Viele Linke reiben sich die Augen, wenn sie zurzeit in jenen Kanton blicken, der landesweit als Hochburg des Rechtskonservatismus bekannt ist. Ausgerechnet St. Gallen vermittelt der Linken in der Schweiz die Erfolgserlebnisse, welche sie in den Zeiten der Krise so dringend benötigt. Nicht nur hat der Präsident des Schweizer Gewerkschaftsbundes den Präsidenten der Schweizer Volkspartei im Rennen um einen Ständeratssitz vernichtend geschlagen. Kürzlich wurde ausserdem eine Jungsozialistin Präsidentin der kantonalen Partei und wenig später, gemeinsam mit einem zweiten JUSO, auch noch ins Stadtparlament gewählt. Jetzt fand dort eine der grössten Kundgebungen der Staatsangestellten statt und die nächsten Termine sind schon gesetzt…

 
Wir bezahlen eure Steuergeschenke nicht!“

Am 15. November gingen in der Stadt St. Gallen die „Staatsangestellten zusammen mit der Bevölkerung“ auf die Strasse. Die Regierung hatte angekündigt Beamten, die mindestens 60‘000 Franken im Jahr verdienen, die Löhne pauschal um 1.5% zu kürzen. 22‘000 Angestellte sind davon unmittelbar betroffen. Was kein grosser Einschnitt zu sein scheint, war der berühmte „Tropfen“, welcher den Unmut der Bevölkerung überschwappen liess. Die staatlichen Bediensteten haben seit 17 Jahren keine Reallohnerhöhung mehr gesehen. Nun wird den Staatsbediensteten aber nicht bloss die Beteiligung am gesellschaftlichen Wohlstand vorenthalten, sondern dazu noch die Kopfwehtabletten der Wirtschaftskrise in Rechnung gestellt.

Die ewige Leier der Bürgerlichen, der Staatsapparat sei aufgebläht und es sei kein Geld mehr da, zeigt nicht mehr die gewünschte Wirkung, zu offensichtlich sind die Widersprüche. So verkündet auch Paul Rechsteiner an der Kundgebung: „Wir haben genug davon, dass die Staatsangestellten zu den Sündenböcken der Nation gemacht werden, gleich nach den Asylsuchenden und den Invaliden“. Die Finanzen werden nicht durch die Staatsquote belastet, sondern durch die Steuerpolitik zu Gunsten der Reichen. So werden im Kanton nach altbekannter Manier die Kapital-, Gewinn-, Vermögens-, und Einkommenssteuern zu Gunsten der Grossverdiener kontinuierlich gesenkt (2006-2010 um 800 Mio.), nur um danach ein Sparpaket nach dem andern zu lancieren. Ein staatlich geführter Klassenkampf von oben.

In St. Gallen hat diese Politik der leeren Kassen einen neuen Höhepunkt erlebt als im Juni 2012 das Sparpaket II verabschiedet wurde, welches Kürzungen von über 200 Mio. Franken ankündigte. Nun werden die ersten Restrukturierungsmassnahmen ergriffen. Als erstes stehen auf der Abschussliste jeweils, wie wir bereits europaweit beobachten konnten, die Arbeitsbedingungen der Staatsangestellten. Weitere drastische Einsparungen kündigen sich bereits an, grüsst doch schon aus der Ferne die Unternehmenssteuerreform II. Diese Jahrhundertschweinerei wird mehrere Milliarden Franken an die reichen Aktionäre umverteilen. Das Finanzloch im Bundesbudget wird weitere „Reformen“ nach sich ziehen.

Das Vorbild St. Gallen

Der Spartsunami hinterlässt im Kanton St. Gallen einen Trümmerhaufen, während sich die Bonzen in den Chefetagen und Alpenressorts vor den Fluten in Sicherheit gebracht haben. Die Empörung ist entsprechend gross: 5000 Teilnehmer an einer kantonalen Veranstaltung unter der Woche ist für die wenig kampferfahrene Schweizer Arbeiterschaft eine ungewöhnliche Mobilisierungskraft. Betrachtet man die Demofotos, folgt die nächste Überraschung: Die Polizisten auf den Bildern „beschützen“ weder die Demonstranten noch regeln sie den Strassenverkehr, sondern lauschen angeregt den Sprechern und applaudieren kräftig mit. Nebst dem Gesundheitspersonal, den Lehrpersonen und dem Verwaltungspersonal nahm auch eine Delegation von 270 PolizistInnen teil. Es sind nicht nur diejenige „linke Grüppchen“ auf der Strasse, welche von der bürgerlichen Berichterstattung so gerne verunglimpft werden, sondern Lohnabhängige aller Altersschichten, denen die berufliche Zukunft berechtigtes Kopfzerbrechen bereitet.

Die breite Mobilisierung der St. Galler Arbeiterschaft gelang bereits Monate vorher Paul Rechsteiner. Mit dem schlichten Slogan „Mehr Lohn, Schutz und Rente“ gewann der Gewerkschafter nicht nur einen Ständeratssitz, sondern prägte auch die diesjährigen 1. Mai-Feierlichkeiten. Die letzten Jahre hat jene Sozialdemokratie Arbeitskämpfe entweder völlig ignoriert oder nur halbwegs gutgeheissen. Der Erfolg in St. Gallen ist also auch der Erfolg der SozialdemokratInnen, welche die Partei wieder hin auf die ArbeiterInnen ausrichten wollen.

Tax The Rich!

Der Hauptfokus der St. Galler Gewerkschaftsbewegung liegt zurzeit darin, den Abbau der öffentlichen Dienstleistungen infolge von Steuergeschenken an Kapitalbesitzenden zu bekämpfen. Staatsangestellte geniessen in der Öffentlichkeit einen hohen Stellenwert und ihre Kämpfe werden deshalb von der Bevölkerung meistens solidarisch unterstützt. Es sind vor allem Menschen mit mittlerem bis niedrigem Einkommen, die auf staatliche Institutionen angewiesen sind und deshalb von einem Abbau unmittelbar betroffen sind. Dieser Kampf lässt deshalb viele Berührungspunkte offen und ist im Stande eine breite Masse zu mobilisieren. So kann zum Beispiel ein Schüler aus der „Waid“, der im März gegen die Leistungskürzungen seiner Schule protestierte, Arm in Arm mit einem Arzt demonstrieren, den die neu eingeführten Fallpauschalen in Schweizer Spitäler frustrieren.

Die Kundgebung wurde von den wichtigsten Gewerkschaften, Angestelltenverbänden, linken Parteien und diversen Einzelpersonen unterstützt. In diesem Rahmen findet am 19. November eine Veranstaltung zum Thema „Richtig Steuern“ statt und eine Woche später ist bereits die nächste Kundgebung angekündigt. Diese Protestversammlung soll zusätzlichen Druck auf die „Volksvertreter“ ausüben, denen man bei dieser Gelegenheit einen offenen Brief überreicht. Der Mix aus Strassenaktionen und parlamentarischen Interventionen wird durch eine dritte Komponente ergänzt: den Internationalismus. Die Frage der „richtigen“ Besteuerung und der daraus resultierenden Sparpakete beschäftigt zurzeit ganz Europa. Nicht nur das Datum der Kundgebung (ein Tag nach dem südeuropäischen Generalstreik) dient als supranationale Beilage, sondern auch dass diese Kampagne im Rahmen der „Anti-Sparpolitik-Aktionswochen“ stattfindet. Auf der Website www.geld-ist-genug-da.eu rufen drei der grössten Gewerkschaften der deutschsprachigen Nationen (UNIA für die Schweiz, ver.di für Deutschland und GPA-djp für Österreich) zu parallel stattfindenden Aktionen und Veranstaltungen im November auf. Der Aktion vorangegangen sind von ihnen durchgeführte Volksbefragungen zum Kampagnenthema. Im Oktober wurden diese unter dem Titel „Instrumente gegen die Krise“ publiziert. So lassen sich jenen Statistiken entnehmen, dass sich zum Beispiel 76% der Schweizer für eine höhere Besteuerung von Millionären aussprechen oder 68% eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte befürworten.

Ist St. Gallen das Ende vom Anfang?

Die Ereignisse in St. Gallen sind gleichzeitig ein Höhepunkt und Startpunkte einer Reihe von Auseinandersetzungen im Service Public, die sich quer durch die gesamte Schweiz ziehen. So fanden zum Beispiel in Zürich im Zuge des Sparpakets „San 10“ im mehrere Arbeitskämpfe statt, die von einem Bussen-Streik der Stadtpolizei bis hin zu einem Warnstreik der „Trämler“ reichten. Momentan sind in einem Grossteil der Schweizer Kantone Sparmassnahmen geplant und vielerorts bahnt sich Widerstand an. Am 24. November demonstrierten 1500 Menschen in Luzern gegen Sparmassnahmen. In Genf werden am 6.12. Streiks der öffentlichen Angestellten in die Wege geleitet. In Bern fand am 22. November eine Kundgebung mit über 250 Menschen statt.

Wenn also Paul Rechtsteiner in seiner Rede in St. Gallen fragte: „Sind wir denn Griechenland?“, dann ist zwar die Antwort nicht unbedingt „JA“, jedoch sind es dieselben, wenn auch weniger tiefgreifende, Massnahmen. Es geht nicht einfach um die Höhe des Lohnes, sondern um die allgemeinen Arbeitsbedingungen, welche eine zufriedenstellende Erfüllung der Anforderungen verunmöglichen. So ist in vielen Bereichen des Service Public heute eine 100%-Stelle mit einem Sozialleben nicht mehr im Einklang zu bringen. Vor allem im Pflegebereiche nehmen psychische und körperliche Erkrankungen sowie Lehrabbrüche massiv zu. Statt ihrer regulären Arbeit nachzugehen, verschwenden Lehrpersonen, PolizistInnen und ÄrztInnen grosse Teile des Pensums mit dem Ausfüllen von Papieren und dem Befolgen von unverständlichen Vorschriften. Die Lohnkürzungen stehen hierbei für eine sinkende Wertschätzung der beruflichen Leistung und dies obwohl man tagtäglich immer mehr Anforderungen gerecht wird.

Die Frustration ist also dementsprechend gross und wird in Zukunft noch zunehmen. Im Zuge der Wirtschaftskrise stehen „Sanierungsmassnahmen“ in der ganzen Schweiz auf der Tagesordnung. Die Statistiken in St. Gallen zeigen deutlich, dass genug Geld da ist, aber nach oben umverteilt wird. Die Krise wird dazu genutzt die ohnehin schon Reichen noch reicher zu machen. Dies auf Kosten der Qualität des öffentlichen Dienstes und auf Kosten der öffentlich Angestellten.

Gehen wir den Weg gemeinsam!

Der Widerstand in St. Gallen gegen die Politik hat Vorbildcharakter für die ganze Schweiz. Der Druck, den man bisher aufbauen konnte, ist schon so gross, sodass Zugeständnisse durchaus möglich sind. Diese werden aber einzig und alleine den Zweck haben einzelne Bereiche des öffentlichen Dienstes gegenüber anderen auszuspielen, also die Widerstandbewegung zu spalten. Es werden von Seiten des Parlaments und der UnternehmerInnen Versuche gestartet werden einzelne Berufsgruppen zu bevorzugen und so einen Keil zwischen den Angestelltenverbände zu treiben.

Es genügt nicht dem Sparmonster ein oder zwei Köpfe abzuschlagen, um danach mit der Gewissheit nach Hause zu gehen, dass man erst ein wenig später verschlungen wird. Die Lage im Service Public ist für viele heute schon derart unhaltbar, dass wir eine deutliche Verbesserung der derzeitigen Lage anstreben müssen, statt nur einer graduellen Verschlechterung. Die Reichen werden das Geld, das sie uns weggenommen haben, nicht zurückgeben, weil wir sie darum bitten. Auch wird der strenge Sparkurs sicherlich weitergeführt. Der nächste logische Schritt ist also ein Streik des gesamten Service Public. Nur durch eine Verweigerung der Arbeitskraft kann man den Bürgerlichen klarmachen, dass der von ihnen eingeschlagene Weg in eine Sackgasse führt. Einen Streik durchzuführen ist keine leichte Entscheidung, sondern braucht viel Selbstvertrauen, eine gute Organisation und vor allem auch viel Solidarität von Seiten der restlichen Bevölkerung. Die St. Galler Staatsangestellten haben am 15. November aber bewiesen, dass sie alles diese Eigenschaften besitzen. Es gilt nun ein schweizweites Signalfeuer zu entzünden und zu sagen: „So nicht mit uns!“

Solidarität mit den St. Galler Staatsangestellten: Montag, 26. November geht’s um 17:30 auf den Klosterplatz!