Die brasilianische Arbeiterklasse muss die Last der gesundheitlichen und sozialen Krise tragen. Gleichzeitig wird die Regierung Bolsonaros durch interne Spaltungen erschüttert. Was macht die Linke? 

Brasilien ist das vom Virus am stärksten betroffene Land Lateinamerikas: Es sind bereits über 130.000 Menschen gestorben. Diese tragische Entwicklung ist das Ergebnis von Bolsonaros Coronapolitik. So hat sich der Präsident von Anfang an gegen einen Lockdown und andere präventive Massnahmen ausgesprochen. Ziel seiner Politik war die Minimierung wirtschaftlicher Verluste durch die Aufrechterhaltung der Produktion. 

Angestaute Unzufriedenheit 

Bolsonaros Position bürdet der Arbeiterklasse beide Aspekte der Krise auf, nämlich die gesundheitlichen und die wirtschaftlichen Folgen. Einerseits stellt seine Verweigerung vorsorglicher Massnahmen einen Angriff dar, der in erster Linie auf die Gesundheit der schwächsten Bevölkerungsgruppen abzielt. Andererseits ermöglichen es die von der Regierung und dem Kongress verabschiedeten «provisorischen Massnahmen», die sozialen Errungenschaften der Arbeitenden zu zerstören und so die Profite der Kapitalisten zu wahren (z.B. Lohnkürzungen, erzwungene Inanspruchnahme von Urlaub aufgrund von Arbeitsmangel, Beschäftigung von Jungen und Alten ohne Zahlung von Sozialabgaben durch die Arbeitgeber usw.). Dies ist insbesondere für die ArbeiterInnen im informellen Sektor und die ohnehin schon prekär lebenden Bewohnerinnen und Bewohner der Favelas nicht ertragbar. 

Als Reaktion auf dieses Krisenmanagement sprachen gemäss einer Umfrage im Juni hohe 44% der Bevölkerung dem Präsidenten ihr Misstrauen aus. Es ist genau diese angestaute Unzufriedenheit, welche die Spaltungen innerhalb der Bourgeoisie verschärft. Gewisse Schichten der herrschenden Klasse geraten mit Bolsonaro in einen offenen Konflikt. Dies drückte sich in einer Reihe von Rücktritten aus, darunter der Abgang der beiden Gesundheitsminister und des Justizministers Moro.

Die Angriffe auf die Arbeiterklasse untergraben unaufhörlich die herrschenden Machtstrukturen. Aber sie sind unvermeidlich, da die Profitbedingungen der Kapitalisten durch die Wirtschaftskrise bedroht werden. Während sich der kapitalistische Wettbewerb also verschärft, kann die Einheit der herrschenden Klasse immer weniger aufrechterhalten werden. 

«Bolsonaro raus!» 

Diese Schwächung der gegenwärtigen Regierung würde für linke Parteien eine Gelegenheit bieten, sich als Alternative zu präsentieren, um die sich die Arbeiterklasse zum Kampf organisieren kann. Die Führungen der grossen linken Parteien, insbesondere der Arbeiterpartei PT, haben jedoch die von der marxistischen Linken initiierte Losung «Bolsonaro raus» erst mit Verzögerung übernommen. Für den ehemaligen Präsidenten Lula war zentral, die Länge der Amtszeit des Präsidenten nicht in Frage zu stellen und pseudodemokratische Werte zu verteidigen. Um der Pandemie entgegenzutreten, wird die Priorität auf die «nationale Einheit» gelegt. Ein weiteres Mitglied der PT, Tarso Genro, kündigte an, dass Bündnisse mit jenen gesucht werden, deren Wunsch es ist, «das republikanische Funktionieren des Landes zu retten (…) und das Land wieder auf den verfassungsmässigen Weg zu bringen». Und nun, da die Partei den «Bolsonaro raus»-Slogan formell angenommen haben, unternehmen sie nichts – insbesondere keine Mobilisierung –, um ihn praktisch umzusetzen. 

Die Inkonsequenz der reformistischen Führung hat es dem Bolsonaro-Regime erlaubt, sich zumindest temporär wieder zu retablieren. Seine Umfragewerte sind wieder angestiegen und haben im August sogar einen neuen Höchststand seit seiner Wahl erreicht. Der Hauptgrund dafür ist das Fehlen einer wirklichen linken Opposition.

Dies wird offensichtlich zu Lasten der dringenden Bedürfnisse der Brasilianer gehen. Der Handlungsspielraum der reformistischen Parteien, das heisst die Möglichkeit, einen Kompromiss mit der Bourgeoisie zu erzielen, war schon vor dem Corona-Ausbruch eingeschränkt. Aber das Ausmass der gegenwärtigen Krise, insbesondere der Einbruch der Rohstoffpreise, verunmöglicht es, die Früchte des Kapitals wie in Zeiten des Wirtschaftswachstums einfach umzuverteilen. Im Gegenteil: Die Kapitalisten werden sich weigern, die notwendigen Zugeständnisse an die ArbeiterInnen zu machen, und die Angriffe auf eben diese haben bereits begonnen. Nur der Kampf gegen den Kapitalismus und gegen die gesamte Bourgeoisie, die ihn verteidigt, bietet den Arbeitern und Jugendlichen einen Weg aus der Sackgasse Kapitalismus nach vorn in eine menschenwürdige Zukunft. 

Dieser Kampf ist nicht nur notwendig, er ist auch absolut möglich. Die brasilianische ArbeiterInnenklasse hat ihre Kampfbereitschaft in den letzten Jahren oft in massiven Demonstrationen auf den Strassen gezeigt, so auch im Juni. Sie braucht eine starke revolutionäre Organisation! Die Marxistische Linke (Esquerda Marxista), die brasilianische Sektion der Internationalen Marxistischen Tendenz, setzt sich tagtäglich für ihren Aufbau ein.

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