[dropcap]D[/dropcap]ie Geschichte der ArbeiterInnenbewegung ist aufs engste mit dem Kampfmittel des politischen Streiks verbunden. Der schweizerische Landesgeneralstreik 1918 war ebenso ein politischer Streik wie der Generalstreik in Frankreich 1968. Insbesondere seit der Weltwirtschaftskrise 2008 erlebte der politische Streik eine Renaissance.

Die ArbeiterInnenbewegung hat verschiedenste Kampfmittel zur Erreichung ihrer Ziele oder zur Bekämpfung von Angriffen auf ihre Errungenschaften zur Verfügung. Der politische Streik ist eines davon. Er richtet sich immer gegen gewisse Beschlüsse der Regierung oder des Parlaments oder gegen die Regierung als Ganze. Das Gegenstück zum politischen Streik ist der ökonomische Streik, bei welchem es um die Verteidigung oder Verbesserung von Arbeitsbedingungen geht und der sich gegen Unternehmen richtet. Um die politischen Streiks im heutigen Europa der Krise zu analysieren, ist es zentral, zuerst eine kleine historische und theoretische Annäherung vorzunehmen. Ausgehend von der Massenstreikdebatte in der Deutschen Sozialdemokratie anfangs des 20. Jahrhunderts und einer kurzen Diskussion des Generalstreiks in Frankreich 1968 werden wir uns mit den heutigen politischen Streiks in Europa befassen.

Massenstreikdebatte und Rosa Luxemburg

Anfangs des 20. Jahrhunderts kam es in der Zweiten Internationalen (1889-1914) und insbesondere in der Deutschen Sozialdemokratie zu einer leidenschaftlichen Debatte über die Rolle von politischen Streiks, Generalstreiks und Massenstreiks. Rosa Luxemburg prägte in dieser Debatte den Begriff Massenstreik, um sich sowohl gegen die anarchistischen als auch gegen die Rechten- und Zentrumströmungen in der ArbeiterInnenbewegung abzugrenzen. Die anarchistische Vorstellung eines Generalstreiks war, dass dieser sofort in einen Aufstand überführt werden muss, während die Rechten- und Zentrumsströmungen einen politischen Streik nur als letztes Mittel in einem Abwehrkampf sahen oder sogar grundsätzlich ablehnten. Luxemburg hingegen sah den politischen Streik als angemessenes Instrument zur Organisierung und Radikalisierung der ArbeiterInnenklasse auf dem Weg zur Revolution und somit als offensives Kampfmittel im Prozess der gesellschaftlichen Umwälzung.

Als Lehre aus der Russischen Revolution 1905, während der es mehrmals zu grossen politischen Streiks kam, teilte sie mit Lenin die Einschätzung, dass es für die Herausbildung einer revolutionären Bewegung eine Aufhebung der Trennung von ökonomischem und politischem Kampf braucht. Die Kommunistin Holst brachte das 1906 folgendermassen auf den Punkt: «Der politische Streik ist die Verbindung von politischem und wirtschaftlichem Kampf, die Mobilisierung der ökonomischen Macht des Proletariats zum Zwecke der Erreichung politischer Ziele» (in «Generalstreik und Sozialdemokratie»). Mit dieser Charakterisierung des politischen Streiks widersprachen Luxemburg, Holst und Lenin der damals vorherrschenden Meinung unter SozialistInnen, dass ökonomische Kämpfe von den Gewerkschaften in den Betrieben, und politische Kämpfe von der sozialdemokratischen Partei im Parlament geführt werden müssen.

Der französische Generalstreik 1968

Der französische Generalstreik im Mai 1968 war ein politischer Streik. Durch die Lahmlegung der Wirtschaft setzte die ArbeiterInnenklasse die Bourgeoisie gewaltig unter Druck. Durch diesen Massenstreik wurde eine revolutionäre Situation herbeigeführt. Es war ein allgemeiner, unbefristeter und offensiver Generalstreik, jedoch auch ein spontaner ohne die wirkliche Unterstützung der Führungen der ArbeiterInnenorganisationen. Wäre die anarchistische Idee, dass ein Generalstreik automatisch in einer Revolution mündet, richtig, hätte sich dies in Frankreich 1968 gezeigt. Dieser Generalstreik war, mit Luxemburg ausgedrückt, ein angemessenes Instrument zur Organisierung und Radikalisierung der ArbeiterInnenklasse auf dem Weg zur Revolution. So gesehen war dieser Generalstreik ein Musterbeispiel. Was jedoch fehlte, war eine revolutionäre Führung (siehe «Wenn Fabrik und Uni verfliessen», Seite 12) Der Generalstreik, der nicht automatisch in einer fertigen Revolution mündet, kann zwar spontan entstehen, aber erfolgreich, im Sinn einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft, kann er nur in fester Verbindung mit einer organisierten revolutionären Partei mit einer revolutionären Führung sein. Ansonst verpufft die Radikalisierung der ArbeiterInnenklasse im Sumpf der sogenannten Realpolitik der reformistischen Parteien.

Politische Streiks in Europa

Die Zahlen zur Entwicklung von politischen Streiks in Form von Generalstreiks der letzten Jahrzehnte sind eindrücklich. Von 1980 bis 2011 kam es in der EU-15 und Norwegen zusammen zu 95 Generalstreiks (Zeitschrift LuXemburg, 2/2012). Davon fanden 18 in den Jahren 1980 bis 1989, 26 von 1990 bis 1999 und 27 zwischen 2000 und 2009 statt. In den Jahren 2010 und 2011 kam es in diesen Ländern zu 24 Generalstreiks, also einem sprunghaften Ansteigen von politischen Streiks. Von 1980 bis 2009 konnten in rund 40% Prozent der Generalstreiks den Regierungen Zugeständnisse abgerungen werden. Ein gänzlich anderes Bild zeigt sich bei der Betrachtung der Generalstreiks in den Jahren 2010 und 2011 – nur in zwei Fällen konnten die Regierungen zu Konzessionen gezwungen werden. Leider liegen für die Jahre 2012 bis 2018 kein so exakten Zahlen vor. Aber auch das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung hat Mitte 2014 in einer Mitteilung (5/2014) festgestellt, dass die Wirkung von politischen Massenstreiks mit der Krise nachgelassen hat. Die 30 oder mehr Generalstreiks in Griechenland seit Beginn der Weltwirtschaftskrise 2008, die allesamt keinen Erfolg hatten, unterstreichen den Fakt, dass die politischen Massenstreiks nur noch selten Erfolge bringen.

Wieso die Generalstreiks keine Erfolge mehr brachten

Sämtliche Regierungen Europas wurden ab 2008 zu umfangreichen Sparpaketen gezwungen, um der Bourgeoisie ihre Profite einigermassen zu sichern. Die Sparpakete trafen die ArbeiterInnenklasse hart. Es war denn auch diese rigorose antisoziale «Kriegserklärung» gegen die ArbeiterInnenklasse, die ab 2010 zu einer regelrechten Welle an politischen Streiks geführt hat. Doch einerseits war die Bourgeoisie und ihre Regierungen krisenbedingt weder in der Lage noch bereit dazu, der ArbeiterInnenbewegung Zugeständnisse zu machen. Dass trotz umfangreicher Streiktätigkeiten keine Zugeständnisse erreicht worden waren, bestätigt, was wir seit Ausbruch der Krise immer wieder wiederholen: Die objektiven Gesetzmässigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise verhindern im Zeitalter der organischen Krise des Kapitalismus jegliche Zugeständnisse an die ArbeiterInnenklasse. Aber andererseits beschränkten sich die Gewerkschaften auch auf befristete Generalstreiks, die immer defensiver Natur waren. Den Gewerkschaften und der Linken mangelt es an Ideen, der ArbeiterInnenklasse eine Alternative aus der sozialen Misere der kapitalistischen Krise aufzuzeigen.

Während der französische Generalstreik 1968 offensiv und unbefristet geführt wurde, hatten die Generalstreiks ab den 1980er Jahren einen anderen Charakter – sie waren defensive und befristete Streiks. Ihre Erfolgsquote sank von 40% vor der Krise gegen Null seit Ausbruch der Krise. Die Praxis von befristeten Generalstreiks entfalt in einer Krisensituation lediglich noch geringe Wirkung. Sie ist in ihrer rein defensiven und befristeten Form kein taugliche Kampfmittel mehr. Die Führung der ArbeiterInnenklasse muss mit der Logik der Marktwirtschaft brechen. Offensiv, eskalierend und wenn nötig unbefristet geführt – so kann der politischen Streiks sein grosses Potenzial wieder verwirklichen.

 

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