Intellektuelle vom Denknetz, SPlerInnen, Grüne, Gewerkschafts- und JUSO-Präsidentinnen — die halbe Linke schreibt dazu, wie Marx’ Werk «heute wieder fruchtbar» gemacht werden könne. Im Sommer gaben Ringger und Wermuth ein Buch zu Marx zu dessen 200-Jahre-Jubiläum heraus. Eine Kritik.

«MarxnoMarx», der Titel trifft ins Schwarze: Das Leitmotiv des Buchs ist «mit Marx über Marx hinaus». Ein Beispiel: JUSO-Präsidentin Funiciello will «reflektieren, wo heute weitergedacht wird als nur bis Marx». Dieses Motiv ist mehr als hundert Jahre alt. Man müsse über Marx hinausgehen, meinte bereits Eduard Bernstein Ende 19. Jahrhundert: Der Sozialismus werde durch ein lineares Fortschreiten mittels Sozialreformen innerhalb des Kapitalismus erreicht. Nicht durch Revolution, wie Marx dachte. Bernstein gab erstmals der reformistischen Strömung in der deutschen Sozialdemokratie einen theoretischen Ausdruck. Rosa Luxemburg erkannte sofort, was hinter dieser vermeintlichen theoretischen Weiterentwicklung steckte: «Kein einziger Gedanke, der nicht schon vor Jahrzehnten von dem Marxismus niedergetreten, zerstampft, ausgelacht, in nichts verwandelt worden wäre.» Indem wir einige wesentliche, gemeinsame Kerne herausschälen, wollen wir zeigen, dass MarxnoMarx in dieser reformistischen Tradition steht: vermeintlich über Marx hinaus, in Wahrheit weit hinter ihn zurück.

Mit Marx in den Kampf?
Der Marx-Satz, auf den am meisten Bezug genommen wird, ist die elfte Feuerbachthese: «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern.» Ja, insofern sind wir MarxistInnen, so die meisten AutorInnen.

Man müsste also meinen, der Zweck eines solchen Buches sei, eine Waffe im Kampf gegen den Kapitalismus zu sein. Doch nein: es soll bloss «Neugierde wecken», «zur Diskussion herausfordern». Man hört bereits die Einwände: diese theoretische Auseinandersetzung sei doch selbst schon eine Form von Praxis; auch Engels habe doch vom «theoretischen Kampf» gesprochen. Doch Engels verstand den «theoretischen Kampf» als eine Seite des Klassenkampfs: er ersetzt nicht den ökonomischen und politischen Kampf für den Sozialismus. Der ideologische Kampf gewinnt seine wirkliche revolutionäre Bedeutung nur als Moment des ganzen Klassenkampfs für den Sozialismus.

Die Versicherung, man knüpfe an der marxistischen Einheit von Theorie und Praxis an, entpuppt sich als deren Gegenteil. Rytz z.B., Nationalrätin und Präsidentin der Grünen, pickt sich ein bisschen «marxistische Systemkritik» heraus. Von dieser «Systemkritik» ist aber die Lehre vom Klassenkampf untrennbar: Es ist die arbeitende Klasse, die im Kampf mit der sie ausbeutenden kapitalistischen Klasse die Macht erringen muss, um eine freie (und auch ökologisch nachhaltige) Gesellschaft erschaffen zu können. Die Einheit von Theorie und Praxis gebietet, diese «marxistische Systemkritik» in die Praxis umzusetzen und eine revolutionäre Partei der Arbeiterklasse aufzubauen. Die Politik der Grünen ist davon meilenweit entfernt. Was für Rytz, gilt ausnahmslos auch für die VerfasserInnen der anderen Beiträge: Wer sich mit Marxschen Federn schmückt, muss revolutionäre Politik machen — alles andere ist Wortradikalismus. Doch auch der Radikalismus in Worten packt die Sache nur vordergründig an der Wurzel…

Eine «Leerstelle» bei Marx
In diversen Aufsätzen wird eine «Leerstelle», ein «blinder Fleck» bei Marx markiert: unbezahlte, vor allem von Frauen ausgeführte Hausarbeit. Während die JUSO-Präsidentin sich damit begnügt, einfach zu behaupten, dass eine Leerstelle vorhanden sei, wollen wir sie benennen.

Marx hat erkannt, dass Kapital nur dadurch akkumuliert werden kann, dass Arbeitende ausgebeutet werden. Damit aber fortlaufend ausgebeutet werden kann, muss die arbeitende Klasse reproduziert werden. Diese Reproduktion ist, so Marx, «das sine qua non der kapitalistischen Produktion». Es ist richtig, dass er dabei die Rolle der unbezahlten, grösstenteils von Frauen erledigten Hausarbeit (ein Teil der Reproduktion) nicht eindringlich behandelt hat. Wie wird versucht, hier «über Marx hinaus» zu gehen?

Neue Wertlehre?
Sowohl Herzog/Schäppi, als auch Rytz meinen, mit dieser «Leerstelle» falle die ganze Wertlehre. Weil Marx die unbezahlte Hausarbeit vernachlässigt habe, habe er auch übersehen, dass sie auch «produktiv und wertschöpfend» sei. Was bedeuten «produktiv» und «wertschöpfend» bei Marx? Tauschwert haben diejenigen Produkte, welche für den Tausch produziert und auf dem Markt gehandelt werden — also Waren. «Wertschöpfend» bezeichnet solche Arbeit, die Waren produziert. Und produktiv ist diejenige Arbeit, die Mehrwert abwirft. Beides gilt in keinster Weise für die unbezahlte Hausarbeit. Das heisst nicht und hiess auch bei Marx nicht, dass wir unbezahlte Hausarbeit als weniger wertvoll in einem moralischen Sinn ansehen.

Ist das blosses Herumwursteln in Details? Keineswegs. Wenn wir annehmen, dass die unbezahlte Hausarbeit Wert schafft und vor allem Mehrwert abwirft — wer eignet sich diesen dann an? Die Antwort kann nur sein: die Männer. Der theoretische Fehler hat gewaltige politische Konsequenzen: Hausarbeitende Frauen müssten konsequenterweise gegen lohnarbeitende Männer einen Klassenkampf führen. Das hat nichts anderes zur Folge als die Spaltung der ArbeiterInnenklasse. Das allerdings ist nichts anderes als konterrevolutionär.

Spalten oder verbinden?
Während Herzog/Schäppi und Rytz meinen, die Leerstelle müsse mit einer veränderten Wertlehre gefüllt werden, «füllt» sie Funiciello mit Feminismus: «Wenn Marx die Bedeutung der Reproduktionsarbeit noch viel zu wenig im Blick hatte, so muss die feministische Kritik von Herrschaftsverhältnissen heute zentraler Bestandteil linker Politik sein.»

Ihr Feminismus beansprucht einerseits, «alle Machtstrukturen … zusammen denken» zu können; andererseits, «das verbindende Element aller dieser Kämpfe» zu sein. In Wirklichkeit macht Funiciello das genaue Gegenteil. Ihre Vorstellung, die Klasse könne sich «‘nur’ als Klasse» befreien, setzt das Missverständnis voraus, als ob Klassen und Unterdrückung der Frauen rein gar nichts miteinander zu tun hätten.

Zugegeben: Marx fokussiert auf die Produktion und abstrahiert weitgehend von der Hausarbeit. Aber es ist und bleibt die marxistische Methode, die die Verknüpfung «aller Machtstrukturen» aufzeigt: Aus der Weise, wie eine Gesellschaft sich in der Gesamtarbeit selbst erzeugt, gehen in letzter Instanz die Formen von Ausbeutung und Unterdrückung hervor. Dieser Blick offenbart die widersprüchliche Beziehung der Reproduktions- bzw. Hausarbeit, in welche übermässig Frauen eingespannt werden, zur kapitalistischen Produktion. Das ist die Grundlage der Unterdrückung der Frau im Kapitalismus — innig verwachsen mit der kapitalistischen Produktionsweise selbst.

Daraus folgt, dass der Kampf für die Überwindung des Kapitalismus steht und fällt mit dem Kampf gegen die Unterdrückung der arbeitenden Frauen — und umgekehrt. Funiciello fällt hinter Marx zurück: Nur wer mit Marx erkennt, wie die verschiedenen Unterdrückungen wesentlich zusammenhängen, kann in der Praxis die Kämpfe dagegen wirklich verbinden unter einem sozialistischen Programm.

Reformismus oder Revolution?
Auch in der Frage der Revolution, die Leben und Werk von Marx wie einen roten Faden durchzieht, soll’s «über Marx hinaus» gehen. Die einfachste Variante liefern diesbezüglich Glättli/Marti und Rytz. Bei beiden heisst «über Marx hinaus» nichts anderes, als Marx plump reformistisch zu verwässern. Beide geben sich zunächst marxistisch. Rytz: Umweltprobleme seien gekoppelt an den «Wachstumszwang» — d.h. die Notwendigkeit, Kapital anzuhäufen — und darum «ohne grundlegende Umstrukturierung der gegenwärtigen Produktions- und Distributionsstrukturen» nicht lösbar. Auch Glättli/Marti holen sich «Impulse», wie sie es nennen. Ganz richtig sagen sie, dass Maschinen nicht als solche die Menschen knechten. Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind es, in denen Maschinen eingesetzt werden, welche diese zu Mitteln der Ausbeutung machen. Die Konsequenz bei Marx: es sind die gesellschaftlichen Verhältnisse, die revolutioniert werden müssen. Die «Konsequenz» bei den grünen ReformistInnen: Forderungen, die «weder neu noch revolutionär» sind (Glättli/Marti); Alternativen, die «auch ohne ‘revolutionäre’ Umbrüche» möglich sind (Rytz).

«Transformation» — Aufhebung von Revolution vs. Reformismus?
Zwicky liefert die vernebelndste Variante namens «transformatorischer Wandel». Er gaukelt uns vor, er führe einen Zweifrontenkrieg — sowohl gegen Reformismus also auch gegen «die klassische Revolutionsidee».

Letzterer setzt Zwicky entgegen: «Ein Reich der Freiheit entsteht nur durch Freiheit», nicht durch Gewalt oder «Machterringung». Dahinter verbirgt sich eine alte, mit Marx hart zu kritisierende Idee, die Anarchismus und Reformismus gleichermassen verbindet. «Freiheit kann nur durch Freiheit geschaffen werden», schrieb schon Bakunin. Marx stand dieser Freiheitsmystik diametral gegenüber: die «Diktatur des Proletariats», also Beschneidung von Freiheit, ist ein notwendiges (aber von anderen Klassendiktaturen fundamental verschiedenes) Stadium auf dem Weg zum «Reich der Freiheit» — notwendig v.a. weil keine herrschende Klasse sich freiwillig die Herrschaft abnehmen lässt. Wer nicht bereit ist, den Herrschenden die Macht zu entreissen, sie selber zu ergreifen und sie diesen entgegenzustellen, muss sich ihnen unterordnen (vgl. «Zur Verteidigung der Diktatur des Proletariats»).

Konsequenterweise wirft Zwicky die «Machterringung» über Bord: kein «abrupter Bruch mit dem Bestehenden» soll es sein. Also? Ein linearer Prozess, der sanft in eine andere Gesellschaftsform überlaufen soll: kein Zerschlagen des bürgerlichen Staats, keine Machtergreifung durch die Arbeiterklasse. Vordergründig dagegen gewandt, versteckt sich hinter der «Transformation» Reformismus — codiert als «Transformationsprozess … in dessen Zentrum nicht die Destruktion der herrschenden Gesellschaft steht».

MarxyesMarx
Es ist kein Zufall, dass Revolutionäre wie Lenin, Trotzki oder Luxemburg, als sie den Marxismus weiterentwickelten, nicht eine Sekunde gross ausposaunten, sie würden jetzt «über Marx hinaus» gehen. Wieso nicht? Die marxistische Methode den sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnissen anzupassen und zu erweitern wo nötig, und veränderte gesellschaftliche Verhältnisse immer von Neuem marxistisch zu analysieren — das ist nichts anderes als Marxismus.

Aber nicht nur das: Die Theorie ist nach Marx nicht Selbstzweck, sondern sie ist der «Kopf» der Praxis. Nicht jeder Praxis: derjenigen Praxis, die sich daran macht, den Kapitalismus zu stürzen. Darum bedeutet heute, «mit Marx» zu gehen, seine Ideen zu denjenigen des wirklichen «Subjekts für den Kampf», die arbeitende Klasse, zu machen. Dazu braucht es eine revolutionäre, marxistische Organisation. «Das Werk von Marx heute wieder fruchtbar» machen, heisst, diese Organisation aufzubauen.

Jannick Hayoz
JUSO Stadt-Bern

Bild: denknetz.ch