Mit Medienkonferenzen und landesweiter Berichterstattung gaben der Schweizerische Gewerbeverband und die Erziehungsdirektorenkonferenz Ende März die Eröffnung der neuen Website www.anforderungsprofile.ch bekannt. Dafür wurden die Lehrberufe nach verschiedenen Bildungsanforderungen untersucht, und können auf der Website miteinander verglichen werden. Laut dem Basler Regierungsrat Christoph Eymann sei es das langfristige Ziel, so besser passende Lernende für die jeweiligen Berufe zu finden, und damit die Anzahl Lehrabbrüche zu verringern.

Hans-Ulrich Bigler, besser bekannt als Lügen-Bigler, stimmt ihm zu. Lehren werden aber nicht abgebrochen, weil die Lehrlinge schulisch falsch vorbereitet werden. Lehren werden wegen Hetze, Erniedrigung, und Kränkungen abgebrochen, die Lernende auszuhalten haben.

„Lehrjahre sind keine Herrenjahre“

Es ist tief ins Bewusstsein von Lernenden und Arbeitenden eingedrungen, dass Lernende doch die schlechten Bedingungen einer Lehre hinnehmen sollen. Die Lehre gehe ja nur drei bis vier Jahre, und wenn man ein paar Jahre „drunterkommt“, tue das dem Charakter gut. Die systematische Erniedrigung der Jugend wird damit gerechtfertigt, dass man halt erstmal so richtig erniedrigt sein muss, wenn man später das Berufsleben durchstehen will. Nur: Niemand wird gerne erniedrigt. Und um Erniedrigungen besser auszuhalten, hilft es gar nichts, häufiger erniedrigt zu werden. Und: Lehrlinge halten die Erniedrigungen der Lehre eben nicht aus, oder nur schwer. So beträgt die Quote der Lehrvertragsauflösungen etwa 28%. Jede Auflösung eines Lehrverhältnisses ist eine persönliche Tragödie; der Gesamtanteil an  Abbrüchen ist eine gesellschaftliche, zeigt sie doch, dass mit dem Berufsbildungswesen in der Schweiz etwas schief läuft. Offiziell tun die Betriebe diese Zahlen damit ab, dass sie den Grund für die meisten Lehrabbrüche in den schlechten schulischen Leistungen der Lehrlinge suchen, womit sie jede Verantwortung weit von sich weisen (vgl. Stalder/Schmid 2006: 55). Flankiert wird dieses manipulierte Bild durch Gratismedien, die bereitwillig vom Versagen der Lehrbetriebe ablenken und stattdessen Hetze gegen Jugendliche betreiben. So schreibt der Blick, dass Lehrlinge zu dumm für die Ausbildung seien. 20 Minuten lässt den „Psychologen“ Henri Guttmann krude Theorien verbreiten, wonach verwöhnte Teenager, die keine Lehrstellen finden, gefälligst mit harter Hand angefasst werden müssen, und sinniert darüber, wie Eltern ihren Kinder beizubringen haben, dass sie kleine Würmchen sind, die nichts zu melden haben.
Nur: Das stimmt nicht. Es sind die Betriebe, die Lernende zum Abbruch treiben. Lernende haben nicht das geringste Interesse daran, ihre Lehre abzubrechen, müssen sie doch ihre Berufsausbildung wieder von vorne anfangen.

Welche Lehrlinge brechen ab?

Wenn es so wäre, wie die Betriebe behaupten, müssten jene Berufe, die die höchsten schulischen Niveaus haben, auch am meisten Lehrabbrüche zu verzeichnen haben. Denn dort kommt es auf die schulischen Leistungen eben am meisten an. Aber das Gegenteil ist der Fall: In der Gastrobranche und bei Coiffeuren/Coiffeusen ist die Abbruchsquote am höchsten, bei beiden über 50%, gefolgt vom Bauhauptgewerbe (SRF 2013). Untersuchungen zu Lehrabbrüchen haben zudem gezeigt, dass fast die Hälfte der Lehrabbrüche in Berufen mit tiefem schulischen Anforderungsniveau passieren (Schmid/Stalder 2008: 15). Warum scheitern denn genau diese Berufe? Und warum scheitern sie dann schlussendlich in der Schule? Ein Zürcher Berufsschullehrer für Gastroberufe gab im Fernsehen die ernüchternde Antwort:

„Schüler sollten ja eigentlich am Tag vor der Schule um acht  fertig sein. Und dann gibt’s solche, die sind das nicht. Die bleiben dann im Betrieb, vielleicht bis um 11, 12. Wenn sie dann zuhause sind, ist es schon längst Mitternacht gewesen. Und wenn sie dann um halb acht in der Schule sind, voll Gas geben müssten, und aufnahmefähig sein müssten, ist das natürlich nicht der Fall. Und dann gibt’s auch immer wieder solche, die sagen, ich habe jetzt sechs Stunden zu viel geschafft, ist das überhaupt zulässig? Oder solche, die sagen, ich habe jetzt 12 Tage hintereinander geschafft, müsste ich nicht einmal einen freien Tag haben?“ (Blaser/Schnellmann 2014).

Es sticht also ins Auge, dass Lehrverhältnisse genau in jenen Berufen abgebrochen werden, wo der Druck auch ausgelehrt am grössten, die Arbeit am längsten und oder am schlechtesten bezahlt ist. Als Coiffeur arbeitet man viel für wenig Geld, als Coiffeurlehrling umso mehr und hat zudem noch Schulstress. Kein Wunder brechen viele Lernende ab oder schaffen die Schule nicht.

Warum brechen Lehrlinge ab?

Der schweizerische Baumeisterverband war so nett, Lernende für uns zu fragen, warum sie denn die Lehre abgebrochen haben (SBVZ 2014: 3). Die Ergebnisse sind ernüchternd. Hier wird ziemlich klar, was für ein Klima Lehrlingen gegenüber herrscht.
Arbeits und Ausbildungsbedingungen
Die Ergebnisse sprechen für sich und bedürfen nicht vieler Kommentare: Selbst der reaktionäre Baumeisterverband stellt fest, dass Lernende auf der Baustelle ziemlich allein gelassen werden, und dass sie offensichtlich fertig gemacht werden. Lernende sind unterfordert, werden fertig gemacht, ihnen wird nichts zugetraut, sie leiden unter zu viel Druck, finden keinen Anschluss, etc. Es zeigt sich ziemlich klar, dass Lernende erniedrigt werden. Es daher furchtbar nett, von Herr Bigler zu hören, was Lernende für Fähigkeiten brauchen, um diese Erniedrigungen auszuhalten. Wahrscheinlich läuft das auf der Website vom Gewerbeverband und der Erziehungsdirektorenkonferenz unter „Teamfähigkeit“.

Zudem ist erwiesen, dass die Anzahl der Lehrabbrüche ziemlich klar mit dem ökonomischen Status der Eltern zusammenhängt (Schmid/Stalder 2008: 15). Auf Deutsch: Je reicher die Eltern, desto eher kommst man durch die Lehre. Grössere Wohnungen, entspanntere Familienverhältnisse und sich „auch mal was leisten können“ führen dazu, mit dem übermässigen Druck in der Lehre besser zurecht zu kommen. Reichere Eltern machen auch mehr Probleme, wenn man ihre Kinder zu offensichtlich fertig macht. Sie sind nicht halb so abhängig davon, dass ihre Kinder schnell anfangen Geld zu verdienen, wie arme Eltern. Wohlhabende Eltern können es sich leisten, sich zu wehren. Wie das zu Herr Guttmanns Aussagen passen soll, dass Lernende zu verwöhnt sind, bleibt ein Rätsel.

Wie bei solchen Missständen in den Lehrbetrieben das Festlegen von Anforderungsprofilen helfen soll, die Lehrabbruchquote zu senken, kann, und will der Gewerbeverband nicht erklären. Er will wohl Superlehrlinge finden, die von reichen Eltern verwöhnt werden, keinen Schlaf benötigen  um nächtelang durchzulernen, nachdem sie den ganzen Tag erniedrigt worden sind.
Was wirklich helfen würde, wären menschenwürdige Lehrverhältnisse, wo Lernende, die gefördert werden und nicht „drunterkommen“.

Jene Betriebe, welche die Lernenden wie Dreck behandeln, sind noch in der Minderheit. Viele haben Glück mit ihrem Lehrbetrieb. Wir dürfen aber Eines nicht vergessen: auch wenn ein Lernender nicht täglich gedemütigt wird, ist er für das Unternehmen eine extrem günstige Arbeitskraft. Ein Lernender im letzten Jahr seiner Lehre kann so ziemlich alles machen, was er ein Jahr später können muss – und das nur zu einem Bruchteil des Lohns. Denn auch gute Lehrbetriebe stellen die Lernenden in erster Linie ein, um an ihnen zu verdienen.

Dass der Chef sich an dir eine goldene Nase verdient und man nichts zu melden hat, zählt für alle Menschen, die im Kapitalismus die Stellung eines Lohnempfängers haben. Dies trifft auf Lernende in noch stärkerem Mass zu. Sie werden doppelt und dreifach ausnutzt und manche müssen sogar ständige Demütigungen erleiden. Das alles nur, weil Lernende sich nicht wehren und ihnen auch niemand hilft, sich zu wehren. Nicht einmal die Berufsbildungsämter wollen den Lernende helfen, da sie den Lehrmeistern und Betrieben näher stehen als den Lernenden. Das können wir nicht akzeptieren. Wer uns sagt, dass Lernende nun mal „drunterkommen“ müssen, dem spucken wir ins Gesicht und sagen: Nein, nicht solange wir das ändern können!


 

Quellen:

Stalder, Barbara/Schmid, Evi (2006).  Lehrvertragsauflösungen, ihre Ursachen und Konsequenzen. Ergebnisse aus dem Projekt LEVA. Bern: Erziehungsdirektion des Kantons Bern.

Stalder, Barbara/Schmid, Evi (2008). Projektdokumentation LEVA: dritte Erhebung. Bern: Erziehungsdirektion des Kantons Bern.

SRF (2013). Jeder Dritte Lehrvertrag landet im Schredder.  [URL: http://www.srf.ch/news/schweiz/jeder-dritte-lehrvertrag-landet-im-schredder abgerufen am 07.04.15].

Blaser, Nina/Schnellmann, Urs (2014). Lehrlinge schieben Überstunden. Videobeitrag in SRF 10 vor 10 vom 24. Juni 2014. [URL: http://www.srf.ch/player/tv/10vor10/video/lehrlinge-schieben-ueberstunden?id=883eb45e-18a9-4270-98d2-51efd16a9825 abgerufen am 07.04.2015]

Schweizerischer Baumeisterverband Zürich (2014). Lehrvertragsauflösungen im Bauhauptgewerbe. [URL: http://www.baumeister.ch/fileadmin/media/2_Kernthemen/Berufsbildung/140602_lehrvertragsaufloesung_kurz_d.pdf Abgerufen am 07.04.15].