Die Revolution gehört nicht ins Geschichtsmuseum: Wir stehen am Beginn einer Periode von Revolution und Konterrevolution. Im Sudan tobt dieses Kräftemessen seit zweieinhalb Jahren. Weshalb ist ein Mittelweg – eine halbe Revolution – keine Option?

Seit Jahrzehnten schon war der Sudan von wirtschaftlichen Problemen und einer Militärdiktatur unter Omar al-Bashir geprägt. Letztlich brachte eine plötzliche Preiserhöhung von Konsumgütern das Fass zum Überlaufen: Revolutionäre Massenproteste brachen Ende 2018 aus und forderten das Ende des Regimes, Generalstreiks legten das Land still. Die Regierung antwortete mit nackter Gewalt und Repression, doch provozierte dies nur weitere Proteste und die Bildung von Selbstverteidigungskomitees. Je stärker das Militär gegen die Bevölkerung aufgeboten wurde, desto stärker drohte es an den Klassenlinien zu zerbersten: Mehrmals lieferten Soldaten sich Feuergefechte mit der Geheimpolizei NISS und den erzreaktionären Paramilitärs der RSF, die vom Regime zur Repression der Proteste eingespannt wurden. Fünf Regierungssoldaten starben dabei. Teile des Militärs waren also dazu bereit, zur Verteidigung der Massen zu meutern und ihr Leben zu lassen. So stand das Regime mit dem Rücken zur Wand: Faktisch lag die Macht auf der Strasse.

Verrat

Vor diesem Hintergrund sah sich das Regime neben der blutigen Repression auch zu Zugeständnissen gezwungen, um Ruhe ins Haus zu bringen: Die herrschenden Generäle opferten im April 2019 Omar al-Bashir – in der Absicht, so ihr Regime als Ganzes retten zu können. Vordergründig sagten sie im Sommer einer teils zivilen «Übergangsregierung» zu, die nach einigen Jahren einer ganz zivilen Regierung weichen sollte.

Die Organisationen an der Spitze der Massenbewegung, darunter vor allem der illegale Gewerkschaftsbund Sudanese Professionals Association (SPA), willigten in diesen falschen Kompromiss ein – ein Fehler, wie die darauffolgenden Entwicklungen bewiesen und vor dem wir, die IMT, bereits damals eindringlich warnten. Potenzial für den endgültigen Sturz des Regimes war auf den Strassen und Betrieben massenhaft vorhanden gewesen. Doch die liberale Führung der Bewegung war zu dieser Aufgabe nicht bereit oder erkannte ihre Notwendigkeit nicht. Nach diesem Verrat akzeptierten die Massen fürs Erste die trügerische Waffenruhe und verliessen die politische Bühne.

Reserven der Revolution

Auf Dauer können sich Revolution und Konterrevolution keine Regierung teilen. Die Sache muss zugunsten einer Seite entschieden werden. In den zugespitztesten Momenten des Klassenkampfs entpuppt sich der «Realismus» des Klassenkompromisses als die grösste Utopie.

Kaum hatte sich der Staub gelegt, stürzte das Militär Ende Oktober 2021 die Übergangsregierung, um ihre Alleinherrschaft wiederherzustellen. Dessen Rechnung ging aber nicht auf: Sofort strömten die Massen wieder auf die Strassen. Die Peitsche der Konterrevolution trieb ein weiteres Mal die Revolution vorwärts. Ein Pilotenstreik legte die Sudan Airways und weitere, regionale Anbieter lahm. Angestellte des nationalen Ölbetriebs Sudapet schlossen sich an, gefolgt vom gesamten Ölsektor, was wiederum die Eisenbahner von Atbara inspirierte. Über 20 Gewerkschaften und Berufsverbände traten schliesslich in den Streik, zumeist auf Druck und Initiative der Basis. Das Regime hatte die Reserven der Revolution klar unterschätzt: Keines der Probleme der Massen war gelöst und die Demoralisierung nach der Niederlage von 2019 nur oberflächlich.

Die Geschichte wiederholt sich…

Die Geschichte scheint sich zu wiederholen: Trotz wiederum brutalster Repression rief die SPA erneut versöhnlerisch zu «friedlichem zivilem Ungehorsam» auf und sabotierte so letztlich die gesamte Revolution: Sie liefert die Massen ihren Schlächtern aus. Demgegenüber beweisen die Industrie- und LandarbeiterInnen und weitere Schichten wieder höchste Kampfkraft: Den Versuchen der Militärs, Krankenhäuser in Khartum zu überfallen, um verletzte AktivistInnen zu entführen, setzten DemonstrantInnen Barrikaden und erbitterten Widerstand entgegen, wobei das Krankenhauspersonal teilweise kräftig mitwirkte. Auch die Selbstverteidigungskomitees von 2019 erhoben sich aus dem Untergrund und formierten sich aufs Neue.

Innerhalb nur eines Monats war das Regime derart aufgeweicht, dass es Ende November 2021 wagte, genau die gleiche Finte nochmals anzuwenden: Es setzte den soeben geputschten Premier Hamdok wieder ein, versprach eine «technokratische Übergangsregierung» und eine Zivilregierung bis 2023. Einige hohe Offiziere wurden geopfert – wieder: um das Regime als Ganzes zu retten. Die meisten behielten ein Plätzchen im neuen Regime.

… nicht!

Die Geschichte wiederholt sich aber eben nicht: Die Massen bewiesen, dass sie von 2019 gelernt haben. Die Finte ging nicht auf. Neue Massenproteste brachen aus, die noch grösser waren als diejenigen davor. Ein Demonstrant berichtete: «Ich werde immer wieder auf die Strasse gehen, das Militär kann nicht garantieren, sich an den Deal zu halten. Die betrügen immer». Jetzt richteten die Proteste sich nicht mehr nur gegen das Regime, sondern brandmarkten auch Hamdok und seine liberale Entourage als Kollaborateure und Verräter der Revolution. Die Massen skandierten: «Wer an Hamdok glaubte: Hamdok ist tot. Wer an die Strassen glaubte: Die Strassen singen und werden niemals sterben». Sie haben also richtigerweise Hamdok als einen weiteren Vertreter des Regimes und des Kapitalismus entlarvt.

Die Massen lernen schneller im Kampf. Doch können sie spontan nicht alles lernen. Notwendig ist der Marxismus, der die Lehren aus der gesamten Geschichte des Klassenkampfes bewusst zieht und so den Lernprozess der Massen verkürzen kann. Sonst droht dasselbe wie 2019: Das riesige Potenzial versandet, weil die Lehre des einzigen konsequenten Auswegs nicht gezogen wird – die vollständige Entmachtung der Unterdrücker und eine von den ArbeiterInnen selbst geführte Gesellschaft.

Der Weg nach vorn

Die Zukunft des Sudan liegt nicht in einem Gleichgewicht der Interessen, in dem alle in einem nett-demokratischen Staat unterkommen. Es ist eine Frage von Sieg oder Niederlage zweier gegensätzlicher sozialer Kräfte. Entweder siegt das reaktionäre Militär mit seinen tausenden Fäden zu Grossbesitz und Kapital – und produziert weiter Elend und diktatorische Unterdrückung. Oder es siegen die sudanesischen Massen, an ihrer Spitze die Arbeiterklasse. Mit Schlächtern und Profiteuren kann keine Koalition eingegangen werden. Die Massen müssen bedingungslos auf ihre eigenen Kräfte und Interessen setzen – ihre eigene Regierung bilden und mit dem Kapitalismus brechen.

Mit Illusionen in Pazifismus und in «friedliches Verhandeln» mit den Schlächtern muss gebrochen werden. Stattdessen ist die bewaffnete Selbstverteidigung der Massen die unmittelbare Aufgabe. Dazu müssen sich die Selbstverteidigungskomitees national vernetzen, wie auch die Streik-, Nachbarschafts- und Dorfkomitees, wo sie bestehen.

Diese müssen darüber hinaus das öffentliche Leben selbst in die Hand nehmen, ihre VertreterInnen bestimmen und unabhängige Wahlen organisieren. Gegen Armut und Korruption müssen sie grosse Landeigentümer, nationale und internationale Kapitalisten sowie ihre Lakaien im Militär enteignen und die Produktion selbst verwalten und überwachen.

Auf der Grundlage dieses sozialistischen Programms, das wirklich den Weg zum Sturz der Militärdiktatur aufzeigt, können die bröckelnden Unterschichten des Militärs gewonnen werden.

Es fehlt eine marxistische Führung

Dieses Programm ist notwendig, weil es den einzigen, konsequenten Bruch mit dem alten Regime und somit die einzige Lösung darstellt. Einen Mittelweg gibt es nicht. Und das ist keine Utopie: Die Massen haben in den letzten Jahren tausendfach bewiesen, dass sie kämpfen und das Regime absetzen wollen. Der fehlende Faktor ist die revolutionäre Führung, die den Weg nach vorn aufzeigt und verankert. Um mit Trotzki zu sprechen: «Die historische Krise der Menschheit ist zurückzuführen auf die Krise der revolutionären Führung». Unsere dringendste Lehre aus den Entwicklungen im Sudan ist: Diese Führung muss schon bereit sein, wenn die Massen die Revolution auf die Tagesordnung setzen. Sie muss vorher schon aufgebaut werden und sich in den fortgeschrittensten Teilen der Arbeiterklasse und Jugend verankern. Nur das garantiert den Erfolg der Revolution.

Patrick Côté
JUSO Stadt Zürich

Funke Ausgabe Nr. 106

Titelbild Quelle: Creative Commons