Wir veröffentlichen hier eine Übersetzung des Artikels „Marxism vs. Intersectionality“ unserer kanadischen Schwesterorganisation Fightback. Er behandelt die Entwicklung der Intersektionalitätstheorie, ihr Verhältnis zum Marxismus und inwiefern sie sich als Werkzeug zur Emanzipation eignet.

Die Krise des Kapitalismus hat zu weltweiten Massenbewegungen geführt und bewirkt, dass Menschen das System hinterfragen. Von den spanischen Indignados, über die Syntagmaplatz-Bewegung in Griechenland bis hin zu Nuit Debout kürzlich in Frankreich sieht man, wie die Jugend in Aktion tritt und das kapitalistische System herausfordert. Als Teil dieser allgemeinen Stimmung sah man in den letzten Jahren auch eine Reihe spontaner Bewegungen gegen die unterschiedlichen Unterdrückungsformen, die verschiedene Schichten der Arbeiterklasse im Kapitalismus erfahren müssen.

Inspirierende Bewegungen wie „Idle No More“, „Black Lives Matter“, die weltweiten Demonstrationen gegen Gewalt an Frauen am 8. März und Elemente der Anti-Trump Bewegung sind nur einige jüngere Beispiele für das wachsende Bedürfnis unter ArbeiterInnen und Jugendlichen, gegen Unterdrückung und Diskriminierung zu kämpfen. Eine vorherrschende Theorie unter der Führung vieler dieser Bewegungen – die often Teil der akademischen Linken sind oder von ihr beeinflusst sind – ist jene der „Intersektionalität“. Es ist daher nicht überraschend, dass eine Schicht junger Menschen und Studierenden, die in diesen Bewegungen politisiert werden, Unterdrückung aus dieser theoretischen Perspektive betrachten. Aber was bedeutet Intersektionalität, ist sie nützlich, um Unterdrückung zu bekämpfen, und ist dieses Konzept mit dem Marxismus kompatibel?

Intersektionalität bezeichnet üblicherweise die Existenz mehrer, sich überlappender Unterdrückungsformen, die sich – je nach der individuellen Lage, in der sich ein Individuum befindet – verbinden (eine „Intersektion“ bilden), verschiedene Konstellationen bilden, und so zu einzigartigen Erfahrungen und sozialen Hürden führen. Die „Notwendigkeit, intersektional zu sein“ ist eine Phrase, die in der Bewegung häufig benutzt wird. Sie impliziert, dass jeder Kampf Individuen, die sich überlappende Unterdrückungsformen erfahren, inkludieren und repräsentieren muss – im Gegensatz zu einem engen Fokus auf nur eine Gruppe oder Unterdrückungsform.

MarxistInnen stimmen zu, dass Individuen und Gruppen mehrere Formen der Unterdrückung gleichzeitig erfahren können, und dass jede dieser Kombinationen eine einzigartige Zusammensetzung sozialer Hürden mit sich bringt. Aus marxistischer Sicht kann keine Unterdrückungsform isoliert verstanden und überwunden werden, und der Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung muss alle Schichten der Unterdrückten miteinschließen. MarxistInnen stellen sich auch entschlossen gegen jede Form diskriminierender Einstellungen und Verhaltensweisen und argumentieren, dass diese nur dazu dienen, uns zu spalten, und so die Einheit der Arbeiterklasse verhindern, die notwendig ist, um uns zu befreien. Oberflächlich erscheint es also so, als ob Marxismus und Intersektionalität sich gegenseitig ergänzen. Wenn wir allerdings unter die Oberfläche auf die Theorie, die hinter der Intersektionalität steckt, sehen, erkennen wir, dass deren Verständnis von Unterdrückung, und wie man sie bekämpfen kann, sehr unterschiedlich zur marxistischen ist. Intersektionalität kann, trotz der besten Absichten vieler ihrer VertreterInnen, den Ursprung der verschiedenen Unterdrückungsformen nicht erklären und daher auch keine Lösungen bieten.

Es kann nicht genug betont werden, dass MarxistInnen gegen alle Formen der Unterdrückung kämpfen. Andere Ansätze zum Verständnis von Unterdrückung innerhalb einer Bewegung zu kritisieren ist nicht dasselbe wie die Realität der vielen Unterdrückungsformen zu leugnen; im Gegenteil, weil es unser Ziel ist, alle Unterdrückungsformen und Ausbeutung ein für alle Mal zu beenden, ist es unsere Pflicht, diejenigen Ideen und Methoden zu entwickeln, die ArbeiterInnen und Jugend brauchen, um Emanzipation zu erreichen. Differenzen zu verstecken hilft der Bewegung nicht weiter.

„Intersektionalität“ im Kontext

Um die Grenzen der Intersektionalität von einem marxistischen Standpunkt aus zu verstehen, müssen wir uns natürlich die Hauptstränge der Intersektionalität selbst und den historischen Kontext, in dem sie groß wurden, ansehen. Der Aufstieg der Intersektionalität fiel mit der Niederschlagung der revolutionären Wellen der 1960er und 1970er Jahre zusammen, denen eine Periode der Reaktion in den 1980er Jahren folgte, deren Gipfel der Zusammenbruch der Sowjetunion war. Während der darauffolgenden Ebbe im Klassenkampf gewann die Identitätspolitik an Beliebtheit. Identitätspolitik, die in einer sehr speziellen Periode entwickelt wurde, basiert darauf, Menschen aufgrund von persönlichen Charakteristika zu definieren (Ethnie, Geschlecht, usw.), anstatt anhand deren Klassenzugehörigkeit oder politischen Standpunkte.

Das wurde und wird von der herrschenden Klasse genutzt, um den Aufstieg karrieristischer, kleinbürgerlicher Elemente zu befördern, die sich leicht in das kapitalistische System integrieren lassen. Identitätspolitik wird von der Bürokratie der Arbeiterbewegung und von der herrschenden Klasse gegen die Linke und gegen klassenkämpferische Positionen innerhalb der Bewegung eingesetzt. Diese vermehrte Orientierung auf getrennte Identitätsbereiche und Unterdrückung war eine Folge des Versagens der sozialdemokratischen und stalinistischen Führung der Arbeiterbewegung, die Arbeiter zur Überwindung des Systems zu führen, was die soziale und ökonomische Basis für die vielen Unterdrückungsformen beseitigt hätte.

Insbesondere der Stalinismus spielte eine verräterische Rolle. Während der russischen Revolution 1917, die von den Bolschewiki unter Lenin und Trotzki angeführt wurde, wurden gewaltige Fortschritte für Frauen, homosexuelle Menschen und unterdrückte Nationalitäten erreicht. Doch mit der Degeneration der Sowjetunion unter Stalin wurden viele dieser Errungenschaften wieder abgeschafft. Die Isolation und Zurückgebliebenheit der Sowjetunion bedeutete, dass es weiterhin Mangelwirtschaft gab, und die StalinistInnen nützten die alten Spaltungsmechanismen und Unterdrückungsformen aus, um an der Macht zu bleiben und die internationale proletarische Revolution zu bremsen. Stalinistische Maßnahmen, wie die Rekriminalisierung von Homosexualität in der Sowjetunion, spiegelten sich in der diskriminierenden Praxis der stalinistischen Kommunistischen Parteien auf der ganzen Welt wider und stießen verständlicherweise viele ArbeiterInnen und Jugendliche, die selbst unter der Last der Unterdrückung litten, vom sozialistischen Kampf ab. Eine solche Politik hat nichts mit dem genuinen Marxismus gemein und beförderte die Zersplitterung der Bewegung in getrennte Sphären des Kampfes, während der genuine Marxismus gegen alle Formen der Unterdrückung steht und zur Einheit der Klasse aufruft.

Intersektionalität, eine Abzweigung des Feminismus, war ursprünglich eine Reaktion gegen traditionelle Identitätspolitik, die dazu tendierte, die Bewegung in separate Kämpfe abzutrennen. Insbesondere schwarze Frauen hatten seit Jahrzehnten hervorgehoben, dass die Frauenbewegung in erster Linie von weißen Oberschichtsfrauen dominiert wurde, welche die Realität und Bedürfnisse ignorierten, und dass die Antirassismus-Bewegung von schwarzen Männern dominiert wurde, die die Unterdrückung von Frauen oft trivialisierten – eine nicht unwichtige Kritik. Allerdings stützt sich die ideologische Grundlage der Intersektionalität auf postmarxistischen Theorien wie den Postmodernismus und den Poststrukturalismus, Theorien, die in akademischen Zirkeln eben in einer Zeit der kapitalistischen Reaktion und des Zusammenbruchs des Stalinismus an Popularität gewannen, als die Führung der Arbeiterbewegung jeglichen Schein vom Kampf für Sozialismus aufgab und stattdessen für einen „menschlicheren“ Kapitalismus argumentierte.

Während in der vorangegangenen Periode die Betonung von sozialer und wirtschaftlicher Transformation betont wurde, wurden nun in der Periode des abebbenden Klassenkampfes die lichten Höhen der Ideen, der Gedanken und der Sprache das Ziel der Analyse und der Veränderung. Jegliches Vertrauen in die Arbeiterklasse und ihre Fähigkeit, die ökonomische und wirtschaftliche Grundlage der Gesellschaft zu verändern, ist verloren gegangen und die akademische Linke beschränkte sich auf die Gedankenwelt von Individuen. Aus diesem ideologischen Trend hervorgehend betont die Intersektionalität die subjektiven Erfahrungen und individuellen Gedanken, die Sprache und das Verhalten als jenen Betrachtungswinkel, aus dem man Unterdrückung verstehen und überwinden kann.

Das ist ein hochidealistischer Ansatz, der auf der Annahme fußt, dass man, um die Gesellschaft zu verändern, zunächst die Einstellungen der Menschen verändern muss – oder noch schlimmer, dass man mit dem „Diskurs“ auch die Realität verändern kann. Die Wahrheit ist, dass die herrschende Ideologie in einer Klassengesellschaft die der herrschenden Klasse ist. Die Ideologie der Menschen, die Revolutionen durchführen, die unterdrückten und ausgebeuteten Massen, ist mit allen möglichen reaktionären Ideen und Vorurteilen der herrschenden Klasse gespickt. Im Zuge des Kampfes um die Veränderung der Gesellschaft transformieren sich Menschen (zu großer Zahl) und verändern (zu einem großen Teil) deren Ansichten. Das wird sehr gut in der „Deutschen Ideologie“ von Karl Marx erklärt, dass:

„[…] sowohl zur massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewußtseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; daß also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden.“

Der Begriff “Intersektionalität” wurde 1989 von der afroamerikanischen Akademikerin Kimberlé Crenshaw geprägt, genauer, um zu beschreiben, wie die US-Gerichte versagten, die mehrschichtige Diskriminierung, die schwarzen Frauen am Arbeitsplatz widerfährt, zu berücksichtigen. In ihrem Artikel “Entmarginalisierung der Intersektion von Rasse und Geschlecht: Eine schwarze feministische Kritik“[1] zitiert Crenshaw mehrere Gerichtsfälle, in denen der Richter nur entweder Klagen von sexueller Diskriminierung ODER rassistischer Diskriminierung am Arbeitsplatz berücksichtigte und sich weigerte anzuerkennen, dass schwarze Frauen eine mehrschichtige Diskriminierung erfahren, nicht nur als Frauen oder als schwarze Individuen, sondern als schwarze Frauen. Beispielsweise verwarf das Gericht im Falle von DeGraffenreid vs. General Motors die Beschwerde der Klägerin über sexuelle und rassistische Diskriminierung, da General Motors zuvor weiße Frauen und schwarze Männer angestellt hatte.

Es gibt kein Argument gegen die Realität, dass schwarze Frauen und andere mehrfach unterdrückte Gruppen durch das Netz des kapitalistischen Rechtssystems fallen. Es gibt strukturelle Lücken, die eine reale und signifikante Hürde für unterdrückte Schichten der Arbeiterklasse darstellen, genuine Gleichstellung vor dem Gesetz zu erreichen. MarxistInnen unterstützen Reformen des Rechtssystems, die den Kampf um Rechte und eine bessere Lebenssituation von ArbeiterInnen und unterdrückten Schichten dieser Klasse erleichtern. Aber wir müssen auch erklären, dass Rassismus und Sexismus in der Klassengesellschaft und den Bedürfnissen des Kapitalismus verankert sind, zu dessen Verteidigung das Rechtssystem in letzter Instanz existiert.

Die Klassennatur des bürgerlichen Rechts kann nicht aus den Gerichtssälen „rausreformiert“ werden, solange es auf kapitalistischer Basis steht. Während Crenshaws Forderung darin bestand, schwarze Frauen zu einer geschützten Minderheit innerhalb des Rechtssystems zu machen, müssen wir betonen, dass das nichts an den materiellen und sozialen Bedingungen ändern würde, welche die mehrschichtige Diskriminierung, die schwarze Frauen in der breiten Gesellschaft und am Arbeitsplatz erleben, und die Crenshaw so treffend beschrieben hat, hervorrufen. Zwar haben die Arbeiten von einigen Intersektionalitäts-Feministinnen wertvolle Beobachtungen geliefert, wie mehrschichtige Diskriminierung von denjenigen erlebt wird, die unter mehreren Unterdrückungsmechanismen leiden, und über die Hürden, die ihnen in den Weg gelegt werden, doch als MarxistInnen erklären wir die Notwendigkeit, über reine Beobachtung hinauszugehen. Eine unendliche Zahl an Kategorien könnte innerhalb des Rechtssystems erschaffen werden, um alle möglichen Intersektionen von Unterdrückung widerzuspiegeln, doch als MarxistInnen müssen wir die Frage stellen: Warum existiert diese Unterdrückung überhaupt, und wie kann sie letztlich abgeschafft werden?

Gedanken und soziale Realität

In einem TED Talk mit dem Titel „Die Dringlichkeit der Intersektionalität“ [The Urgency of Intersectionality] 2016 bezeichnete Crenshaw das Versagen des Rechtssystems, die doppelte Diskriminierung von schwarzen Frauen am Arbeitsplatz als „Definitionsproblem“ (framing problem). Ihre Argumentation ist, wenn RichterInnen und PolitikerInnen einen besseren Definitionsrahmen hätten, um Unterdrückung und die Natur von mehrfacher Diskriminierung zu verstehen, würden Individuen oder Gruppen, die sich überschneidende Unterdrückung erfahren, nicht durch den Rost fallen. Diskriminierende Einstellungen von RichterInnen, die deren Entscheide beeinflussen, haben natürlich einen Einfluss auf die Leben unterdrückter Gruppen und erhalten ihre Marginalisierung aufrecht. Während schwarze Männer und Frauen Polizeigewalt und Morden ausgesetzt sind, während mordende Polizisten straffrei entkommen, haben RichterInnen in den USA und Kanada wiederholt weiße, männliche Sexualtäter auf freiem Fuß laufen lassen. Es ist offensichtlich, dass Richter frei nach ihren ekelhaften, diskriminierenden Einstellungen entscheiden dürfen, und dass dies dazu beiträgt, Unterdrückung in der Gesellschaft aufrecht zu erhalten und unterdrückte Gruppen unterdrückt lässt. Aber woher stammen dise Einstellungen, und wie können wir die Gesellschaft von ihnen befreien?

Die schädlichen diskriminierenden Einstellungen der RichterInnen und PolitikerInnen spiegelt die Bedürfnisse des kapitalistischen Systems wider. Der kapitalistische Staat und sein Rechtssystem existiert, um die Herrschaft des Profits der Kapitalistenklasse aufrecht zu erhalten. In diesem System, in dem Rechtsvollzieher ungewählt sind, Wahlversprechen gebrochen werden, sobald PolitikerInnen ohne Recht auf Absetzung an die Macht gelangen und viele der wichtigsten Entscheidungen hinter verschlossenen Türen von ungewählten Positionen getroffen werden (z.B. Banker und Manager), gibt es keine genuine Demokratie oder Rechenschaftspflicht. Ähnlich sieht es am Arbeitsplatz aus, wo es schwierig ist, Bosse für diskriminierende Praktiken verantwortlich zu machen, weil sie unseren Lebensunterhalt kontrollieren und es keine demokratische Kontrolle in der kapitalistischen Produktion gibt. Während für Diskriminierungsfälle vor Gericht hart gekämpft wurde und auch manche gewonnen wurden, bedeuten sie oft Jahre vorm Gericht, astronomische Kosten und viele andere Barrieren, die dies zu einem unmöglichen Weg für viele unterdrückte ArbeiterInnen macht, insbesondere wenn man bedenkt, dass sich der/die ArbeitgeberIn immer ein besseres Anwaltsteam leisten kann und das Rechtssystem bereits zu ihrem Vorteil gestaltet ist. Wenn Bosse Strafen erhalten, sind sie oft nur Kleingeld für sie, während das Leben des/der KlägerIn durch den Schmutz gezogen wurde. Diskriminierende Einstellungen können also sichtlich eine schädliche Rolle in der Aufrechterhaltung der Unterdrückung spielen, aber es sind die soziale und ökonomische Grundlage der Institutionen, die die wahre Hürde zur Beseitigung von Unterdrückung darstellen. Anders gesagt, die kapitalistische Natur dieser Institutionen sind die Wurzel des Übels, nicht die Einstellungen derjenigen, die Posten darin halten.

Für MarxistInnen ist es daher nicht ein grundlegendes Problem des „Definitionsrahmens“, oder wie Menschen über Unterdrückung denken. Die Ansicht, dass Gedanken und Sprache die Hauptkräfte sind, die soziale Realitäten formen, stammt aus dem philosophischen Idealismus, wohingegen MarxistInnen die Geschichte von einem materialistischen Standpunkt aus betrachten und argumentieren, dass es die soziale Realität ist, die die Gedanken erschafft. Wir sind nicht mit fix-und-fertigen Weltanschauungen geboren, noch fallen die, die wir über die Zeit entwickeln, einfach vom Himmel. Was wir lernen und beginnen, über die Welt zu glauben, ist von den materiellen und sozialen Bedingungen der historischen Epoche, in der wir leben, und der Produktionsweise, die die Basis für die Organisation der Gesellschaft ist, beeinflusst. Das bedeutet nicht, dass jeder einzelne Gedanken oder jedes Kulturelement eine direkte Folge der ökonomischen Basis der Gesellschaft ist, aber dass die ökonomische Basis die generelle Grundlage für die herrschenden Ansichten in einer gegebenen Epoche legt und unserem Denken gewisse Grenzen auflegt.

Natürlich sind es nicht nur Personen in mächtigen Positionen, die diskriminierende Ideen in ihrem eigenen, beschränkten Interesse hegen und pflegen. ArbeiterInnen und arme Leute werden ebenfalls mit diesen Einstellungen sozialisiert. Die herrschenden Ideen einer Gesellschaft sind stets die Ideen der herrschenden Klasse, die im Kapitalismus die Bourgeoisie ist. Die Kapitalistenklasse stützt sich auf diskriminierende Einstellungen, um die Arbeiterklasse auf Basis von Rasse, Ethnie, Sprache, Geschlecht und Gender, Religion und vielen anderen Faktoren untereinander zu trennen. Diese Spaltungen haben mehrere Funktionen, zum Beispiel schaffen sie eine Abwärtsspirale von Löhnen und ein Wettrennen nach unten zwischen konkurrierenden ArbeiterInnen und Nationen, und halten so die Mehrheit der Ausgebeuteten und Unterdrückten davon ab, sich gegen ihren gemeinsamen Feind zu vereinen: die Bourgeoisie. Die Bourgeoisie besitzt und kontrolliert die wichtigsten Mittel, um Ideen zu verbreiten, wie große Medienverbände und Kulturproduktion. Die Ideen der herrschenden Klasse werden durch die Kirche, das Bildungssystem und die Familie reproduziert. Der Inhalt unserer Gedanken wird von diesen Institutionen geformt, die das kapitalistische System widerspiegeln.

Der Kapitalismus zwingt die Arbeiterklasse in einen unmenschlichen und rücksichtslosen Wettbewerb untereinander, der unsere Beziehungen zu uns selbst und den Menschen um uns verzerrt. Menschen werden nicht an sich gierig oder diskriminierend geboren, sondern werden in einer individualistischen Gesellschaft erzogen, die uns gegeneinander ausspielt und uns mit mächtigen, spaltenden Botschaften speist, um uns davon abzuhalten, uns zusammenzutun. Allein unsere Gedanken zu hinterfragen, ohne die materiellen und sozialen Bedingungen zu verändern, die diskriminierende Ansichten erst erschaffen, ist daher ein begrenzter Ansatz, um Unterdrückung zu bekämpfen. Der Fokus auf Gedanken und Ideen, getrennt von ihrer sozialen und materiellen Ursache, resultiert ausweglos in einem individualistischen, subjektiven Verständnis von Unterdrückung, das von den strukturellen, ökonomischen Grundlagen abweicht und die Zersplitterung der Bewegung riskiert.

In letzter Instanz ist die materielle Basis für jegliche soziale Ungleichheit der Mangel. Eine Gesellschaft, die ihren Mitgliedern gute Arbeit, ein Zuhause und Bildungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen kann, braucht nicht den „anderen“ die Schuld an Wohnungsmangel, fehlender Bildung oder Arbeitslosigkeit zu geben. Umgekehrt, eine Gesellschaft in der Krise wird eine Zunahme solcher Diskriminierung mit sich bringen. Marx drückte dies gut aus, als er sagte, dass wenn sich „der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder [beginnt]“ sich nur „die ganze alte Scheiße […] wieder herstellen müsste“ (Marx, die Deutsche Ideologie). Diskriminierende Einstellungen können nicht gänzlich ausgerottet werden, solang es noch Mangel gibt. Im Kapitalismus ist der Mangel rein künstlich, da wir bereits solche fortgeschrittenen Produktionsmittel besitzen, dass wir mehr als genug Reichtum und Ressourcen für einen guten Lebensstandard für alle haben. Das Problem in diesem System ist, dass die Mehrheit des Reichtums von einer winzigen Minderheit angeeignet wird, während sich der Rest von uns um die Krumen streiten muss. Das ist der Grund, weswegen MarxistInnen für die Enteignung der Kapitalistenklasse aufrufen, damit wir diesen ganzen Reichtum im Interesse der Mehrheit einsetzen können, und alle materiellen Wurzeln von Ungleichheit und Unterdrückung beseitigen können.

Die Wurzeln der Unterdrückung: subjektiv oder objektiv?

In feministischen Schriften zu Intersektionalität wird oft auf „strukturelle“ Unterdrückung verwiesen, aber von einem idealistischen, nicht von einem materialistischen, marxistischen Standpunkt aus. Beispielsweise erklärt Bell Hooks bezüglich der vielen verschiedenen sich überschneidenden Formen der Unterdrückung: „Für mich ist es wie ein Haus, sie teilen dasselbe Fundament – aber dieses Fundament sind die ideologischen Vorstellungen, um die herum die Begriffe der Herrschaft gebaut sind.“ Auf derselben Argumentationslinie meint Patricia Hill Collins: „Ermächtigung bedeutet Dimensionen von Wissen abzulehnen – ob persönliches, kulturelles oder institutionelles – das die Objektifizierung und Entmenschlichung weiterhin bestehen lässt.“ Folglich seien die Wurzeln der Unterdrückung in dem Glaubenssystem einer Gesellschaft über die Überlegenheit und Minderwertigkeit unterschiedlicher Gruppen zu suchen. Das Ende der Unterdrückung bedeutet demnach, diese Ansichten abzulehnen. Die größte Einschränkung dieses Ansatzes ist aber, dass er nicht erklärt, warum und wie solche Ansichten zu entstehen begannen; er kann daher auch keinen Weg anbieten, diese Ansichten auf einer Massenbasis zu beseitigen.

Indem die Art und Weise, wie wir Realität auffassen zum primären Ziel der Veränderung erklärt wird, impliziert man dabei, dass Unterdrückung hauptsächlich auf individueller und zwischenmenschlicher Ebene stattfindet. Von diesem Standpunkt aus ist jede Person, die keine gegebene Form von Unterdrückung erfährt, an der Aufrechterhaltung dieser mitschuldig und profitiert davon. Nachdem es unendlich viele sich überschneidende Formen der Unterdrückung und dominanter Eigenschaften gibt, setzt die Theorie der Intersektionalität voraus, dass wir alle in einem unendlichen Netz leben, in dem wir uns gegenseitig unterdrücken und gleichzeitig unterdrückt werden. Anstelle der herrschenden kapitalistischen Klasse wird die Arbeiterklasse der Feind.

Es ist offensichtlich, dass diskriminierende und unterdrückerische Einstellungen und Verhaltensweisen von Individuen auf zwischenmenschlicher Basis ausgelebt werden (was von RevolutionärInnen verurteilt und bekämpft werden muss), doch diese Einstellungen haben soziale und historische Ursprünge und sind in den Strukturen der Klassengesellschaft verankert. Ähnlich hat sich das, was als dominante Eigenschaft bezeichnet und von der Gesellschaft systematisch bevorzugt wird, historisch entwickelt. Die Vormachtstellung der Weißen und der Rassismus, die grundsätzlich soziale und strukturelle Phänomenen sind, wurden von den herrschenden Klassen der kolonialen europäischen Nationen entwickelt, um die kolonialen Eroberungen und die Sklaverei zu rechtfertigen. Hierauf wurde die Entwicklung des Kapitalismus gebaut (mehr zu den Ursprüngen des Rassismus hier). Die Unterdrückung von Frauen hat nicht immer existiert, sondern ist mit der Aufteilung der Gesellschaft in Klassen aufgetaucht; und gleichzeitig mit ihr die Einrichtung „Ehe“ als eine Institution zur Kontrolle der weiblichen Sexualität, um die Vaterschaft zum Zweck der Weitergabe des Eigentums abzusichern. Rassistische und sexistische Einstellungen spiegeln diese materiellen und sozialen Prozesse wieder.

Während Individuen sicherlich diskriminierende Haltungen haben und auf sehr schädliche Weise danach handeln können, ist es letztlich allein die herrschende, ausbeutende Klasse, die von diesen Haltungen und Taten profitiert. Das Konzept des „Privilegs“ wird jedoch häufig von BefürworterInnen der Intersektionalitätstheorie verteidigt, um zu unterstellen, dass jene Menschen, die keine Opfer einer bestimmten Form von Unterdrückung sind, ein Interesse daran hätten, sie an anderen aufrechtzuerhalten, oder sogar aktiv dazu beitragen, um unverdiente Vorteile daraus zu ziehen. MarxistInnen stimmen darin überein, dass Menschen, die in mehreren und in sich überschneidenden Formen unterdrückt werden, größere soziale Hindernisse und die zusammenfallenden Formen der Diskriminierung erleben müssen. Unserer Ansicht nach sollten aber die (oftmals als solche beschriebenen) „Privilegien“ als Menschenrechte betrachtet werden, die jeder Person zu gleichen Teilen gewährt werden sollten. Wir müssen dieses System beseitigen, das die Arbeiterklasse in verschiedene Schichten aufteilt und die unterdrückten Schichten ihrer Rechte beraubt; dieses System, das uns spaltet und unter dem Tisch der Banker und Bosse um die Krümel streiten lässt. Wir sagen: „Tretet nicht nach unten und erschafft eine Gleichheit der Armut. Gleicht stattdessen nach oben aus, und nehmt, was wir von der ausbeutenden und unterdrückenden Klasse brauchen!“

Die Unterdrückung einer Gruppe dient dazu, das kapitalistische System zu stützen, das alle von uns auf unterschiedlichen Wegen ausbeutet und unterdrückt. Kein Arbeiter und keine Arbeiterin hat ein Interesse daran, die Dominanz und Unterdrückung über eine andere Gruppe fortzuführen. An der Oberfläche sieht es so aus, als ob einige ArbeiterInnen auf die Kosten anderer Vorteile bekommen und dadurch von deren Unterdrückung profitieren. Es ist beispielsweise überall bekannt, dass Männer auf der ganzen Welt mehr Lohn für dieselbe Arbeit bekommen als Frauen. Es ist jedoch nicht so, dass Männer mehr bezahlt bekommen, weil Frauen weniger erhalten oder umgekehrt. Es ist mehr als genug Reichtum da, damit alle Menschen eine massive Lohnerhöhung erhalten könnten, aber die Mehrheit des von der Arbeiterklasse geschaffenen Reichtums wird von der Minderheit der herrschenden Klasse abgeschöpft. Die kapitalistische Klasse profitiert davon,  sowohl Frauen als auch migrantische, ethnische und sexuelle Minderheiten schlechter zu bezahlen oder zu diskriminieren, weil dies, wie bereits erklärt wurde, alle Löhne nach unten drückt und manche Schichten der Arbeiterklasse dazu zwingt, „flexibler“ zu arbeiten und für prekäre Halbzeitjobs zur Verfügung zu stehen.

MarxistInnen arbeiten aktiv daran, die Arbeiterklasse darin zu schulen, dass es nicht in ihrem Interesse steht, sich gegenseitig zu diskriminieren und zu unterdrücken. Individuen werden meist durch die konkrete Erfahrung des Kampfs transformiert, und ihre Ideen verändern sich dabei mit. Die sogenannten „privilegierten“ ArbeiterInnen, die diskriminierende Haltungen aufrechterhalten, tragen tatsächlich dazu bei, ihren eigenen Lohn zu drücken, denn es ist der Wettbewerb um die niedrigen Löhne der unterdrücktesten ArbeiterInnen, der die Profite der Bosse und des kapitalistischen Systems, das uns alle ausbeutet und unterdrückt, sicherstellt. ArbeiterInnen, die nicht mehrere Formen der Unterdrückung erfahren, haben durch das Aufrechterhalten der Unterdrückung anderer weit mehr zu verlieren, da es nur ihre eigene Ausbeutung aufrechterhält. Die Arbeiterklasse hat die Welt zu gewinnen durch die Vereinigung im Kampf für den Sozialismus, der es erlauben würde, den Lebensstandard für Alle massiv zu erhöhen. An die Stelle der Klassensolidarität stellt die Intersektionalitätstheorie das Konzept der „Bündnisse“, mit der Behauptung, unterschiedliche Schichten der Arbeiterklasse und der Unterdrückten hätten unterschiedliche Interessen und sollten daher jeweils ihre eigenen, separaten Organisationen haben. MarxistInnen argumentieren für einen gemeinsamen Kampf basierend auf gemeinsamen Interessen, organisiert in sozialistischen Massenparteien und den Gewerkschaften, die gegen alle Formen der Unterdrückung kämpfen, die den ArbeiterInnen zugefügt werden, und gegen das gesamte kapitalistische System sowie alles, was dieses aufrechterhält, zu kämpfen.

Die Gefahr der „Politik der Privilegierten“ ist, dass sie AktivistInnen dazu führt, Teile der Arbeiterklasse davon zu überzeugen, dass sie eigentlich von der Unterdrückung anderer Schichten profitieren und sie daher gegensätzliche Interessen hätten, anstatt zu erklären, dass es in unserer aller Interesse ist, sich gegen die kapitalistische Klasse zu vereinigen. Das spielt direkt in die Hände der KapitalistInnen, die aktiv versuchen, diesen Mythos aufrechtzuerhalten und Rassismus, Sexismus und andere Formen der Unterdrückung und Diskriminierung verwenden, um ihn zu rechtfertigen. Wenn „privilegierte“ und unterdrückte ArbeiterInnen sich gegen die Bosse vereinigen und gleiche Bedingungen und selben Lohn fordern, wird die Macht dieser Einheit es allen Schichten erlauben, mehr von der ausbeutenden Klasse zu bekommen.

Die Unterdrückung und Diskriminierung einiger Schichten der Arbeiterklasse dient der herrschenden Klasse auch dabei, geeignete Sündenböcke zur Verfügung zu haben. Wenn der Kapitalismus in der Krise steckt, beschuldigen die herrschende Klasse und ihre RepräsentantInnen im Staatsapparat diese oder jene unterdrückte oder marginalisierte Gruppe, um zu versuchen, uns gegeneinander auszuspielen. Wenn die Menschen um ihr Überleben kämpfen müssen und keine genuin linke Alternative präsentiert wird, können solche Ideen Fuß fassen. Dies hat sich in den Präsidentschaftswahlen in den USA klar gezeigt: sobald Bernie Sanders von der politischen Bühne beseitigt wurde, war Donald Trump in der Lage, durch rassistische, frauen- und fremdenfeindliche Ansichten in einer frustrierten Schicht der Arbeiterklasse, die Hillary Clinton als Repräsentantin des Status Quo gesehen haben, Fuß zu fassen und zur Macht zu gelangen. Tatsächlich haben nur 25 % der Bevölkerung für ihn gestimmt. Umfragen[2] haben nahegelegt, dass bedeutende Teile dieser Schicht für eine linke Plattform gewonnen werden hätten können, die die Milliardärsklasse anstelle von zu Sündenböcken gestempelten unterdrückten Gruppen angreift. Jene, die für Trump gestimmt haben, waren nicht von vornherein unterdrückerisch oder diskriminierend, wurden aber von diesen Ideen gefüttert als Erklärung für ihre eigene Not und Armut. Das ist ein konkretes Beispiel dafür, wie diskriminierende Haltungen in den Strukturen der Klassengesellschaft verwurzelt sind, verstärkt durch Mangel, Armut und Enttäuschung durch das kapitalistische System, vor allem, wenn die Linke unfähig ist, eine tatsächliche Alternative zu bieten.

Es ist unschwer vorzustellen, wie viel weniger Zugkraft diskriminierende Ideen hätten, wenn jedem Menschen ein hoher Lebensstandard garantiert würde, der allgemeinen Zugang zum Erwerb von Fähigkeiten und höherer Bildung, zu Kinderbetreuung, Gesundheitsfürsorge, zu Verkehrsmitteln, Wohnung, Erholung, Kultur und so weiter böte. Es wäre schwierig, irgendeine Gruppe für das Leiden einer anderen verantwortlich zu machen, wenn allen der Zugang zu den Ressourcen und Möglichkeiten für eine hohe Lebensqualität gewährt würde. Das ist jedoch im Kapitalismus, der auf der Produktion für Profit anstelle von menschlichen Bedürfnissen beruht, unmöglich. Ein vereinter Klassenkampf ist notwendig, um alle Schichten der Unterdrückten im Kampf gegen das kapitalistische System, das uns alle ausbeutet und unterdrückt, zu vereinen.

Klassenkampf und der Kampf gegen Unterdrückung

MarxistInnen sind gegen das Aufteilen von Menschen in verschiedene Bereiche der Unterdrückung und argumentieren für die Notwendigkeit der Einheit. Der Kampf irgendeiner unterdrückten Gruppe kann nicht unabhängig von anderen Formen der Unterdrückung und dem kapitalistischen System verstanden werden, das diese Unterdrückung erst erzeugt.  Und obwohl die BefürworterInnen der Intersektionalitätstheorie gegen die Aufspaltung von Menschen in eindimensionale (Aktivismus-)Bereiche argumentieren, ist das Resultat ihres subjektivistischen Zugangs stattdessen die Aufspaltung von Menschen in eine unendliche Zahl an unterschiedlich zusammengefügten Unterdrückungskombinationen und Privilegien, die allesamt keinen gemeinsamen Nenner finden. Das wird von der feministischen Theoretikerin und Gelehrten der Intersektionalität, Patricia Hill Collins, in ihrem Werk „Schwarze feministische Gedanken: Wissen, Bewusstsein und die Politik der Ermächtigung“[3] (1990) vorgeschlagen. Darin erklärt sie, dass „der allumfassende Nährboden der Herrschaft mehrere Gruppen beherbergt, jede davon mit unterschiedlichen Erfahrungen, mit Strafen und Privilegien, die die entsprechenden einseitigen Perspektiven hervorrufen… Keine Gruppe hat einen klaren Blickwinkel. Keine der Gruppen besitzt die Theorie oder Methode, die es ihr erlaubt, die absolute ‚Wahrheit‘ zu entdecken“.

Diese ziemlich pessimistische Einstellung lässt uns mit unseren unvollständigen, subjektiven Realitäten zurück und hinterlässt nichts, um die Ursprünge der Unterdrückung zu erklären, oder wie sie ein für alle Mal zu beseitigen ist. Es ist ein Standpunkt, der zu Individualismus und Selbstmitleid führt, und nicht zu einem gemeinsamen Kampf, der die Realität verändern könnte. Die Welt existiert tatsächlich auch außerhalb unserer Gedanken und Gefühle. Unser Verständnis dieser Welt ist selbstverständlich unvollständig und individuell, aber es ist dennoch eine Betrachtung der objektiven Realität und unsere Ideen über diese Realität werden ständig in der Praxis getestet. Die sozialen und ökonomischen Beziehungen, die den Kapitalismus ausmachen, existieren objektiv. Falls man nicht dieser Meinung ist, sollte man nachsehen, was passiert, wenn man nicht für die eigene Existenz arbeitet oder die Miete bezahlt! Weil die überwältigende Mehrheit von uns im Kapitalismus lebt und von ihm ausgebeutet wird, stellt die Analyse der Klassen und ihrer Kämpfe den breitesten „Blickwinkel“ und das beste theoretische Werkzeug dar im Kampf für die Vereinigung und die Gleichberechtigung von allen.

Während die Intersektionalitätstheorie alle Formen der Unterdrückung als gleichermaßen fundamental betrachtet, heben MarxistInnen hervor, dass Klassen die grundlegende Spaltungslinie in der kapitalistischen Gesellschaft sind. Die kapitalistische Produktionsweise ist in ihrem Kern auf der Ausbeutung des Mehrwerts aufgebaut, der von den Eigentümern der Produktionsmittel (den KapitalistInnen) den ArbeiterInnen abgepresst wird. Das will nicht heißen, dass die Ausbeutung einer Klasse in Fragen des Leids die schlechteste Form der Unterdrückung, oder dass die Arbeiterklasse in irgendeiner Weise anderen unterdrückten Gruppen überlegen sei. Es bedeutet, dass solange wir in einer Gesellschaft leben, in der eine parasitäre herrschende Klasse die Mehrheit ausbeutet und unterdrückt, keine einzige unterdrückte Gruppe wirklich befreit werden kann, da immer systematische Ungleichheit vorherrschen wird. JedeR RepräsentantIn der Minderheit der herrschenden Klasse, egal welchen Geschlechts, welcher Ethnie oder sexuellen Orientierung, wird letztlich den Klasseninteressen dienen, die auf unserer Spaltung und der Unterdrückung der Mehrheit von uns beruhen.

Die enormen Profite, die von der kapitalistischen Klasse aufgehäuft werden, stellen die unbezahlte Arbeit der Arbeiterklasse dar, die nicht den vollen Wert ihrer Arbeit bezahlt bekommt. Das ist es, was MarxistInnen mit Klassenausbeutung meinen – nicht zu verwechseln mit „Klassismus“, was sich auf die Diskriminierung von armen Menschen bezieht, die als vermeintlich niedrigere Klasse wahrgenommen werden, und nicht auf ein ökonomisches Verhältnis. Während MarxistInnen die erhebliche Rolle anerkennen, die Diskriminierung und Unterdrückung in der Beibehaltung des kapitalistischen Systems spielen, ist es tatsächlich die ökonomische Realität der Ausbeutung, die die Arbeiterklasse in die einzigartige Position versetzt, das System stürzen zu können, da sie diejenige ist, die den gesamten Reichtum der Gesellschaft produziert. Und obwohl nicht alle ArbeiterInnen mehrfache Unterdrückung erfahren, wird die große Mehrheit der Unterdrückten entweder als ArbeiterInnen, als deklassierte, arbeitslose Menschen oder unter moderner Sklaverei ausgebeutet. Das lässt die Klassenausbeutung den vereinigenden Faktor für alle Unterdrückten werden. Die Arbeiterklasse umfasst die überwältigende Mehrheit aller ausgebeuteten Schichten der Gesellschaft, und es ist eben gerade der Klassenkampf, der all diese Schichten gegen unseren gemeinsamen Feind, die ausbeutende Klasse, vereinigen kann, und in diesem Prozess diskriminierende Einstellungen zerschlagen kann.

Allerdings haben die meisten FührerInnen der Jugend- und Arbeiterbewegung versagt, einen militanten Klassenkampf zu organisieren, der alle Schichten der Unterdrückten vereinigt. Gleichzeitig übernehmen oft genau diese BürokratInnen die Sprache der Intersektionalität, um die Realität zu kaschieren, dass sie nicht für bedeutsame Reformen kämpfen, die die Bedingungen der Jugend und der Arbeiterklasse verbessert hätten. Eine Politik der Zugeständnisse, wie die Gendergleichheit und andere identitätsbasierte Quoten, wird ohne Rücksicht auf Klassenbewusstsein oder politische Orientation angewendet, was in der Realität in einigen wenigen vorteilhaften Positionen für eine Handvoll BürokratInnen resultiert, die sich nicht verpflichtet fühlen, einen Kampf um Verbesserungen zu führen, der die Ausbeutung und Unterdrückung der Mehrheit lindern könnte, die die breite Basis dieser Gesellschaft stellt. Die herrschende Klasse verwendet ähnliche Taktiken, um die Unterdrückten zu beschwichtigen, während ihr System der Ausbeutung gänzlich intakt bleibt. Man muss sich gar nicht weiter umsehen als auf den Webseiten vieler der größten Banken, die mit der Diversität ihrer Beschäftigten prahlen. Die Vertretung unterdrückter Gruppen in Banken und großen Unternehmen ändert nichts an der Realität der Mehrheit der unterdrückten Schichten der Arbeiterklasse, und ohne Veränderung der materiellen Bedingungen, die die Unterdrückung erzeugen, wird auch die Vertretung in unseren Studentenvereinigungen und Gewerkschaften nichts ändern.

Die Idee hinter der „Repräsentation“ ist folgende: wenn nur mehr Leute aus unterdrückten Gruppen höhere Positionen einnehmen können (als gewählte offizielle VertreterInnen der Studierenden- und Arbeiterorganisationen und in der parlamentarischen Politik, aber auch als Firmenchefs, GeschäftsführerInnen, im privaten Sektor, usw.), wird das helfen, ihre Unterdrückung zu beseitigen oder zu lindern. Es ist wichtig zu verstehen, dass unterdrückte Gruppen nicht unterdrückt sind, weil sie nicht in Führungspositionen vertreten sind; sie sind unterrepräsentiert wegen der systematischen Unterdrückung in der Gesellschaft, die Hürden für die Teilnahme am öffentlichen Leben und der Politik aufstellt. Der beste Weg, tatsächliche Repräsentation unterdrückter Gruppen in der Bewegung zu erreichen, ist der Aufbau militanter, kämpfender Organisationen, die tatsächlich in der Lage sind, diese Hürden als Teil des Kampfes für das Ende aller Unterdrückung gänzlich zu beseitigen. Das würde breite Schichten der historisch unterdrückten und an den Rand gedrängten Gruppen dafür begeistern, sich zu vereinigen und das Überwinden jener systematischen Hindernisse anzustreben, die ihre Teilnahme verhindert haben. Ein solcher Kampf wird die Entwicklung einer echten Führung aus der Basis fördern, statt Zugeständnisse von oben bringen. Sozialismus bedeutet gerade, alle ausgebeuteten und unterdrückten Schichten im Kampf für eine bessere Welt zu vereinen. Unsere VertreterInnen müssen auf Basis ihrer Politik und ihrer Fähigkeit, einen wirklichen Kampf führen zu können, gewählt werden.

Die Wahl von Frauen wie Margaret Thatcher, Angela Merkel, Theresa May oder Hillary Clinton in einige der höchsten erreichbaren politischen Positionen hat der Sache der Gleichberechtigung der Frauen nicht geholfen, und revolutionäre Frauen und Männer haben gegen sie agitiert und werden das auch weiterhin aktiv tun. Dasselbe kann zum Beispiel über Christine Lagarde, Direktorin des IWF, gesagt werden, und die Liste lässt sich fortsetzen. Genauso ist auch unter Obama der Lebensstandard der schwarzen amerikanischen Bevölkerung weiterhin gefallen. Als RevolutionärInnen würden wir eineN linkeN PolitikerIn gegen jeden von ihnen unterstützen, egal welcher sexuellen Orientierung, welchen Geschlechts oder Ethnie diese Person angehört. Repräsentation ist ein machtvolles Werkzeug in den Händen der herrschenden Klasse, da sie es dazu verwendet, Illusionen in Führungspersönlichkeiten alleine aufgrund ihrer Ethnie, sexuellen Orientierung, Genders usw. anstatt auf Basis ihrer Klasseninteressen zu schüren, die die Interessen des Kapitals vertreten.

Mitglieder der herrschenden Klasse wie Hillary Clinton haben sogar die Sprache der Intersektionalität angenommen[4], um Unterstützung zu gewinnen. Zu ihrer Ehrenrettung haben Crenshaw und andere BefürworterInnen der Intersektionalität dies verurteilt und hervorgehoben, dass, nachdem „Frau“ keine homogene Kategorie darstelle, Hillary aufgrund ihrer imperialistischen Politik nicht die Interessen aller Frauen vertrete. Doch die Tatsache, dass die Intersektionalitätstheorie die Wurzeln der Unterdrückung nicht anrührt, bedeutet, dass sie letztlich für die kapitalistische Klasse und ihre reformistischen Verbündeten keine Bedrohung darstellt. Deshalb können diese auch so leichtfertig den Sprachgebrauch der Intersektionalität übernehmen, um sich fortschrittlich zu geben. Es bedroht die herrschende Klasse nicht, zu betonen, dass viele und sich überschneidende Formen der Unterdrückung existieren, solange die Frage vermieden wird: warum und zu wessen Vorteil. Es gibt einen Grund dafür, warum die Hillary Clintons dieser Welt sich nicht die marxistische Sprache zu eigen machen, die auf der Notwendigkeit beharrt, dass alle unterdrückten Schichten sich im Klassenkampf vereinigen und den Kapitalismus stürzen!

Reform oder Revolution

Heißt das, dass MarxistInnen damit sagen, dass alle Kämpfe gegen verschiedene Formen der Unterdrückung zu Gunsten des Klassenkampfes beiseite gelegt werden sollen? Dass gegen sie nichts getan werden kann bis nach der sozialistischen Revolution? Dem ist überhaupt nicht so. MarxistInnen stellen sich konsequent gegen jegliche Formen der Unterdrückung und Diskriminierung im Hier und Jetzt und kämpfen gegen alle spalterischen Ideen in der Bewegung, da diese nur den KapitalistInnen in die Hände spielen. Als MarxistInnen gehen wir darüber hinaus und heben hervor, dass wir das Massenbewusstsein nicht im großen Stil verändern können, ohne die materiellen Grundlagen dafür zu verändern; d.h. die Knappheit und den Wettbewerb. Das ist einer der Gründe, warum sich MarxistInnen am täglichen Kampf für Reformen beteiligen und sie dabei mit dem Kampf für den Sozialismus verbinden.

Da die herrschende Klasse Reformen nie freiwillig ohne vorangehende Kämpfe herausrückt, erkämpfen wir diese Reformen am besten durch militante, kollektive Massenaktionen, welche die KapitalistInnen aus Angst vor einer Revolution ins Schwitzen bringen. Es sollte nicht die Verantwortung jeder unterdrückten Gruppe sein, gegen ihre eigene spezielle Unterdrückung zu kämpfen. Der Kampf gegen jede Unterdrückung und für jegliche Reformen wird dann erleichtert, wenn die ganze Arbeiterklasse und mit ihr alle unterdrückten Gruppen vereint zusammenstehen und kämpfen. Männer und heterosexuelle ArbeiterInnen haben ein berechtigtes Interesse daran, sich für Frauen- und Transrechte einzusetzen, weiße ArbeiterInnen müssen sich dem Kampf gegen Rassismus anschließen, usw. usf. Unsere Stärke liegt in unserer vereinten Zahl; die Stärkung einer Schicht der ArbeiterInnen ist eine Stärkung für die ganze Klasse und für alle Unterdrückten.

Durch den vereinten Klassenkampf lernen die Massen der ArbeiterInnen ihre eigene Stärke kennen, wenn sie zusammenhalten. Im Klassenkampf werden auch schnell die Grenzen des Kapitalismus, also die Unfähigkeit dieses Systems, notwendige grundlegende Verbesserungen zu realisieren, klar. Schauen wir uns heute in der Welt um, sehen wir, dass neue Reformen nicht die Norm sind. Im Gegenteil, ArbeiterInnen und Unterdrückte Gruppen kämpfen überall gegen Abbau und Verschlechterungen ihres Lebensstandards, um überhaupt die grundlegendsten Rechte zu behalten, welche in der Vergangenheit erkämpft wurden. Wenn wir also für Reformen kämpfen, welche Unterdrückung abschwächen und den Lebensstandard heben würden, erklären wir gleichzeitig, dass keine dieser Reformen im krisengeschüttelten Kapitalismus gehalten werden kann. Um permanente Verbesserungen zu erreichen, müssen diese Reformen direkt mit dem Kampf für den Sozialismus verknüpft werden.

Sobald ihre Profite in Gefahr schweben und der Kapitalismus in eine Krise eintritt, legen die Chefs, Banker und alle ihre Freunde beim Staat alles daran, jegliche erkämpfte Verbesserungen und Reformen zu unseren Gunsten wieder rückgängig zu machen. Tendenziell führt das zur Stärkung von Rassismus und anderen Vorurteilen gegenüber bestimmten unterdrückten Gruppen, welche von den Rechten immer gerne als Sündenböcke für Austerität und Kürzungen vorgeführt werden. Unsere einzige Chance, die gewonnenen Reformen der Vergangenheit zu erhalten, erfolgreich gegen alle Formen der Unterdrückung zu kämpfen und eine wirklich gleichberechtigte Gesellschaft aufzubauen, liegt darin, der profitorientierten Produktion ein Ende zu setzen. So können die enormen Ressourcen und der Reichtum, welche heute schon vorhanden sind, unter demokratischer Kontrolle im Interesse der Mehrheit genutzt werden.

Die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft

Das heißt nicht, dass nach der sozialistischen Revolution diskriminierende Verhaltensweisen über Nacht verschwinden. Unterdrückung in all ihren Formen existiert schon seit Generationen und teils sogar schon seit tausenden von Jahren, in denen sie ihr Mal dem Bewusstsein der Menschen aufgedrückt hat. Wir wissen aber auch, dass das Massenbewusstsein sich sehr schnell verändert, wenn Menschen zusammen für eine Sache kämpfen, einander also als Verbündete sehen anstatt als Konkurrenten. Es ist schwierig, seine diskriminierende Haltung gegenüber z.B. Frauen aufrechtzuerhalten, wenn diese für die gleichen Forderungen zusammen auf der Strasse stehen und im Kampf ihr Leben für die gemeinsame Sache aufs Spiel setzen. In Arbeitskämpfen wie Streiks sieht man deutlich, dass die ArbeiterInnen kein Interesse daran haben, sich gegenseitig zu diskriminieren, da das den Streik untergraben würde. Dieses Bewusstsein nimmt in grossen Bewegungen einen Massencharakter an.

Ein Beispiel dafür ist die ägyptische Revolution 2011, die Hosni Mubarak stürzte. Trotz einer traditionell starken Frauenunterdrückung und vielen blutigen Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen über Jahrzehnte hinweg, kamen für dieses Ereignis Männer und Frauen aus allen religiösen Hintergründen beim Tahrir-Platz zusammen. Diskriminierendes und stigmatisierendes Denken über verschiedene unterdrückte Gruppen wurde im Kampf gegen den gemeinsamen Unterdrücker durchbrochen. Obwohl der Kapitalismus von der ägyptischen Revolution noch nicht gestürzt worden ist, konnten wir einen flüchtigen Blick darauf werfen, was im Versuch, eine neue Gesellschaft zu erschaffen, auf Massenbasis möglich ist.

Wenn wir die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen dieser Gesellschaft mit einem sozialistischen Programm radikal umkrempeln, wird der Unterdrückung der strukturelle und wirtschaftliche Boden unter den Füssen entzogen. Ohne eine parasitäre Minderheit, die die Mehrheit für Profite ausbeutet, gäbe es keine soziale und materielle Notwendigkeit, die Mehrheit der Menschen an Linien wie Geschlecht, sexueller Orientierung, Fähigkeiten, Sprache, Religion etc. zu spalten. Wenn wir nicht mehr dazu gezwungen werden, auf dem Arbeitsmarkt, bei der Suche nach guter Bildung und Kindertagesstättenplätzen, Essen, Wasser oder bezahlbarem Wohnraum gegeneinander zu konkurrieren, wird sich die Art des sozialen Zusammenlebens fundamental ändern.

Eine jederzeit demokratisch wähl- und abwählbare Führung am Arbeitsplatz gepaart mit einem demokratischen Anstellungs- und Entlassungsprozess können diskriminierendem Verhalten bei der Arbeit einen Riegel vorschieben; gesellschaftliche demokratische Kontrolle über die Medien und die Bildung werden wichtige Werkzeuge sein, um Diskriminierung und Vorurteile abzubauen. Verändern wir also die sozio-ökonomische Grundlage der Gesellschaft, wird die Welt und das Massenbewusstsein auch eine grundlegende Änderung durchmachen.

MarxistInnen wird häufig vorgeworfen, sie hätten eine einfache Lösung, die sie dann auf alles und alle von oben herab anwenden wollen. Aber ganz im Gegenteil – bei der sozialistischen Revolution geht es darum, dass alltägliche Menschen ihr Schicksal beginnen in die eigenen Hände zu nehmen und zusammen eine neue Gesellschaft für sich zu bauen. MarxistInnen möchten diese Bestrebungen zum Sturz des Kapitalismus und dem Errichten einer sozialistischen Gesellschaft, wo die sozio-ökonomischen Grundlagen für Ungleichheit nicht mehr vorhanden sind, anführen. Von da an werden die verschiedenen sozialen Gruppen alle Möglichkeiten und Ressourcen zur Verfügung haben, die sie brauchen, um die Probleme anzugehen, welche über Generationen von Unterdrückung und Diskriminierung entstanden sind. Auf dieser Grundlage der wahren sozialen Gleichheit können die Menschen anfangen, menschliche und aufrichtige zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen. Mit der Errichtung der neuen Gesellschaft wird ein neues kollektives Bewusstsein möglich.

[1]  Originaltitel: “Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics”

[2] http://www.independent.co.uk/news/world/americas/us-elections/bernie-sanders-beaten-donald-trump-pre-election-poll-a7412636.html

[3] Originaltitel: „Black Feminist Thought: Knowledge, Consciousness, and the Politics of Empowerment“

[4] https://twitter.com/HillaryClinton/status/706670045410299904?ref_src=twsrc%5Etfw