der Ergebnisse an behauptete, dass mehr Geld für die Gesundheit nie ein Thema gewesen sei.

Revolution statt Resignation
Dass keine der beiden Abstimmungsoptionen eine Verbesserung der Lebensrealitäten der werktätigen Bevölkerung mit sich bringen wird, war im Endeffekt schon vor dem Brexit klar. Auch wenn sich das Stimmvolk für den Verbleib in der EU ausgesprochen hätte, wäre dadurch den Sparprogrammen und den frontalen Angriffen auf ArbeiterInnenrechte nicht Einhalt geboten worden. Die Illusion, dass ein Ausbau solcher Rechte mit der EU zu machen ist, basiert auf einer völlig falschen Annahme davon, welche Funktion der Staatenbund erfüllt. Wie sehr sich auch manche ExponentInnen der Sozialdemokratie eine fortschrittliche, soziale EU wünschen, die Europäische Union ist und bleibt ein Projekt im Sinne der Besitzenden, dass geschaffen wurde, um den KapitalistInnen Europas Zugang zu neuen Märkten zu verschaffen. Das wird auch darin deutlich, dass der deutsche Finanzminister Schäuble zwar von einer Ausbremsung der Europäischen Integration spricht, dabei aber festhält, dass der Binnenmarkt unbedingt beibehalten werden müsse. Letztlich wird die Wahl zwischen Austritt und Verbleib nicht die Wahl gewesen sein, die sich viele erhofften: Die Wahl also zwischen dem Status Quo und einem neuen Weg. Viel eher war es die Wahl zwischen zwei verfeindeten Lagern in der Conservative Party und den KapitalistInnen, die ihnen Rückendeckung gaben.

Die Frage, ob ein Brexit zu unterstützen sei oder nicht, zeigt beispielhaft auf, welche Positionen die revolutionären Organisationen der ArbeiterInnenbewegung einnehmen müssen. Dort wo die beiden Optionen, die die KapitalistInnen einem bieten, keine Fortschritte in der dringend nötigen Verbesserung der Lebensbedingungen der Massen bedeuten, gilt es den unabhängigen Klassenstandpunkt des Proletariats zu vertreten. Als MarxistInnen müssen wir die richtigen Fragen zu den Gesellschaften stellen in denen wir leben und die drängendste Frage ist keinesfalls „EU ja oder nein?“. Denn weder heisst die Absage an die EU die Zustimmung zur rechten Rassistenmeute, noch bedeutet die Ablehnung eines Brexits die Unterstützung von David Cameron. Die EU mag Organisatorin von unsäglichem Leid und Werkzeug in den Händen der Besitzenden sein, doch ohne sie wären nicht automatisch Entfremdung, Ausbeutung und ertrinkende Menschen im Mittelmeer Geschichte. Die Wahl zwischen zwei Übeln bietet keine Perspektive, der die nach Antworten suchenden Massen, die vom Status Quo angewidert sind, folgen könnten – die Wahl zwischen Kapitalismus und Sozialismus hingegen schon.

Florian Sieber
Juso Thurgau