Der Resultate der Wahlen in Italien haben viele Linke erschüttert. Wie lassen sich diese Entwicklungen erklären? Was bedeuten sie für den Kampf für den Sozialismus?

Die Ergebnisse der Wahlen im März und ihre Folgen haben grosse Teile der Linken in Panik versetzt. Die linken Parteien haben klar verloren, die populistische Fünf Sterne Bewegung (M5S) und die reaktionäre Lega haben stark an Zustimmung gewonnen und stellen jetzt die Regierung. Yannis Varoufakis beschreibt die Resultate der Wahlen als traurige Sackgasse. Viele Linke sprechen von einem Rechtsrutsch, gewisse sogar von Faschismus. Panisch mit Schlagworten um uns zu werfen hilft aber nicht weiter, wenn wir ernsthaft verstehen wollen was passiert. Als MarxistInnen ist uns klar, dass nicht bürgerliche Wahlen die Geschichte vorantreiben, sondern der Klassenkampf. Auch wenn er auf den ersten Blick eigenartige Formen annimmt, müssen wir ihn in jeder Situation erkennen. Das kann uns nur gelingen, wenn wir die Wahlen nicht isoliert betrachten, sondern die Veränderungen in der ganzen Gesellschaft im Auge behalten.

Über zehn Jahre Elend
Wie fast überall kann auch in Italien über 10 Jahre nach dem Beginn der Weltwirtschaftskrise von einer Erholung nicht die Rede sein. Das durchschnittliche Haushaltseinkommen ist immer noch tiefer als 2008, die Arbeitslosigkeit liegt bei 11%. In Teilen des Südens beträgt die Jugendarbeitslosigkeit bis zu 50%. Die Arbeitsbedingungen verschlechtern sich immer mehr. Dank brutalen Konterreformen wie dem «Jobs Act» wird Temporärarbeit für Millionen zur Normalität. Von den Stellen, die in den letzten vier Jahren neu geschaffen wurden, sind fast 60% temporär. Die Anzahl der Todesfälle am Arbeitsplatz steigt seit 2015 jedes Jahr. Nach offiziellen Angaben sterben inzwischen jeden Tag drei ArbeiterInnen bei der Ausübung von Lohnarbeit. Genau diese katastrophalen Bedingungen prägten die Wahlen im März.

Klare Gewinner der Parlamentswahlen
Die Botschaft von Millionen von Lohnabhängigen und Arbeitslosen war klar: Nein zu Austerität, nein zum Status Quo, nein zum Elend. Entsprechend verloren alle ehemaligen Regierungsparteien sehr stark. Die Partei, die von der Wut und der Unzufriedenheit über zehn Jahre voller leerer Versprechungen profitieren konnte, war hauptsächlich die Fünf Sterne Bewegung (M5S). Diese entstand 2009 als Protestpartei und gewinnt seither stetig an Unterstützung. Bei den Wahlen im März erhielt sie gut 33% der Stimmen und ist nun die mit Abstand stärkste Kraft im Parlament. Die M5S stellte sich im Wahlkampf klar gegen das «Establishment» und damit gegen Austerität und Korruption. Das Programm der Fünf Sterne Bewegung bot im Gegensatz zu den etablierten Parteien zudem direkte Verbesserungen. So versprach sie etwa eine Art Grundeinkommen von 780 Euro pro Monat für Arbeitslose – eine ungemeine Verbesserung für tausende ItalienerInnen, die jetzt gar kein Arbeitslosengeld erhalten.

Die zweite Partei, die stark zulegen konnte, ist die Lega – eine klar reaktionäre und rassistische Partei. Sie ist neu mit nun 17.4% der Stimmen die zweitgrösste Partei im Parlament. Während die M5S vor allem auf Stimmen aus der ArbeiterInnenklasse und von Arbeitslosen zählen konnte, punktete die Lega im stark von der Krise getroffenen Kleinbürgertum. Dieses bildete jahrelang die soziale Basis von Berlusconis Forza Italia – die Partei, die von grossen Teilen der Bourgeoisie unterstützt wurde. Doch dieses Mal gingen 41% der Stimmen, die noch vor 5 Jahren an die Forza Italia gingen, an die Lega – die jetzt mehr Sitze als die Forza Italia hat. Es ist klar, dass der offenen Rassismus der Lega in Teilen des Kleinbürgertums und wenig fortschrittlichen Schichten des Proletariats Anklang findet. Doch letzten Endes suchen auch diese nach Lösungen für ihre sozialen und ökonomischen Probleme. Das versteht auch die Lega und so engagierte sie sich im Wahlkampf demagogisch gegen die Erhöhung des Rentenalters. Das ist auch ein Teil der Erklärung, warum sie auch in der ArbeiterInnenklasse Stimmen gewinnen konnte.

Die Situation in der Linken
Den Aufstieg des M5S und teilweise auch den der Lega können wir nur verstehen, wenn wir uns die Italienische Linke anschauen. Die italienische ArbeiterInnenklasse war historisch sehr gut organisiert. Die Kommunistische Partei hatte zeitweise über drei Millionen Mitglieder und erhielt bei Wahlen zusammen mit der sozialistischen Partei regelmässig über 40% der Stimmen. Davon ist jetzt nichts mehr übrig.

Für den Partito Democratico, der Nachfolgepartei der Kommunistischen Partei Italiens, waren die Wahlen eine desaströse Niederlage. Der PD erhielt 30% weniger Stimmen und verlor im Vergleich zu den letzten Wahlen über die Hälfte der Sitze. Diese Niederlage ist die Folge jahrzehntelangen Verrats. Der PD trat wiederholt mit einem linken Programm an und wurde von den Italienischen ArbeiterInnen unterstützt. Nach ihrer Wahl vertraten die Politiker des PD aber nicht die Interessen ihrer Basis, sondern die des Kapitals. Und so war der PD in den Jahren seit dem Beginn der Krise das Hauptwerkzeug der italienischen Bourgeoisie um die unzähligen brutalen Angriffe gegen die ArbeiterInnen durchzudrücken. Dafür hat der Partito Democratico jetzt die Quittung erhalten. Er steht jetzt ohne soziale Basis da, gerade mal 11% der ArbeiterInnen gaben ihre Stimme dem PD. Stattdessen wählten über 40% der Lohnabhängigen die Fünf Sterne Bewegung.

Den anderen linken Parteien, die alle die Politik des PD jahrelang unterstützt haben, erging es gleich. Sie erhielten insgesamt weniger als 4% der Stimmen. Die Italienische ArbeiterInnen haben ihre Erfahrungen mit linken Parteien gemacht und haben sich nun enttäuscht von ihnen abgewendet.

Die Unterstützung der Fünf Sterne Bewegung
Nun blicken sie voller Hoffnung auf die Fünf Sterne Bewegung. Sie erhoffen sich, dass diese ihre Situation endlich ernsthaft verbessern wird. Der Aufstieg der M5Sist ein klarer Ausdruck der massiven Unzufriedenheit der Massen. Uns muss aber klar sein, dass das deutliche Resultat der Wahlen nicht bedeutet, dass die italienischen ArbeiterInnen ab jetzt die M5S und ihre Ideen bedingungslos unterstützen werden. Die allermeisten Leute wählen eine Partei nicht aus tiefer ideologischer Überzeugung. Sie sehen die Parteien als mögliches Werkzeug um ihre Probleme zu lösen. Wenn die Erfahrung zeigt, dass sich dieses Werkzeug nicht bewährt hat, kann eine Partei auch wieder an Unterstützung verlieren. Gerade in unruhige Zeiten wie heute kann das sehr schnell passieren. 2014 dachten viele, die Regierung Renzi sitze fest im Sattel, und das noch für Jahre. Zwei Jahre später scheiterte die Regierung. Der einzige Weg, wie sich eine Partei langfristige Unterstützung sichern kann, ist, wirkliche Verbesserungen zu bieten und sich so eine soziale Basis aufzubauen.

Kein Spielraum für die neue Regierung
Der Notwendigkeit des Aufbaus einer sozialen Basis ist sich die Führung der Fünf Sterne Bewegung durchaus bewusst. So unterstützt sie beispielsweise Streiks und versucht sich so die Unterstützung der ArbeiterInnen zu sichern. Wirkliche Verbesserungen für diese sind aber in der momentanen wirtschaftlichen Situation im Rahmen des Kapitalismus nicht möglich. Die Staatsverschuldung Italiens liegt bei 2.3 Billionen Euro, das sind 132% des BIP. Weltweit sind nur Griechenland und Japan noch stärker verschuldet. Wenn Di Maio, Vorsitzender des M5S und neuer Arbeitsminister, das versprochene Arbeitslosengeld einführen würde, kostete das laut Schätzungen bis zu 6% des BIP – Geld, das der Italienische Staat momentan nicht hat.

Der einzige Weg, Verbesserungen durchzusetzen, wäre eine Politik, die mit dem Kapitalismus bricht. Dazu ist die neue Regierung aber offensichtlich nicht bereit. In der Regierung spricht niemand mehr von den 780 Euro für Arbeitslose. Aus der Abschaffung des Jobs Acts, das tausende in die Prekarität stürzte, machten sie jetzt eine “Überprüfung”. Die verhasste Erhöhung des Rentenalters soll jetzt nicht mehr abgeschafft, sondern “überholt” werden.

Die Zerstörung der Illusionen in die Fünf Sterne Bewegung
Es ist klar, dass die Fünf Sterne Bewegung in der Regierung all ihre zentralen Wahlversprechen brechen wird. Damit wird es auch unmöglich, dass sie sich eine langfristige, stabile Unterstützung aufbauen kann. Varoufakis hat also durchaus recht, wenn er von einer Sackgasse spricht. Es ist aber nicht die Sackgasse des italienischen Proletariats, das reaktionären Ideen verfallen ist. Es ist die Sackgasse des Kapitalismus, der sich in der grössten Krise seiner Geschichte befindet und die grundlegendsten Bedürfnisse der Menschen nicht befriedigen kann. Diese Krise drückt sich auch in der Politik aus. Der Aufstieg der Fünf Sterne Bewegung ist dabei nur ein Ausdruck dieser Krise und des zugespitzten Klassenkampfes. Die ArbeiterInnen werden auch diese testen und ihre Schlüsse daraus ziehen. Und so werden auch die M5S und die Lega, wie der PD und alle anderen etablierten Parteien früher oder später zwangsläufig an Unterstützungen verlieren. Daran kann auch der offene Rassismus der Lega nichts ändern. Entscheidend für die Unterstützung sind nämlich letzten Endes die Lebensbedingungen der Leute. Diese verbessert sich nicht, egal wie stark Salvini gegen Geflüchtete hetzt.

Perspektiven
Der Unwille der M5S für echte Verbesserungen zu kämpfen, zeigt sich schon jetzt in den Aussagen der Führung. Er wird dazu führen, dass die Wut, die der M5S zum Aufstieg verholfen hat, sich noch weiter verstärken und sich gegen diese richten wird. Die unerträglichen Bedingungen der Krise und die Angriffe auf die verbliebenen Errungenschaften werden noch zunehmen. So werden die Massen früher oder später zum Schluss kommen, dass sie selbst mit ihren eigenen Organisationen aktiv werden müssen. Das könnte zu massiven Massenbewegungen führen, die die revolutionären Traditionen der Italienischen ArbeiterInnen und Jugend wiederaufleben lassen. Diese verschärfte Situation würden die Regierung testen und aufzeigen, wessen Interessen sie wirklich vertritt. Das könnte schlussendlich auch zum Sturz der Regierung führen. Wir wissen natürlich nicht, wann und wie genau das passieren wird. Gerade wegen des katastrophalen Zustands der Linken können wir auch nicht sagen, wer die Führung dieser Bewegungen übernehmen wird. Es ist aber klar, dass wir uns schon heute darauf vorbereiten müssen. Uns über Rechtsrutsche beklagen bringt dabei nichts. In der jetzigen Situation ist es mehr denn je die Aufgabe aller MarxistInnen, ihre Kräfte aufzubauen, um mit diesen in den kommenden Bewegungen zu intervenieren, für revolutionäre Positionen zu kämpfen und wirklich gegen das kapitalistische Elend zu kämpfen. Genau das tun unsere Genossen von Sinistra Classe Rivoluzione, der italienischen Sektion der IMT. Es liegt an uns, sie dabei zu unterstützen – indem wir dasselbe tun.

Flurin Andry
JUSO Stadt Zürich

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