Lange bevor die Sonne aufgeht, beginnt mein Tag als Verkäuferin in einer Bäckerei. Damit der Laden um 5 Uhr öffnen kann, startet die Frühschicht bereits um 4.30 Uhr morgens.

Sobald die Türen öffnen, muss ich alleine zwischen dem Einräumen der Backwaren, der Bedienung an der Kasse und dem Service im Café jonglieren. Da sich das Geschäft am Morgen mit viel Kundschaft füllt, ist dies ein äusserst herausforderndes Unterfangen. Manchmal bedeutet das für die Kunden längere Wartezeiten, wofür ich mir mitten im Stress Kritik anhören muss. Um dies zu vermeiden, haben wir bereits einige Male um eine Erweiterung der Frühschicht auf zwei Personen gebeten. Die Inhaber lehnten jedoch alle Anfragen ab unter dem Vorwand, es sei zu teuer, obwohl sie uns lediglich 20 Franken pro Stunde auszahlen.

Da wir in unserer Filiale ein sehr kleines Team sind, bricht bei einem Ausfall meistens Chaos aus. Aus diesem Grund werden wir häufig unter Druck gesetzt, trotz Krankheit zu arbeiten, obwohl wir mit vielen KundInnen und Lebensmitteln in Kontakt sind. Ein Höhepunkt war erreicht, als ich im Sommer an Corona erkrankte und meiner Chefin ein Foto des positiven Tests schickte. Zunächst verlangte sie von mir, dass ich nach Ladenschluss vorbeikomme, damit sie mir selber einen Test machen könne, da die Testungen gemäss ihrer Aussage nicht zuverlässig seien. Ich widersetzte mich dieser Aufforderung, blieb mit Fieber zuhause und meldete mich für einige Tage krank. Darauf rief sie mich an, um mir ins Gewissen zu reden, dass sie keinen Ersatz finden könne und es zum Arbeitsleben dazu gehöre, auch mal krank zu arbeiten.

In der Schweiz wird oft das Bild des ehrenhaften kleinen lokalen Gewerbes propagiert. Die Realität könnte aber anders nicht sein. Die Gesetze des Kapitalismus führen zu einer Zentralisation der Produktion und schliesslich zur Monopolbildung. Damit sich die sogenannten «KMUs» (kleine und mittlere Unternehmen) im Wettbewerb gegen grosse Unternehmen vorübergehend über Wasser halten können, sind ihre Besitzer dazu gezwungen, ihre Angestellten intensiver auszubeuten.

Für uns Arbeiter bedeutet das:

  • Ein Lohn von 20 Franken pro Stunde, egal wie lange man schon angestellt ist,
  • Zehnstündige Schichten mit kurzen Pausen,
  • Sechs bis sieben aufeinanderfolgende Tage Arbeit,
  • Häufiges Verzichten auf unsere Pausen,
  • Dauernd Anfragen an unseren freien Tagen,
  • Vernachlässigung von Hygienevorschriften.

Die intensivere Ausbeutung nimmt bei uns einen sehr absurden Ausdruck an. Jeden Morgen in der Frühschicht trifft man auf unseren Lieferanten, der melancholisch eine Zigarette raucht. Zwischen den Zügen klagt er stets über seine Arbeitsbedingungen. Der beinahe 80-jährige Lieferant ist nicht als Lohnarbeiter angestellt, sondern verrichtet diese Arbeit aufgrund einer unzureichenden Rente «freiwillig» gegen etwas Taschengeld. Sieben Tage in der Woche fährt er vor dem Morgenanbruch zwischen den Filialen hin und her, um Bestellungen zu transportieren. Seine Entschädigung dafür ist lediglich überschüssiges Geld bei der Kassenabrechnung, was sich am Ende des Monats auf wenige hundert Franken beläuft. Auch wenn man im Kapitalismus bis zur Pension hart arbeitet, steht einem als Arbeiter kein schönes Leben im Alter zu.

Trotz dieser Umstände stellt sich das Überleben dieser Kleinunternehmen spätestens in der Krise als unmöglich heraus. Bereits im Sommer schloss die erste Filiale der kleinen Kette, und als nächstes folgt unser Laden, der Ende Jahr zugeht. Für die Angestellten bedeutet das den Verlust ihrer Existenzgrundlage. Sie werden nun alle auf die Probe gestellt und diese Folge der Entwicklung des Kapitalismus wird zweifellos ihr Bewusstsein als Arbeiterinnen prägen.

Anonym
28.11.2022

Bildquelle: Flickr, Vincent Diamante