Ein Bündnis von Gewerkschaften und linken Parteien setzt sich für einen kantonalen Mindestlohn in Genf ein. In Rekordzeit gelang es ihnen, die notwendigen Unterschriften für eine kantonale Initiative zur Einführung eines Mindestlohns von 23 Franken pro Stunde einzureichen.

Diese Initiative ist im gegenwärtigen wirtschaftlichen Kontext von Genf zu begrüssen. Der Schweizer Arbeitsmarkt ist historisch gesehen ultraliberal. Kündigungen sind sehr einfach und die Folgen für die Chefs völlig zu vernachlässigen. Es gibt in der Schweiz keinen Mindestlohn, und die Rechte argumentierte sogar, dass ein solcher verfassungswidrig sei. Kürzlich haben jedoch drei Kantone einen Mindestlohn eingeführt (Neuenburg, Jura und Tessin). Ohne Gesetzgebung gibt es keinen Schutz vor dem Druck, den die Chefs auf die Löhne ausüben können.

In Genf ist die Situation aufgrund der Grenzlage noch angespannter: 60’000 ArbeiterInnen überqueren täglich die Landesgrenze. Dieser massive Einsatz von GrenzgängerInnen erlaubt es den Arbeitgebern, Druck auf die Löhne auszuüben. Sie nützen den Vorwand: “Die Lebenshaltungskosten sind in Frankreich niedriger, so dass wir GrenzgängerInnen weniger bezahlen“. Im Gegenzug müssen alle Arbeitenden niedrigere Löhne akzeptieren.

Die Rechten schlagen mit der Frage der GrenzgängerInnen
Angesichts dieser Situation ist die vorherrschende politische Antwort derzeit jene der Rechten, insbesondere des MCG (Mouvement des citoyens genevois): „Schuld sind die GrenzgängerInnen, die den GenferInnen die Arbeit stehlen“. Diese simplifizierende Erklärung offenbart sich als falsch, sobald man sich fragt, wer von der aktuellen Situation profitiert und wer dafür verantwortlich ist. Diese Umstände nützen den KapitalistInnen, die sich zuerst „Rabatt“ nehmen bei den Löhnen der GrenzgängerInnen. Dann fordern sie diesen Rabatt auch von den Einheimischen. Damit können sie ihren Gewinn vergrössern. Doch wenn dieses Modell einfach zu durchschauen ist, warum funktioniert es heute so einwandfrei?

Zu lange hat die Linke in der Frage der Einwanderung und der Löhne eine defensive Haltung eingenommen. Das Fehlen einer schlüssigen Analyse der kapitalistischen Ausbeutung hat den Rechten das Terrain überlassen. Da die ReformistInnen keine Position hatten, liessen sie der Rechten freie Hand, um von den wahren Ursachen abzulenken.

Unter diesem Gesichtspunkt ist die Mindestlohninitiative ein interessantes Instrument: Sie ermöglicht es, anhand einer Klassenargumentation wieder Fuss zu fassen. Sie eröffnet eine neue Diskussion darüber, wer die Löhne festlegt – die Bossen und nicht die GrenzgängerInnen. Wird kämpferisch argumentiert kann man so den Rassismus bekämpfen.

Für eine Stärkung der Gewerkschaften und eine Verbesserung der Machtverhältnisse
Obwohl die Initiative im Gesetzestext einige Kompromisse eingeht (siehe Kasten), werden die Bürgerlichen sie kaum gutheissen. In Neuenburg haben die Patrons den Mindestlohn vor das Bundesgericht gezerrt und angefochten. Das obschon er in einer Abstimmung angenommen worden war. Nach sechs Jahren Verzögerung wurde diese Beschwerde nun 2017 abgewiesen.

Einige Schwachstellen der Initiative
Der Text der Initiative enthält einige Kompromisse gegenüber der Bourgeoisie. Junge Menschen sind weitgehend ausgeschlossen, da das Gesetz nicht für Lehrverträge und kleine Studierendenjobs gilt. So riskieren wir die Ausbreitung einer neuen Schicht von prekären Lohnabhängigen: die Jugend. Das Gleiche gilt für die ohnehin schon sehr prekären LandarbeiterInnen.

Dieses Urteil ist ein wichtiger Präzedenzfall. Doch wir dürfen keinesfalls Illusionen in den bürgerlichen Staat haben. Er bleibt aufseiten der herrschenden Klasse. Ob es eine echte, strenge Kontrolle gibt und das Gesetz durchgesetzt wird, hängt von der organisierten ArbeiterInnenbewegung ab. Die Kampagne muss daher von einer Offensive der Gewerkschaften begleitet sein.

In diesem Sinne enthält diese Initiative einen sehr interessanten Punkt, nämlich die gewerkschaftliche Kontrolle der Anwendung des Gesetzes. MilizbeobachterInnen haben das Recht, in Betriebe zu gehen, um die Einhaltung des Mindestlohns zu überprüfen. Dieses Zusammentreffen mit GewerkschafterInnen ist wichtig. Doch um das Potenzial zu nutzen, benötigt man gut verankerte Gewerkschaften. Die Schweiz hat in grossen Sektoren einen sehr tiefen Organisierungsgrad. Das könnte die Anwendung erschweren.

Wir begrüssen diese Initiative in einer Periode der rassistischen und fremdenfeindlichen Offensive. Sie muss als Werkzeug und kurzfristige Lösung verstanden werden und nicht als endgültige Antwort auf unsere Probleme. Kämpferischen Gewerkschaften ermöglicht die Initiative, über Löhne und Solidarität zu sprechen und die Unterbietung von Löhnen zu verhindern, die die Arbeiter zermalmt.

Charles T.
JUSO Genf