[dropcap]I[/dropcap]st der Staat eine neutrale Institution, die von der Linken einfach übernommen werden kann? Welche Rolle spielt die Ideologie in der Staatsfrage? Über einige reformistische Illusionen.

Im Hinblick auf die Debatte in der JUSO zur Staatsfrage haben wir in der letzten Ausgabe bereits einen Artikel zur marxistischen Staatstheorie veröffentlicht. Darin erklärten wir den Ursprung und Charakter des Staates und weshalb dieser ein Werkzeug in den Händen der besitzenden Klasse zur Erhaltung ihrer Privilegien darstellt. Dass dem so ist, ist jedoch nicht immer offensichtlich. Es geht gegen die alltäglichen Vorstellungen, welche die Mehrheit der Bevölkerung vom Staat hat, und die auch von der nicht-marxistischen Linken geteilt werden. Wir möchten deshalb in diesem Artikel der Frage nachgehen, weshalb der Staat im Kapitalismus nicht als „bürgerlicher“ Staat, sondern als neutrale Institution erscheint.

Ein wichtiger Faktor ist sicherlich der direkte Einfluss der bürgerlichen Ideologie auf die gesamte Bevölkerung und damit auch auf die organisierte ArbeiterInnenbewegung. Von Geschichtslehrern in der Schule oder Nachrichtensprecherinnen in den Medien werden wir kaum zu hören bekommen, der Staat diene der gewaltsamen Aufrechterhaltung der Ausbeutungsverhältnisse im Kapitalismus.

Allerdings können wir die Sache nicht darauf reduzieren, dass die herrschende Klasse ihre Ideen über verschiedene Institutionen in die Köpfe der ArbeiterInnen pflanzt. Die Illusion der Neutralität des Staates hat auch eine Grundlage in den wirklichen Strukturen der Gesellschaft im Kapitalismus, der sogenannten „bürgerlichen Gesellschaft“.

Form und Inhalt: Die bürgerliche Gesellschaft

Im Gegensatz zu früheren Epochen und Produktionsweisen sind die ArbeiterInnen im Kapitalismus rechtlich frei und gehören nicht wie ein Sklave oder ein Leibeigener ihren Herren. Dennoch besteht auch in dieser Gesellschaft ein Klassenverhältnis, welches die formelle Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft ihrem Inhalt nach in Unfreiheit verkehrt: KapitalistInnen besitzen Produktionsmittel und Kapital, ArbeiterInnen besitzen nichts anderes als die eigene Arbeitskraft, die sie für einen Lohn verkaufen müssen. Die absolute Mehrheit der Bevölkerung kann nicht wählen, ob sie in diesem formell freien Tauschakt ihre Arbeitskraft an einen Kapitalisten oder eine Kapitalistin verkaufen will. Sie muss es, um überhaupt überleben zu können. Auf diesen klaren Abhängigkeitsverhältnissen zwischen den Klassen fusst die gesamte kapitalistische Produktionsweise.

Wie wir bereits im letzten Artikel erklärt haben, hatte der Staat schon immer die Funktion, eine bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten, oder, was das gleiche ist, die Eigentumsverhältnisse zu garantieren. Als die bürgerliche Klasse im 18. und 19. Jahrhundert durch Revolutionen die alte Ordnung umgestossen hat, hat sie auch den Staat und das Rechtssystem so neu organisiert, dass diese den Eigentumsverhältnissen der neuen Produktionsweise entsprechen.

Doch hier kommt der springende Punkt: Wenn der bürgerliche Staat diese Eigentumsverhältnisse garantiert, die auf dem „freien“ Vertrag zwischen „freien“ Individuen besteht, dann erklärt er auch alle BürgerInnen zu „freien“ und „gleichen“ Rechtssubjekten. In den Gesetzen steht nicht geschrieben, wer der Besitzer von Produktionsmittel (KapitalistIn) und wer die Besitzerin von nichts als der eigenen Arbeitskraft (ArbeiterIn) ist. Der Form nach sind in der bürgerlichen Gesellschaft alle gleich, während ihre soziale Stellung im Klassenverhältnis doch ganz verschieden ist. Das hat zwei wesentliche Konsequenzen.

Die Trennung von Wirtschaft und Politik

Erstens bedeutet es eine „formelle Trennung von Wirtschaft und Politik“. Die Herrschaft des Kapitals fällt nicht unmittelbar mit der politischen Herrschaft zusammen wie in früheren Epochen. Die Produktion und die Verteilung der Güter im Kapitalismus sind Privatsache. Schliesslich gehören die Produktionsmittel dem Kapitalisten alleine und er kann mit den geschaffenen Waren seines Unternehmens machen, was der Markt von ihm verlangt.

Was in der kapitalistischen Wirtschaft geschieht, entzieht sich also erst einmal der Kontrolle der Politik und des Staates. Natürlich hat der Staat aber einen Einfluss auf die Wirtschaft, schafft Rahmenbedingungen für das Kapital und hat seit jeher in verschiedensten Bereichen mehr oder weniger direkt in die Wirtschaft interveniert. Dennoch ist es in der bürgerlichen Gesellschaft nicht eine Frage der Politik oder gar der Demokratie, was die kapitalistischen Unternehmen produzieren und an wen sie die Produkte verteilen sollen (das wäre ja Planwirtschaft!).

Deshalb erscheint nun aber umgekehrt auch die Politik als völlig von der Wirtschaft losgelöst und der Staat daher als neutral; schliesslich liegt der Klassengegensatz in den privaten Besitzverhältnissen, während der Staat genau diese ausblendet: Er tritt auf als Vertretung der Gesamtheit der Bevölkerung, bestehend aus angeblich gleichen Individuen.

Um die Illusion zu durchbrechen dürfen wir allerdings nicht vergessen, dass es sich doch nur um eine formelle und keine „organische“ Trennung handelt. Denn die Hauptaufgabe des Staates ist es genau, diese privaten Tauschbeziehungen, die ihrem Inhalt nach die Unterdrückung enthalten, rechtlich zu garantieren und Verstösse im Notfall mit Gewalt zu bestrafen. Sollten sich die Lohnabhängigen dazu entschliessen, den Besitzer oder die Besitzerin eines Unternehmens herauszuschmeissen und das Unternehmen in Gemeineigentum zu überführen, dann werden sie es mit der Staatsgewalt zu tun bekommen.

Die Illusion der Demokratie

Die zweite Konsequenz besteht darin, dass alle BürgerInnen eines Staates die gleichen politischen Grundrechte besitzen, die von den bürgerlichen „Rechtsstaaten“ garantiert werden sollen. Auch das lässt den bürgerlichen Staat als neutrale Institution erscheinen, schliesslich erlaubt es formell allen Staatsbürgern den gleichen Zugang zur Politik (und Justiz) des Staates. Und auch wenn Vetternwirtschaft und Korruption im Kapitalismus sehr weit verbreitete Phänomene sind, charakterisiert sich der bürgerliche Staat doch gerade dadurch, dass die politische Herrschaft nicht vererbt wird und nicht durch die Klassenstellung definiert wird.

Diese Grundlage für die Illusion in die Neutralität des Staates in der arbeitenden Bevölkerung hat sich noch verstärkt, als sich die bürgerlichen Demokratien und der Parlamentarismus mit allgemeinem Stimm- und Wahlrecht durchgesetzt haben. Die Politik erscheint nun erst recht als der politische Willen des Volkes. Der Glaube an die Möglichkeiten der formellen Demokratie ist aber selbst eine der stärksten ideologischen Stützen der Herrschaft des Kapitals. Denn gleichzeitig werden die Massen systematisch aus der gesamten Entscheidungsfindung herausgehalten und in isolierte Individuen aufgespaltet, die nur als einzelne BürgerInnen, nicht aber als Mitglieder einer Klasse, als soziale Kraft, in die Politik eingreifen können.

Konsens und Zwang

Mit einem Staats- und Demokratieverständnis, gemäss dem die Bevölkerung selbst alle politischen Freiheiten habe, stellt sich aber die Frage, weshalb dann nicht die arbeitende Klasse, die grosse Mehrheit der Gesellschaft, in der Politik bestimmend ist. Es muss, so die reformistische Vorstellung, an der ideologischen Vormacht der Bürgerlichen liegen: Die Macht der Bürgerlichen hält sich, weil die Unterdrückten die Ideologie der Herrschenden teilen.

Tatsächlich könnte die herrschende Klasse ihre Macht kaum längerfristig aufrechterhalten, wenn sie die arbeitende Klasse nur durch die rohe Anwendung der Gewalt des Staates niederhalten würde. Wie Gramsci erkannte, kommt zu diesem Element des „Zwangs“ auch noch das Element des „Konsens“ hinzu: die ideologische Zustimmung der Beherrschten zu ihrer eigenen Unterdrückung. Eine solche Zustimmung ist aber nur möglich, wenn auch eine gewisse materielle Basis dafür besteht: In Phasen, in denen die Wirtschaft flott wächst, kann auch die arbeitende Klasse ein Stück vom Kuchen erhalten, beispielsweise in Form von höheren Löhnen oder sozialer Absicherung.

Der Reformismus verfällt allerdings dem Trugschluss, dass die Bürgerlichen nur durch Konsens an der Macht sind. Entsprechend ist auch der Staat nicht mehr bürgerlich, sobald dieser Konsens gebrochen ist. Die Aufgabe der sozialistischen Bewegung wird so zur reinen Frage der Ideologie: Es geht einzig darum, die Bevölkerung zu überzeugen und so eine Mehrheit zu gewinnen.

Gramsci hat hingegen erkannt, dass beide Seiten – Konsens und Zwang – sich in der Ausübung der bürgerlichen Herrschaft durch den Staat gegenseitig bedingen und ergänzen. Der Zwang bleibt der letzte Garant für den Konsens: Wenn in einer Krise (wie der aktuellen!) die materiellen Zugeständnisse an die Lohnabhängigen nicht mehr möglich sind, ja die Profite sogar auf Kosten des Lebensstandards der Massen gerettet werden müssen, dann wird auch die ideologische Zustimmung zur herrschenden Ordnung untergraben.

Staat und Ideologie in der Krise

Je mehr die Bürgerlichen ihre Zustimmung verlieren, desto mehr tritt das Element des Zwangs und der Gewalt in den Vordergrund. Aktuell sehen wir überall, wie die Staaten autoritärer werden, Parlamente umgehen und auf die Massen, die sich gegen die arbeiterInnenfeindliche Politik wehren, mit Repression reagieren. Das Beispiel Frankreichs mit seiner „loi travail“ war in dieser Hinsicht mehr der Ausdruck einer allgemeinen Tendenz als eine Ausnahme.

Wir dürfen deshalb keine Illusionen haben. Wenn die ArbeiterInnenklasse beginnt, die formellen Freiheiten mit wirklichem Inhalt zu füllen, also Verbesserungen ihrer ökonomischen Stellung erkämpfen, dann trifft sie auf die Gegenmacht von Staat und Kapital, die sich nur noch wenig um „demokratische Freiheiten“ kümmern, um ihre Macht zu sichern.

Lassen wir das Rosa Luxemburg für uns zusammenfassen: „Zwar der Form nach dient der Parlamentarismus dazu, in der staatlichen Organisation die Interessen der gesamten Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen. Andererseits aber ist es doch nur die kapitalistische Gesellschaft, d.h. eine Gesellschaft, in der die kapitalistischen Interessen maßgebend sind, die er zum Ausdruck bringt. Die der Form nach demokratischen Einrichtungen werden somit dem Inhalt nach zum Werkzeuge der herrschenden Klasseninteressen. Dies tritt in greifbarer Weise in der Tatsache zutage, daß, sobald die Demokratie die Tendenz hat, ihren Klassencharakter zu verleugnen und in ein Werkzeug der tatsächlichen Volksinteressen umzuschlagen, die demokratischen Formen selbst von der Bourgeoisie und ihrer staatlichen Vertretung geopfert werden. Die Idee von einer sozialdemokratischen Parlamentsmehrheit erscheint angesichts dessen als eine Kalkulation, die ganz im Geiste des bürgerlichen Liberalismus bloß mit der einen, formellen Seite der Demokratie rechnet, die andere Seite aber, ihren reellen Inhalt, völlig außer acht läßt.“

Illusionen mit Folgen

Die Debatte über den Staat, die wir in der Juso führen wollen, mag abstrakt und rein theoretisch erscheinen. Doch sie ist von grösster Wichtigkeit für unsere politische Praxis. Illusionen in den bürgerlichen Staat sind ein Hindernis für eine realistische Politik.

Wenn der Staat und das Parlament als ein neutrales Terrain und als Ort der Politik schlechthin aufgefasst werden, dann hat das einerseits zur Folge, dass Möglichkeiten zur Veränderung der Gesellschaft nur innerhalb dieses Rahmens wahrgenommen werden. Die Politik läuft dann darauf hinaus, einen möglichst guten Deal im Parlament herauszuschlagen oder gar das „kleinere Übel“ zu akzeptieren. Und andererseits, dass die Linken als letzte Verteidiger der bürgerlichen Demokratie auftreten, in Momenten, in denen die politische Macht bereits in den Händen der arbeitenden Klasse liegt und die herrschende Klasse schon lange nur noch auf blinde Gewalt zur Verteidigung ihrer Privilegien setzt.

Keine Illusionen in den bürgerlichen Staat zu haben bedeutet aber selbstverständlich nicht, die Mittel der bürgerlichen Demokratie für unseren Kampf nicht zu schätzen und zu nutzen. Sie helfen uns, eine reale gesellschaftliche Kraft aufzubauen, welche die Macht der herrschenden Klasse in Frage stellen kann. Parlamentarismus und die Instrumente der bürgerlichen Demokratie können dabei aber nie mehr als ein Mittel zum Zweck des Umsturzes dieser Ordnung sein. Wenn sie zum Selbstzweck verkommen, ist alles verloren.

Martin Kohler
Juso Genf

 

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