Das britische Kapital verliert zunehmend an politischem Boden. Die verlässliche Situation mit zwei Parteien, die beide pro-kapitalistische Politik machten, ist vorbei. Der versuchte Putsch gegen Jeremy Corbyn löste schwere Kämpfe aus, die das etablierte politische System in seinen Grundfesten erschüttern. Eine Parteispaltung ist möglich.
Der Brexit vom 23. Juni machte all jenen einen Strich durch die Rechnung, die auf ein ruhiges Sommerloch gehofft hatten. Seit dem Referendum haben sich die Ereignisse überschlagen und die Politik erweckt mehr und mehr die Aufmerksamkeit der Massen. Nach Jahren der Stabilität in Grossbritannien werden politische Kämpfe nun plötzlich belebt. Es gibt berechtigte Hoffnung auf eine Linksausrichtung der Labour Party (LP). Der britische Socialist Appeal spricht aufgrund der Schärfe der Konflikte sogar von einem parteiinternen Bürgerkrieg.

Britische Krise
Die Krise Grossbritanniens greift tief. Eine linke politische Kraft fehlt jedoch. Margaret Thatcher schwächte die Organisationen der ArbeiterInnen in den 1980er Jahren mit gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen. Tony Blair und co. haben dann ihr Übriges getan, um die LP so weit nach rechts zu rücken, dass sie für Lohnabhängige kaum mehr wählbar war. Bei der Wahl des Parteivorsitzes 2015 kam es zum ersten Schock: Das (Partei-)Establishment verkalkulierte sich und Jeremy Corbyn stach die drei BlairistInnen aus.
Mit Corbyn als Kandidat wurde die LP wieder interessant für die gebeutelten Lohnabhängigen und die Jugend. Solange der Schlagabtausch in Westminster zwischen der konservativen Partei (Tories) und LP stattfand und sich vor allem darum drehte, wo und wie stark gespart wurde, war sie es nicht. Die LP war ein reines Karrieresprungbrett für Liberale, die keine Verbindung zu den Tories hatten. In beiden Parteien vertritt die überwältigende Mehrheit der Parteibürokratie die Interessen des Grosskapitals.
Seit Corbyns Kandidatur wird diese Interessenvertretung endlich wieder infrage gestellt. Gründe dafür gibt es genug: Die marode Wirtschaft, schlechte Infrastruktur, desaströse Privatisierungsprojekte in der Gesundheitsversorgung (NHS), Post und vor allem im öffentlichen Verkehr sind schlechte Argumente, um den Status Quo aufrecht zu halten. Die etablierten VertreterInnen von LP und Tories haben einen schweren Stand. Während das britische Hauptquartier des Finanzkapitals – die City of London – seit Jahren den Hass auf sich zieht, kamen die einzigen lauten Stimmen, welche den Anschein erweckten, gegen das Establishment gerichtet zu sein, von weit rechts: aus der UKIP. In gewohnter Manier werden die MigrantInnen für die Krise verantwortlich gemacht.
Die Anti-EU- Propaganda der kleinbürgerlich-chauvinistischen «Little Englanders» soll von der kapitalistischen Krise ablenken. Sie haben keine Rezepte und viele ihrer WählerInnen legten früher LP ein und würden das auch in Zukunft wieder tun. 62% der UKIP-Wähler unterstützten Corbyns Kandidatur (Evening Standard). Das zeigt die geringe Zustimmung zum Establishment und der herrschenden Ordnung. Die Massen suchen nach einem Ausdruck ihrer Klasseninteressen. Wenn dieser auf der politischen Bühne nicht zu finden ist, werden sie passiv und die Unzufriedenheit flammt spontan auf. Protestvoten müssen wir als Zeichen dieser Unzufriedenheit verstehen wie beim Schottischen Unabhängigkeitsreferendum, den Europawahlen und vor allem beim Brexit.

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Entwicklungen der Parteimitgleiderzahlen (Quelle: House of Commons Librabry)

Corbyn als Labour Leader
Oberflächlich betrachtet kam die Wahl von Corbyn unvermittelt. Scheinbar plötzlich traten 180›000 neue Mitglieder bei, um Corbyn zu wählen. Und der Zulauf hielt danach an. Während von 2010 bis 2014 die Mitgliederzahlen bei 190›000 stagnierten, standen sie im Juli 2016 bereits bei 515›000 (siehe Grafik).
Hierfür gibt es verschiedene Gründe: Corbyn ist ein sauberer, ehrlicher Gegner bürgerlicher Politik und Kriegstreiberei. Das macht ihn glaubhaft und sympathisch für viele, die unter dem Kapitalismus leiden. Das politische Zentrum, also die Allianz aus Labour und Tory Parlamentsmitgliedern (MP), liest dem Kapital sämtliche Wünsche von den Lippen ab. Gemeinsam stehen beide klar in Opposition zu Corbyn und waren schon zuvor am Ende. Ihre Handlungsoptionen beschränken sich auf Austerität. Und Nigel Farages UKIP hat nach dem Referendumssieg kein klares politisches Ziel mehr. Zudem kann die nationalistische Rhetorik den Lohnabhängigen nichts bieten, im Gegensatz zur Bewegung um Corbyn.
Das britische Establishment ist sich wohl der Gefahr bewusst, die in der Corbyn-Bewegung liegt,. Kaum ein Tag vergeht, ohne Angriffe der bürgerlichen Presse. Kaum ein Presseorgan schaltet sich nicht in die internen Konflikte der LP ein. Während die Aufforderung vom damaligen Premier Cameron an Corbyn den Posten zu räumen (‘For heaven’s sake man, go!’) noch das eine ist, wird die Ernsthaftigkeit der Situation beim Economist klar. Die renommierte Wirtschaftszeitung sprach sich kürzlich dafür aus, dass sich der Blair-Flügel abspalten, die Parlamentsmandate mitnehmen und später in einem Rechtsstreit die Namensrechte zurückfordern sollte. Das Kapital will auf keinen Fall die Kontrolle über Labour verlieren, die Konsequenzen könnten verheerend sein.

Der Putschversuch
Die undemokratischen Strukturen der LP waren unter Tony Blairs Vorsitz verstärkt worden. Sie geben der Parlamentsfraktion (PLP) eine übermässige Macht gegenüber der Basis. Seit Amtsantritt war Corbyn immer wieder an die PLP geraten. Sie stellten sich gegen seine Anti-Austeritäts- Linie und unterstützten den Ausbau des Atomwaffenprogramms Trident. Nach dem Brexit sah die PLP den richtigen Zeitpunkt gekommen, um gegen Corbyn zu putschen. 172 LP-ParlamentarierInnen stimmten für ein Misstrauensvotum, das nach den Statuten der LP eine «Challenge» (Herausforderung) nach sich zieht. Die Parteibürokratie, die fast durchgehend aus BlairistInnen besteht, wollte Corbyn aber nicht auf dem Wahlzettel zulassen. Doch die Basis stellt sich gegen den Putsch.

Momentum
Die Momentum-Bewegung hatte sich aus der Corbyn-Wahlkampagne gebildet. Sie ist ein Zusammenschluss seiner Unterstützerinnen, die oft weiter links stehen als er selbst. Momentum vermochte sich zwar nicht demokratische Strukturen zu geben und sich politisch aufzubauen – sprich: sich ein Programm zu geben. Eine Starthilfe für die Verteidigung gegen den Putschversuch war sie aber allemal. Auf den massiven Zulauf war Momentum allerdings nicht vorbereitet.
Momentum mobilisierte die neuen und die bisherigen linken Mitglieder an Versammlungen der LP Sektionen, wo sie die BlairistInnen beinahe jedes Mal zahlenmässig klar übertrafen – oft um ein Vielfaches. An diesen Treffen prallte das unterschiedliche Verständnis der LP von links und rechts aufeinander. Die alteingesessenen Mitglieder verlangten Respekt vor ihrem langjährigen Engagement und bedingungslose Unterstützung für die MP.
Die jungen und neuen Mitglieder lassen sich davon aber kaum beeindrucken. Gewisse äussern sogar Unverständnis dafür, dass man schon vor Corbyn in der Partei war. Ihre Reaktion zeigt, dass sich hier eine klassenbewusste Politisierung abspielt. Die meisten, die der LP beitreten, tun dies in Unterstützung von Corbyn und seinem Kampf gegen die bürgerliche Krisenpolitik. Corbyn definiert zwar nicht klar, was er mit Sozialismus meint, aber die Dynamik in Grossbritannien wird das bald unumgänglich machen.
Der Putsch gegen Corbyn war ein Spiel mit dem Feuer. Und die herrschende Klasse hat sich arg verschätzt. Die zahlenmässige Stärke von Momentum räumte die bürokratischen Manöver aus dem Weg. In allen nicht gefälschten Statistiken – kein Mittel blieb unversucht von der Blair-Rechten – liegt Corbyn klar vorne. An den Nominationstreffen der Sektionen erhielt er 84% der Unterstützung sowie jene der wichtigsten Gewerkschaften und der LP Jugend. Was für ein Gegenstück zur rechten PLP!
Die Konflikte in der LP nehmen immer mehr klare Konturen an. Sie spielen sich an Klassenlinien ab. Die Propaganda der BlairistInnen, Corbyn sei unwählbar, ist vor dem Hintergrund des aktuellen Mitgliederzuwachses völlig realitätsfern. Das Argument zieht bei der Basis nicht. Corbyn ist im Moment die einzige Alternative. Owen Smith, der einzige Herausforderer, versucht zwar seine Inhalte zu kopieren und die Differenzen auf Auftreten und Äusseres zu reduzieren. Gelungen ist es ihm bisher nicht und wird es auch nicht. Zu wenig Blösse gibt sich Corbyn gegen rechts.

Die Aufgaben für die Labour-Linke
Eine mögliche Spaltung der LP könnte enorme Sprünge nach links auslösen. Der Kampf gegen die Tories muss endlich aufgenommen werden, dann steht einem klaren Wahlsieg nichts im Weg.
Die anhaltenden Sabotageakten der BlairistInnen müssen entschieden zurückgeschlagen werden. Immer wieder melden sich Parteirechte zu Wort und fordern den Ausschluss von Linken. Das “Compliance Unit” schliesst auch immer wieder Mitglieder von der Wahl aus, wenn die geringsten Anzeichen für die Unterstützung anderer (linker) Organisationen bestehen. Corbyn kritisierte diese Praxis mehrfach.
Der Blairflügel ist durchsetzt mit BürokratInnen, die Parteidemokratie scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Die Strukturen der LP benötigen eine grundlegende Überholung. Die PLP muss entmachtet werden. Wenn Corbyn am 24. September bestätigt wird, sollten in allen LP-Sektionen Neuwahlen stattfinden (‘mandatory reselection’) und MPs, die konsequent entgegen der Parteilinie handeln, abgewählt werden. Die LP benötigt ein Programm, das den Sozialismus als klares Ziel verankert. Blairs JüngerInnen, die dieses nicht vertreten wollen und können, sollten dem Rat des «Economist» folgen und sich abspalten. In einer Partei der Lohnabhängigen ist für sie kein Platz.
Die Abspaltung der Rechten ist das einzig denkbare Spaltungsszenario. Wir müssten es verstehen als organisches Ausscheiden von körperfremden Stoffen. Ob per Abspaltung oder Abwahl der Blair-BürokratInnen spielt eine untergeordnete Rolle. Nachdem die Krankheit, Blair’scher Sozialliberalismus, besiegt ist, kann der Kampf für das grössere Ziel erst richtig aufgenommen werden. Jeremy Corbyns Rolle im Kampf für den Sozialismus darf sicherlich nicht überbewertet werden. Aber mit ihm als Vorsitzenden stehen die Möglichkeiten für sozialistische Politik offen.

Defend Corbyn,
Fight for Socialism!

Michael Wepf
Juso Basel-Stadt