[dropcap]E[/dropcap]s ist ein beliebtes Klischee, dass KommunistInnen sich nur für die Kategorie Klasse interessieren würden. Wie falsch dieser Vorwurf ist, über den man auch heute noch allenthalben stolpert, können wir vor allem anhand eines Beispiels sehen: dem Umgang der Bolschewiki mit der Geschlechterfrage.

Es waren die Petrograder Näherinnen und Textilarbeiterinnen, die den ersten Nagel in den Sarg des verrottenden Zarentums schlugen. Am Weltfrauentag im Jahr 1917 traten sie in den Streik und läuteten damit die Februarrevolution ein. In den drei Kriegsjahren zuvor war die Zahl der werktätigen Frauen in den industriellen Zentren von 10 auf 40 Prozent und damit auf über eine Million angewachsen. In der Moskauer Textilindustrie machten sie sogar 60 Prozent aus und nahmen den Platz der Männer ein, die an die Front geholt wurden. Die Russische Revolution sollte die russische Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttern und Freiheiten und Rechte bringen, angesichts derer auch heutige westliche Demokratien rückständig wirken. Die Revolution der ArbeiterInnenklasse in Russland zeigte, was innerhalb kurzer Zeit möglich ist, wenn sich das Proletariat erhebt.

Der Sturz des Zaren und die Rechte der Frau
In der Unterdrückung der Frauen bestärkten sich die ländliche Prägung Russlands und die Macht der Kirche gegenseitig. Frauen waren in den Ehe- und Scheidungsrechten benachteiligt und wurden im Gesetz mehr als Eigentum denn als Menschen betrachtet. Darauf baute auch das gesellschaftliche Stereotyp auf: Frauen seien oberflächlich, hysterisch und für die Politik ungeeignet. Auch die revolutionäre Sozialdemokratie war nicht frei von solchen Ansichten.

Doch es gab einzelne Gruppen, die sich mit der Frauenfrage befassten und ihre Wichtigkeit erkannten. Die erste internationale Konferenz nach Kriegsausbruch wurde 1915 von der sozialistischen Frauenbewegung abgehalten. Daran nahmen Vorkämpferinnen wie Clara Zetkin und die Russinnen Inessa Armand und Alexandra Kollontai teil.

In Russland gaben die Bolschewiki zu Kriegsbeginn die Zeitung Rabotnitsa (Arbeiterin) heraus. Mit ihr verfolgten sie das Ziel Frauen für die Partei zu gewinnen. Nach sieben Ausgaben wurde sie verboten und konnte erst ab 1917 fortgesetzt werden.

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Bürgerlicher Feminismus gegen proletarische Frauenbewegung
Zwischen dem bürgerlichen Feminismus und der proletarischen Frauenbewegung verlief ein tiefer Graben. Die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen bezogen sich auf die Suffragettenbewegung und verlangten vor allem rechtliche Gleichstellung. Die Revolutionärinnen waren sich dagegen bewusst, dass auch die materielle Grundlage geschaffen werden muss, um diese Rechte auszuüben. Die Frauen sollten gleichberechtigter Teil der Produktion sein. Die Verbannung an den Herd, wie er vom bürgerlichen Familienbild propagiert wurde, sollte ein Ende finden, indem die bürgerliche Familie an sich angegriffen wurde. Der rasche Anstieg des Anteils von Frauen in der Industrie während dem Krieg zeigte, dass es nicht reicht, Frauen einfach gleich ausbeuten zu lassen wie die Männer. Nur der Sozialismus konnte die Bedingungen schaffen, um beide Geschlechter zu emanzipieren.

Die Klarheit in diesem Punkt unterschied die Bolschewiki stark von den bürgerlichen Feministinnen und den gemässigteren Linken. Aber auch aus rechtlicher Sicht waren die Bolschewiki extrem fortschrittlich (teils auch für heutige Verhältnisse), wenn es um Geschlecht, Familie und Sexualität ging: Heiraten und Scheiden wurden zu einfachen administrativen Akten, die für beide Partner gleichermassen möglich waren. Ebenso einfach konnte man den Geschlechtereintrag ändern lassen und Kinder, die unehelich geboren wurden, wurden erstmals rechtlich mit ehelich geborenen gleichgestellt. Wenn der männliche Elternpart nicht klar war, galten alle Sexualpartner der Mutter als Väter.

Politische Frauenarbeit
Die bewussten Bolschewiki verstanden sich aber natürlich nicht als wohltätige BefreierInnen der Frauen. Ihnen war bewusst, dass die vollständige sozialistische Revolution nicht ohne die Aufhebung der Frauenfrage erfolgen konnte. Wichtiger war allerdings, dass sich die Frauen an der Revolution beteiligten. Die heroische Rolle der Frauen in allen erfolgreichen Revolutionen ist das eine. Aber nur ihre Vertretung in den Führungsgremien garantiert, dass ihre Interessen nicht zu kurz kommen.

Auch in der bolschewistischen Partei musste die Wichtigkeit der Politisierung der Frauen in der Stadt und im Dorf gegen grosse Widerstände durchgesetzt werden. Die Mitgliederzahlen veranschaulichen das: 1917 war der Frauenanteil nur 8 Prozent und konnte bis 1932 auf 15,9 Prozent verdoppelt werden. Schon 1917 waren über knapp ein Zehntel des Zentralkomitees Frauen und der Anteil von Funktionärinnen erreichte 1934 27 Prozent auf dem Land und 32 in der Stadt.

Wie die Bolschewiki die Frauenförderung behandelten, zeigt sich in einer Ausführung Lenins gegenüber Clara Zetkin:

Aus unserer ideologischen Auffassung ergibt sich das Organisatorische. Keine Sondervereinigungen von Kommunistinnen. Wer Kommunistin ist, gehört als Mitglied in die Partei wie der Kommunist. Mit gleichen Pflichten und Rechten. Darüber kann es keine Meinungsverschiedenheit geben. Jedoch dürfen wir uns einer Erkenntnis nicht verschließen. Die Partei muss Organe haben, Arbeitsgruppen, Kommissionen, Ausschüsse, Abteilungen oder wie sonst man sagen mag, deren besondere Aufgabe es ist, die breitesten Frauenmassen zu wecken, mit der Partei zu verbinden und dauernd unter ihrem Einfluss zu halten. Dazu gehört natürlich, dass wir ganz systematisch unter diesen Frauenmassen tätig sind. Wir müssen die Erweckten schulen und für die proletarischen Massenkämpfe unter Führung der Kommunistischen Partei gewinnen und ausrüsten. Ich denke dabei nicht allein an die Proletarierinnen, ob sie nun in der Fabrik oder am häuslichen Herd stehen. Mir sind dabei auch die Kleinbäuerinnen gegenwärtig, die Kleinbürgerinnen der verschiedenen Schichten. Auch sie alle sind die Beute des Kapitalismus, und seit dem Krieg mehr denn je. Die unpolitische, unsoziale, rückständige Psyche dieser Frauenmassen, ihr isolierender Betätigungskreis, der gesamte Zuschnitt ihres Lebens sind Tatsachen. Es wäre töricht, sie nicht zu beachten, absolut töricht. Wir brauchen eigene Organe zur Arbeit unter ihnen, besondere Agitationsmethoden der Organisationsformen. Das ist nicht Frauenrechtlerei, das ist praktische, revolutionäre Zweckmäßigkeit."

Das Programm der Bolschewiki
Kollontai, die erste Ministerin (Volkskomissarin) der Welt, führte eine allgemeine Sozialversicherung ein. Mit dem 1918 geschaffenen Ministerium für Mutterschaft und Kindheit wurde die materielle Absicherung stark verbessert. 16 Wochen Mutterschaftsurlaub, Schutz vor schweren Arbeiten während der Schwangerschaft, Zugang zu Kliniken, Mutterschaftsberatung und Tagesstätten besserten die Stellung der Frau auf. Zuvor hatten sie oft bis zur Geburt in der Fabrik gearbeitet und nicht selten auch da geboren.

Lenin erklärte seine Vorstellung:

Wir gliedern die Frauen in die soziale Wirtschaft, Verwaltung, Gesetzgebung und Regierung ein. Wir öffnen ihnen alle Kurse und Bildungsanstalten, um ihre berufliche und soziale Leistungsfähigkeit zu heben. Wir gründen Gemeinschaftsküchen und öffentliche Speisehäuser, Wasch- und Reparaturanstalten, Krippen, Kindergärten, Kinderheime, Erziehungsinstitute verschiedener Art. Kurz, wir machen Ernst mit unserer programmatischen Forderung, die wirtschaftlichen und erzieherischen Funktionen des Einzelhaushaltes der Gesellschaft zu übertragen. Dadurch wird die Frau von der alten Haussklaverei und jeder Abhängigkeit vom Manne erlöst. Es wird ihr je nach Begabung und Neigung volles Wirken in der Gesellschaft ermöglicht. Die Kinder erhalten günstigere Entwicklungsbedingungen als daheim."

Schenotdel – Avantgarde der werktätigen Frauen
Damit im sibirischen Bauerndorf auch umgesetzt wurde, was in Petrograd beschlossen wurde, brauchte es die passenden Organe. 1919 wurden im Schenotdel die bisherigen Frauenkomissionen zusammengeschlossen. Unter der Führung von Armand machten Bolschewistinnen und freiwillige Nicht-Parteimitglieder Agitation und Propaganda zur Politisierung der werktätigen Frauen in der Stadt und auf dem Land. Ausser der eigenen Zeitung Komunistka (die Kommunistin) gaben die Shenotdel-Frauen mehrere Magazine heraus – 1927 waren es 18. Darin stellten sie eigene Überlegungen, Analysen und Forderungen zur Geschlechterfrage an.

Zetkin und Lenin waren sich 1920 einig: «Wir müssen unbedingt eine kräftige internationale Frauenbewegung schaffen, auf klarer theoretischer Grundlage. […] Uns Kommunisten ist auch in dieser Frage grösste grundsätzliche Reinheit nötig». Doch leider machte die Emanzipation der Frau schon bald wieder Rückschritte.

Verrat an der Revolution der Frauen
Ohne die grossen Opfer und die Tatkraft der Frauen wäre die sozialistische Revolution niemals erfolgreich gewesen. Sie machten nicht nur in der Februarrevolution den Anfang, sondern verteidigten auch die Errungenschaften der Oktoberrevolution. Die 70'000 freiwilligen Frauen, die in der Roten Armee dienten, sind klares Zeichen dafür, dass es den Bolschewiki gelang, eine breite Basis unter den werktätigen Frauen aufzubauen – welche bereit waren, ihr Leben für ihre Revolution zu opfern.

Doch die Frauen wurden um die von ihnen erkämpften Rechte wieder betrogen, als die Revolution von der stalinistischen Bürokratie verraten wurde: Das bürgerliche Familienidyll wurde wieder installiert, Scheidungen wurden erschwert und der Schenotdel wurde 1930 sogar aufgelöst. Die Verstaatlichung der Produktionsmittel habe die Frauenfrage gelöst und die Gruppe überflüssig gemacht, hiess es.

Und heute?
Die raschen Fortschritte der Bolschewiki in der Geschlechterfrage zeigen, wie schnell und tiefgreifend in einer Revolution Verbesserungen errungen werden können. Die Herangehensweise der russischen RevolutionärInnen unterschied nicht zwischen geschlechterspezifischen und gesamtgesellschaftlichen Interessen. Die Bolschewiki begegneten den Arbeiterinnen und Bäuerinnen in erster Linie als Klassengenossinnen. Sie wollten sie für den Umsturz aller Beziehungen der alten Gesellschaft gewinnen. Das Betonen der gemeinsamen Interessen der ganzen ausgebeuteten Klasse, worin die Frauen zu den am stärksten unterdrückten gehören, machte erst den gemeinsamen Kampf möglich. Es ging ihnen nicht um die losgelöste Anerkennung ihrer staatsbürgerlicher Rechte oder ihrer geschlechtsspezifischen Identität. Das Ziel war, die gesellschaftlichen Verhältnisse von der Wurzel aus zu verändern und etwas Neues aufzubauen – auch auf der Ebene der engsten zwischenmenschlichen Beziehungen.

Postmoderne FeministInnen tappen heute – bewusst oder unbewusst – in die Falle, lieber möglichst viele verschiedene Identitäten und soziale Geschlechter zu schaffen, statt sich über die Kategorien der bürgerlichen Gesellschaft hinweg zu setzen. Wer nachhaltig auf die vom Kapitalismus geschaffenen Geschlechterverhältnisse einwirken will, kann aus der Erfahrung der russischen Revolution nur profitieren.

Michael Wepf
JUSO Waadt

Quelle der Zitate: C. Zetkin – Erinnerungen an Lenin

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