[dropcap]E[/dropcap]ine kämpferische Stimmung und rote Nebelschwaden hingen in der Luft, als sich letzten Samstag 18’000 BauarbeiterInnen die Zürcher Strassen nahmen. 93% sind bereit zu streiken – der Kampf um den Landesmantelvertrag hat begonnen.

Das Limmatquai leuchtete rot, als sich letzten Samstag, 23. Juni 2018, BauarbeiterInnen aus der ganzen Schweiz zur Demonstration für den Landesmantelvertrag (LMV) versammelten. In der Luft hingen rote Rauchschwaden, rote Banner und Fahnen schwebten über der rotbekleideten Masse, auf deren aller Rücken eine weisse 60 prangte und in deren Händen sich rote Vuvuzelas befanden. Dazwischen vereinzelt ein blauer und oranger Block. Über den Mühlesteg gespannt das Banner: «Uniti siamo forti» – zusammen sind wir stark. Zur grossen Machtdemonstration hatte die UNIA über 18’000 BauarbeiterInnen und UnterstützerInnen nach Zürich mobilisiert, teils in organisierten Extrazügen aus Genf, Lugano, Basel und andere Schweizer Städten. Das Ziel des Tages: Den Baumeistern zeigen, dass die Arbeitenden nicht stillschweigend zuschauen, während ihr Lohn weiter sinkt und ihnen die Rente geklaut wird. Und das alles vor dem Hintergrund massiver Gewinne in der Baubranche.

Im Zug von Basel nach Zürich sprechen wir mit Ralf. Er ist 55 Jahre alt und arbeitet seit 40 Jahren auf der Baustelle. Schon nur vor den nächsten fünf Jahren bis zu seiner Pensionierung graut es ihm: «Mit 60 Jahren auf der Baustelle – das geht einfach nicht.» Wenn der Landesmantelvertrag (LMV) ablaufe, habe man gar keine Gewissheit mehr. Deshalb reist er an seinem freien Samstag nach Zürich.

Doch das Rentenalter beschäftigt nicht nur diejenigen, die kurz vor der Pension stehen: «Mir ist der Kampf für das Rentenalter 60 am wichtigsten» sagt beispielsweise ein 20-jähriger Bauarbeiter aus Basel. «Aber es macht mir auch Sorgen, dass die Krankenkassenprämien steigen, während gleichzeitig unsere Löhne gesenkt werden.» Deshalb sei er auch letzten Oktober an der Demonstration für Lohnerhöhung mitmarschiert.

Der Unmut gegenüber den Baumeistern entlädt sich auf der Strasse: Der Marsch durch die Innenstadt zum Helvetiaplatz wird begleitet von Pfiffen, lauter Trommlerei, trötenden Vuvuzelas und nicht zuletzt laut skandierten Chören. Parolen wie «Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Rente klaut!» finden bei den Demonstrierenden Anklang.

Die Gewerkschaften zeigen Stärke

Eine derartige Mobilisierung ist in der Schweiz eine Seltenheit. Kein Wunder, denn in keiner anderen Branche sind so viele ArbeitnehmerInnen gewerkschaftlich organisiert wie auf dem Bau. Das gibt der UNIA, aber auch den kleineren Gewerkschaften, eine enorme Schlagkraft. Dank dieser konnten in der Vergangenheit harte Kämpfe, wie der um die Frühpensionierung Anfang der 2000er-Jahre, geführt und gewonnen werden.

Und die Notwendigkeit dieser Mobilisierung haben die Gewerkschaften, allen voran die UNIA, erkannt. Ihre Ernsthaftigkeit zeigt sich in der Zeit, welche die GewerkschaftssekretärInnen in den vergangenen Monaten auf der Baustelle verbracht haben, um die Kampfbereitschaft unter den BauarbeiterInnen voranzutreiben. Denn nur der Druck von unten führt zu wirklichen Verbesserungen.

Neben der Demonstration muss man besonders die von den Gewerkschaften organisierte Anreise hervorheben: Diese bietet den BauarbeiterInnen die Möglichkeit sich über ihre Arbeitsbedingungen und Lebenssituation auszutauschen, ohne den Atem des Chefs im Nacken zu spüren. Dasselbe gilt für das gemeinsame Bier und die Bratwurst nach der Demo. Diese Momente, in denen sich die einzelnen LohnarbeiterInnen in einer Gruppe zusammenfinden, bilden den Nährboden für das Entstehen eines Klassenbewusstseins. Also der Bewusstwerdung, dass die LohnarbeiterInnen im Produktionsprozess dieselbe Stellung haben, welche sich durch die systematische Ausbeutung durch die KapitalistInnen auszeichnet. Diese Erkenntnis wiederum erhöht die Bereitschaft für weitere Kämpfe. In diesen Momenten ist aber auch eine demokratisch gewählte Führung gefragt, die an diesem Bewusstsein anknüpft und mit den Erfahrungen aus vergangenen Kämpfen seine Entwicklung vorantreibt.

Selbstdarstellung oder Kampfansage?

Doch eine kämpferische Tradition kann sich nur entwickeln, wenn sich die Gewerkschaftsbasis bewusst ist, dass sie sich nur selbst gegen die Baumeister durchsetzen kann. Die Gewerkschaften stehen in der Pflicht, die Bildung von Vertrauensgruppen bestehend aus BauarbeiterInnen auf ihren Baustellen voranzutreiben. Doch diese Selbstständigkeit der Arbeitenden scheint für die UNIA-Führung momentan nicht im Vordergrund zu stehen, was die Aussagen von Ralf zum Ausdruck bringen: «Man wird behandelt wie im Kindergarten. Wenn wir aus dem Zug steigen, müssen wir wohl in einer Zweierreihe gehen. Man weiss auch gar nicht so genau, worum es geht. Wir werden einfach informiert, was wir tun sollen. Aber mitdiskutieren können wir nicht wirklich.»

Diesen Eindruck erhielt man auch von der Kundgebung am Ende der Demonstration. Während sich der Umzug durch die kämpferische Bereitschaft der BauarbeiterInnen auszeichnete, glich die gewerkschaftliche Inszenierung auf dem Helvetiaplatz einer Show von Lady Gaga: Zwar wurde von den Gewerkschaftsfunktionären offen mit Streiks gedroht, eine für die Schweiz aussergewöhnliche Handlung. Die Ankündigung, dass im Falle der weiteren Kompromisslosigkeit der Baumeister 93% der Gewerkschaftsmitglieder bereit seien zu streiken, unterstrich die Drohung. Begleitet von kleiner Feuershow und roten Konfetti-Kanonen wirkte sie aber lächerlich. Entsprechend verhalten fiel die Reaktion der anwesenden BauarbeiterInnen und ihren UnterstützerInnen aus. Man wurde den Eindruck nicht ganz los, dass es der Gewerkschaftsführung mehr um die Selbstdarstellung ging, als um eine Kampfansage an die Baumeister.

Generationenwechsel und Gewerkschaften

Zu den lautesten auf dem Helvetiaplatz gehörten die Mittzwanziger, die sich direkt neben uns aufgestellt hatten und ohne übertriebenen Pomp die Menge anheizten. Sie gehörten aber – zumindest alterstechnisch – zur Minderheit. Auch während des Umzugs fiel das relativ hohe Durchschnittsalter auf.

Tatsächlich ist die Gewerkschaft unter den Jüngeren nicht mehr so stark verankert. Das muss dringend geändert werden, denn die erkämpfte Frühpensionierung zeigt ihre Wirkung. Die älteren BauarbeiterInnen stehen in der ausgeprägten Kampftradition der Saisonniers und der ehemaligen Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI). Mit ihrem wohlverdienten Übertritt in den Ruhestand drohen jedoch wichtige Erfahrungen verloren zu gehen.

Die gewerkschaftliche Generationserneuerung ist zugegebenermassen herausfordernd, aber auch überaus wichtig. Denn nur so kann die Schlagkraft der Gewerkschaft erhalten bleiben. Deshalb ist auch hier wichtig, dass der Fokus der UNIA-Sekretäre nicht nur auf den GAV-Verhandlungen liegt, sondern auch auf dem längerfristigen Aufbau von Vertrauensgruppen auf den Baustellen.

Die BauarbeiterInnen sind bereit

Der Kampf für die Verbesserung des LMV wird hart. Die gewerkschaftliche Mobilisierung und die Streikbereitschaft von 93% der organisierten BauarbeiterInnen zeigt aber, dass sie für diesen Kampf bereit sind. Es ist aber zentral, dass der Druck von unten weiterhin aufrecht erhalten wird und sich die Gewerkschaften dafür einsetzen, unter den BauarbeiterInnen eine kämpferische Tradition aufzubauen, die auch von den jüngeren mitgetragen wird.

Wir rufen dazu auf, die BauarbeiterInnen solidarisch in ihrem Kampf zu unterstützen. Denn die UNIA hat recht: «Uniti siamo forti»!

 

Helena W. und Anthea N.
JUSO Stadt Zürich und JUSO Basel-Stadt

Wieso ist der Landesmantelvertrag (LMV) wichtig?

Der Landesmantelvertrag ist der Gesamtarbeitsvertrag der Schweizer Baubranche. Ihm unterstehen über 80’000 ArbeiterInnen. Die Errungenschaften des LMV setzen wichtige Schwerpunkte für andere Branchen, was ihn zum wichtigsten GAV der Schweiz macht.

Alle 4 Jahre wird der LMV neu ausgehandelt: Der aktuelle Vertrag läuft Ende 2018 aus. Seit 2011 wurden aber keine Verbesserungen mehr erkämpft – umso wichtiger ist der aktuelle Kampf. In der Baubranche herrscht der höchste gewerkschaftliche Organisierungsgrad der Schweiz und die kämpferischste Tradition, was sich darin zeigt, dass es trotz Arbeitsfrieden kommt während der Neuverhandlungen regelmässig zu Streiktagen kommt.