Vor fünf Jahren, am 20.Oktober 2011, wurde Muammar Gaddafi gefangen genommen und von Milizen des Nationalen Übergangsrates mit aktiver Unterstützung durch den französischen Geheimdienst erschossen. Was aber haben die Imperialisten erreicht?

Die revolutionären Ereignisse in Tunesien und Ägypten – der “Arabische Frühling” – hatte auch Auswirkungen auf Libyen. In Bengasi kam es zu einem Volksaufstand, der allerdings von der Armee brutal niedergeschlagen wurde. Die vom Gaddafi-Regime angewandte Gewalt gegenüber den Demonstranten führte zu einem Bürgerkrieg und die westlichen Imperialisten nutzten das vom Regime hinterlassene Vakuum und intervenierten.

Obwohl die westlichen Staaten gute Geschäfte mit Gaddafi gemacht hatten, vertrauten sie ihm wegen seines Verhaltens, das er über Jahrzehnte an den Tag gelegt hatte, nie vollkommen. Sie sahen den Bürgerkrieg als Chance, ihn von der Macht zu entfernen und griffen militärisch ein, um die Arabische Revolution, die in Tunesien und Ägypten aufgeflackert war, einzudämmen. Damit wurde auch Ländern wie Frankreich und Britannien die Möglichkeit gegeben, sich wieder auf der Weltbühne zu behaupten.

Bild: Carlos Latuff
Bild: Carlos Latuff

Für den westlichen Imperialismus war mit dem Tod Gaddafis die „Mission erfüllt“. Die wirkliche Lage stellt sich jedoch heute als das genaue Gegenteil dar. Libyen ist ein Land, das auseinandergerissen und geteilt ist, in dem keine nationale Regierung von sich behaupten kann, die wirkliche Kontrolle über das Land zu besitzen und in dem lokale Milizen (einschliesslich dem IS) die Macht über Leben und Tod der Bevölkerung, in den von ihnen kontrollierten Gebieten, haben.

Die Wirtschaft befindet sich in einer Notlage. Das Bruttoinlandsprodukt sank 2015 um 10,2%, nach einem Einsturz von 24% im Jahre 2014. 2015 fiel die Rohölproduktion auf dem niedrigsten Niveau seit den 1970ern auf ca. 0,4 Millionen Barrel täglich, was einem Viertel des vorhandenen Potenzials entspricht. (Quelle: www.worldbank.org). Trotzdem verteidigte der frühere NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen die Luftangriffe auf Libyen: „Es war eine sehr erfolgreiche Militärintervention.“ Das einzige Problem war, wie er es ausdrückte, „dass die UNO nicht politisch folgte“. In Anlehnung an Tacitus sagte er: „Sie schufen eine Wüste und nannten es Frieden … und darauf sind sie stolz“.

Diese Aussage von Anders Fogh Rasmussen zeigt den Zynismus der herrschenden Klasse. Sie interessiert sich nicht für die Not der normalen Menschen oder das Leiden von hunderttausenden Frauen und Kindern, die ihre Häuser verlassen und miterleben mussten, wie ihre Familien zerstört wurden. Für die Herrschenden ist es das wichtigste, dass sie ihre Überlegenheit und Macht über diese „barbarischen Diktaturen“ in den so genannten Ländern der Dritten Welt zurückgewinnen.

Wir verurteilten die imperialistische Intervention aufs schärfste und die aktuellen Entwicklungen bestätigen, dass wir Recht hatten. Obwohl wir die imperialistische Intervention in Libyen verurteilen, schliessen wir uns nicht dem Chor verschiedener Poststalinisten u. a. an, die glauben, dass Libyen unter Gaddafi „ein Land war, in dem Milch und Honig floss“.

Gaddafi ergriff 1969 die Macht. Er führte einen Putsch der Bewegung der Freien Unionistischen Offiziere an und war vom Panarabismus und Nassers Ägypten beeinflusst. Diese Bewegung hatte eine klare antiimperialistische Ausrichtung und als Gaddafi mit den Westmächten in Konflikt geriet, liess er das Eigentum der italienischen Staatsbürger beschlagnahmen und verstaatlichte das Vermögen von British Petroleum.

Obwohl Gaddafi auf der Suche nach einer Alternative zur imperialistischen Vorherrschaft war, ging er nie so weit wie das alte Assad-Regime in Syrien (wo die koloniale Revolution, wie in Ägypten und Libyen, von einer panarabischen Bewegung angeführt wurde) und der Kapitalismus wurde in Libyen nie wirklich abgeschafft. Gaddafi versuchte das Land durch die Intervention des Staates zu modernisieren. Durch die Nutzung der riesigen Ölreserven und Rohstoffe, die für einen deutlichen Anstieg des Lebensstandards sorgten, gelang es ihm in den 1970ern und 80ern eine grosse Unterstützung unter den Massen zu gewinnen. Der Privatbesitz wurde jedoch nie in Frage gestellt und die kapitalistischen (und feudalen) Strukturen blieben im Wesentlichen unangetastet.

Zur gleichen Zeit wurde die kommunistische Ideologie brutal unterdrückt und Streiks und Gewerkschaften verboten. Es gab keinerlei Kontrolle von unten, sondern nur die Alleinherrschaft von oben durch Gaddafi.

Er herrschte, indem er zwischen den verschiedenen Stämmen und feudalen Interessen, die noch im Land vorhanden waren, balancierte. Solange die Wirtschaft durch die strenge Kontrolle des Staates über die Ökonomie wuchs, schien das System zu funktionieren. Es ist wahr, dass Gaddafi das Land für einen Zeitraum vereinen konnte, aber er tat dies in Form einer bonapartistischen Herrschaft. Als sich die Wirtschaftslage allerdings verschlechterte, standen Unterdrückung und Terror durch das Regime auf der Tagesordnung. Napoleon sagte einst: „Du kannst nicht allein mit dem Schwert regieren“. Früher oder später wird das repressive Regime infrage gestellt.

Nach dem Zusammenbruch des Stalinismus begann Gaddafi mit der teilweisen Liberalisierung der Wirtschaft, in deren Folge die verschiedenen feudalen Interessen und die historische Teilung zwischen Kyrenaika und Tripolis erneut auftraten.

Auf der Suche nach ausländischen Investitionen und einem Markt für Libyens Rohstoffe entschärfte Gaddafi seinen Konflikt mit dem Westen und wurde aktiv in den „Krieg gegen den Terror“, z. B. gegen Saddam Hussein, miteinbezogen. Für die herrschenden Klassen in den USA und im Westen blieb er, trotz aller Bemühungen, ein unzuverlässiger Partner. Als dann 2011 das Regime anfing zu zerbrechen, ergriffen die Imperialisten die Chance es zu beseitigen.
Der Imperialismus nutzte den Nationalen Übergangsrat als sein Werkzeug, aber sobald Gaddafi gestürzt war, begannen die lokalen Milizen und die imperialistischen Mächte verschiedene Strategien zu verfolgen.

Genau wie Syrien, wurde Libyen zum Schlachtfeld zwischen den verschiedenen imperialistischen und regionalen Mächten. Der Konflikt offenbarte zuerst ein verändertes Kräfteverhältnis und zweitens die schwächelnde Macht der USA. Vor den Kriegen im Irak und in Afghanistan hätte Washington seinen Alliierten (die vom Weissen Haus mehr als Vasallen angesehen wurden) ganz leicht seinen Willen aufzwingen können. Ein Pax Americana wäre, natürlich immer auf Kosten der Lebensbedingungen der Massen, geschlossen worden.

Heute ist es so, dass die Vasallen nicht länger die Anordnungen ihres Meisters befolgen. Deswegen betrachtete Obama die westliche Intervention in Libyen als den grössten Fehler, den die US-Administration begangen hat. Nachdem sich die öffentliche Meinung in den USA gegen die weitere Stationierung von Bodentruppen im Ausland gerichtet hat, müssen sich die USA jetzt auf die europäischen Regierungen, besonders Britannien und Frankreich, verlassen. Der Westen zerstörte den alten Regierungsapparat in Libyen, was später zum Zerfall des Landes führte. Al-Qaida und seine Abspaltung IS existierten vorher nicht in Libyen. Der westliche Imperialismus gewann den Krieg, verlor aber den Frieden.

Was Obama nicht berücksichtigte, war die Tatsache, dass die verschiedenen europäischen Regierungen, aber auch die im Nahen Osten, alle ihre eigenen Pläne verfolgen. Jede nationale Bourgeoisie kämpft um Märkte und Einflusssphären und in Libyen spielen sie die Rivalitäten zwischen den Stämmen, die während der Regierungszeit Gaddafi zeitweise ausbalanciert war, gegeneinander aus. Libyen befindet sich mit seinen Küsten am Mittelmeer und seiner Nähe zu Europa im Zentrum von Nordafrika. Seine Ölreserven sind enorm, das Land besitzt 38% des Öls auf dem afrikanischen Kontinent und 11% des europäischen Verbrauchs.

Nach dem Sturz Gaddafis tauchten drei Hauptakteure im Land auf: Die Regierung von Tripolis, welche von Katar und der Türkei unterstützt wird; im westlichen Teil des Landes die Regierung von Tobruk, die von der so genannten „internationalen Gemeinschaft“ anerkannt und von Ägypten und den Arabischen Emiraten gefördert wird; sowie die IS-Kräfte, die Derta, Sirte und die umliegenden Regionen kontrollieren. Nach dem Zusammenbruch des alten Staates und der vereinten Armee entstanden verschiedene lokale Milizen, die entweder mit Tripolis oder Tobruk taktische Bündnisse eingingen.

Erschreckt, durch den wachsenden Einfluss des IS drängten die Imperialisten auf eine Regierung der nationalen Einheit gegen den „Terrorismus“. Schliesslich wurde eine „Lösung“ gefunden, zumindest wenn es nach der Propaganda der Mainstreammedien geht. Es wurde eine, wie üblich, von der UNO unterstützte Regierung der nationalen Übereinkunft (GNA) gebildet und deren Premierminister Fayez al-Sarraj und einige andere Minister kamen ordnungsgemäss am 30. März dieses Jahrs mit dem Schiff in Tripolis an.

Es stellte sich schnell heraus, dass viele der libyschen Milizen nicht über diese „nationale“ Übereinkunft informiert worden waren. Tatsächlich konnte al-Sarraj erst nach mehreren Stunden in den Hafen von Tripolis einfahren, nachdem er vor der Küste gewartet hatte und das nur mit freundlicher Genehmigung, nicht etwa der UN-Blauhemde, sondern der lokalen Milizen, welche die wirkliche Macht in Libyen haben.

Ursprünglich hatte der Führer der Regierung in Tripolis, Khalifa al-Ghwell, es al-Sarraj gestattet, das Amt zu übernehmen und sich nach Misrata zurückgezogen, während das Parlament in Tobruk, das zuvor von der internationalen Gemeinschaft unterstützt worden war, nie für die Regierung der nationalen Übereinkunft gestimmt hatte. Vier Minister aus dem Osten des Landes boykottierten die neue Regierung und nahmen niemals an einer Sitzung teil.

Al-Sarraj war vom ersten Tag an ein schwacher Premierminister. Seit Beginn seiner Amtsübernahme verschlechterten sich die Lebensbedingungen der Massen. „Tripolis hatte 20 Stunden am Tag Strom. jetzt sind es noch 12… Im April mussten die Menschen 3,5 Dinar für einen Dollar bezahlen, heute sind es fünf“ (Tripoli Post, 13.09.2016). Die Inflation steigt und die Infrastruktur steht vor dem Zusammenbruch. Es ist kein Wunder, dass die Regierung unter al-Sarraj isoliert ist. Ohne die Unterstützung durch den Westen würde sie sehr schnell zerfallen.
Seit August hat sich ein neues Kapitel im Bürgerkrieg geöffnet. Die USA verstärkten ihr Engagement mit der Bombardierung von Sirte. Aber anstatt die Situation durch die Angriffe zu stabilisieren, hat sich diese verschlechtert.

Im Rahmen der Operation „Odysee Lightning“ hat die US-Luftwaffe 330 Luftangriffe geführt, davon 150 nur in den ersten drei Wochen im Oktober. Täglich haben die westlichen Medien behauptet, Sirte stehe kurz vor dem Fall, aber al-Baghdadis Milizen leisten erbitterte Gegenwehr. Agence France Presse schrieb am 18. Oktober, dass „bei den Angriffen 550 Soldaten der GNA-Regierung getötet und 3000 verwundet worden sind“.

Wir haben oft darauf hingewiesen, dass man allein mit Luftangriffen keinen Krieg gewinnen oder auch nur eine Stadt erobern kann. Sirte war Gaddafis Heimatstadt und der Diktator baute es als neues Tripolis auf, mit Mauern und Türmen, um die Stadt vor einer Belagerung zu schützen. Um Sirte zu erobern, braucht es Bodentruppen. Es gibt in Libyen keine nationale Armee und keine westliche Macht ist bereit, Streitkräfte in ausreichender Anzahl nach Libyen zu schicken. Deshalb hat die von den USA angeführte Schlacht um Sirte al-Sarraj geschwächt, anstatt seine Position zu stärken. Und in der Zwischenzeit nutzen andere Akteure diese Schwäche aus.

General Khalifa Haftar, der starke Mann in Tobruk, hat die Kontrolle über die Öl-Terminals von Sidra und Ras Lanuf von der Petroleum Facilities Guard (PFG) übernommen, die von Ibrahim Jadhra geführt wird, einem regierungstreuen Warlord. Haftar wird von Ägypten aktiv unterstützt und er geniesst die Sympathie Frankreichs. Französische Truppen sind in der Region Kyrenaika stationiert, die zum grössten Teil von Tobruk kontrolliert wird.

In der jetzigen Situation ist es unwahrscheinlich ist, dass Haftar in der Lage ist die Ölproduktion wiederaufzunehmen und Öl zu verkaufen, trotzdem hat er eine mächtige Waffe in der Hand, wenn es zu zukünftigen Verhandlungen über die Verteilung der Macht in Libyen kommt, waren doch die beiden Raffinerien für die GNA-Regierung lebenswichtig.

In Tripolis, unternahmen Khalifa al-Ghwell und die Milizen einen Putschversuch und nahmen das Rixos Hotel ein, den Sitz der Staatsversammlung der GNA-Regierung. Die UNO verurteilte den Putsch und die Regierung befahl die Festnahme der Verschwörer, aber die Milizen halten das Hotel weiterhin besetzt. Einige Tage lang wusste niemand, wo sich al-Sarraj aufhielt. Schliesslich stellte sich heraus, dass er Befehle von einem „geheimen“ Ort in Tunesien aus erteilte. Die westlichen Mächte und ihre Stellvertreter positionieren sich neu und gehen wie selbstverständlich davon aus, dass al-Sarrajs Tage gezählt sind. Sie verstärken ihre Präsenz in der Region mit der üblichen Rechtfertigung, den IS-Terrorismus zu bekämpfen.

Frankreich ist bei diesem Szenario die aktivste Macht. Im letzten Juli gab die GNA-Regierung eine Protestnote heraus, in der sie „die französische Präsenz in den östlichen Regionen Libyens als Bruch internationaler Normen und der Souveränität betrachtete“ (Libya Herald, 29.07.2016). Frankreich ignorierte diese Protestnote und verstärkte seine Präsenz, ein Umstand der bei einem Flugzeugabsturz in Malta am vergangenen Montag an die Öffentlichkeit kam. Mindestens drei Passagiere waren Angehörige des französischen Geheimdienstes auf dem Weg nach Libyen.

Italien, die frühere Kolonialmacht, versucht nicht von der Aufteilung der Beute ausgeschlossen zu werden. Im September schickte es 300 Soldaten nach Libyen, natürlich in bester humanitärer Absicht. Die Italiener planen den Bau eines Militärkrankenhauses in Misrata und die offizielle Aufgabe der Soldaten wird es sein, „das Gelände zu schützen“. In Wirklichkeit werden sie ihre lokalen Stellvertreter in Misrata und bei der Belagerung von Sirte unterstützen. Nicht alle sind über die italienische Initiative glücklich. Die Zintan-Brigade (eine Miliz, die, als sie die Seiten wechselte, eine entscheidende Rolle beim Sturz von Gaddafi gespielt hat) erklärte, dass sie „nicht tatenlos zusehen und sich mit aller Macht jedem Angreifer in den Weg stellen wird“, und „alle Libyer aufruft, vereint zu bleiben und die neue Invasion Italiens in unserem Land zu bekämpfen“.

Die Lage in Libyen ist vergleichbar mit einem Hornissennest, das sie nicht zerstören können und je mehr die Imperialisten ihren Kopf hineinstecken, desto mehr werden sie gestochen.

Es ist anzunehmen, dass der Bürgerkrieg in Libyen einen langwierigen Charakter annehmen wird. Eine mögliche Perspektive ist die de facto Teilung des Landes. Das ist ein Verbrechen des Imperialismus, der sich bewusst einmischte, um Kriegsbeute zu machen und das Land auszuplündern, ohne Rücksicht auf das Schicksal der Menschen in Libyen zu nehmen.

Diese Perspektive könnte nur durch die Zunahme des Klassenkampfes in den Nachbarstaaten verändert werden. Es ist die Aufgabe des mächtigen ägyptischen Proletariats und der TunesierInnen ihre morschen Regierungen und das kapitalistische System zu stürzen. Ihr Sieg könnte zum Leuchtfeuer für die Unterdrückten in Libyen werden. Eine Revolution im Maghreb und im Maschrek wäre ein Fanal für die libyschen Massen, die diese als Vorbild nehmen könnten, um so die Stärke zu finden, um die Imperialisten zu vertreiben und sich gegen die halbfeudalen Warlords und Milizen zu erheben

Sozialismus oder Barbarei? – Dieser Slogan war auf tragische Weise noch nie so real wie heute in Libyen.

Übersetzung: Tony Kofoet original auf marxist.com