[dropcap]D[/dropcap]as Wahljahr in Deutschland verspricht seit der Nominierung Martin Schulz vor allem Langeweile. Die SPD erfindet sich mit ihm weder neu noch distanziert sie sich von der Grossen Koalition. Was können wir also vom Wahljahr erwarten und welche Rolle spielen die beiden Polparteien AfD und DIE LINKE?

Artikel von Anfang März 2017
Am 24. September 2017 wird in Deutschland der Bundestag neu gewählt und eine neue Regierung gebildet. Während noch vor wenigen Wochen schwarzmalerische Prognosen über die sogenannte Alternative für Deutschland (AfD) die Medien dominierten, ist es nun Martin Schulz. Die SPD-Leitung (nicht die Basis) hat den EU-Bürokraten zum scheinbar erfolgsversprechenden Kandidaten erkoren.

Schulz als Wundermittel?
Seit SPD-Chef Sigmar Gabriel die Kanzlerkandidatur für Martin Schulz freigab, steigen die Umfragewerte der SPD stark an. Martin Schulz ist wohl die letzte Hoffnung der deutschen Sozialdemokratie. Seine für SPD-Massstäbe relativ geringe Unbeliebtheit kommt daher, dass er ab 1994 im Europaparlament sass, das in Deutschland kaum Beachtung findet. Er kann also in der Öffentlichkeit als Saubermann auftreten. Ganz im Gegensatz zu Gabriel und seinen Vorgängern, die als Schröders Partners in Crime gebrandmarkt sind.

Doch natürlich ist auch Schulz nichts weiter als ein Opportunist, der gemerkt hat, dass mit einem rechten Programm nichts zu holen ist. Er spricht von einem «Gerechtigkeitswahlkampf» und will Löhne, Renten, Wohnungsbau und das soziale Europa thematisieren. Sein Leistungsausweis in Brüssel sieht anders aus: Er war stets Vertreter der Grossen Koalition (GK–Bündnisse der grossen Parteien) und hat sich dabei kaum gescheut, die Kapitalinteressen durchzusetzen, wenn es beispielsweise um die Erpressung Griechenlandsging.

Manche PublizistInnen wagen zu behaupten, mit Schulz könne die SPD Angela Merkel nach drei Amtszeiten besiegen. Diese verlor in den letzten Jahren immer mehr und seit der SPD’schen Kandidatenrochade erneut an Rückhalt. Momentan bewegen sich beide um die 30%. AfD, FDP, Grüne und Linke sind weit abgeschlagen und bewegen sich um die10%oder darunter. In einer anderen Situation würden diese 60% für die GK sicheres Geleit bedeuteten. Doch aktuell ist die herrschende Klasse gut beraten, nicht allzu beruhigt auf die altbewährten Pferde zu setzen. Im Osten hat die AfD mehrfach aus

Die deutsche Wirtschaft
Warum gewinnen nun im robusten Deutschland oppositionelle und rechspopulistische Parteien an Rückhalt? Die Arbeitslosigkeit konnte seit längerem eingedämmt werden, ist im Vergleich mit Nachbarländern niedrig. Mit 5.8% wurde im November 2016 ein Rekordtief erreicht. Doch wie wurde das bewerkstelligt?

Seit 2004 wurden 1.3 Millionen «flexibler» Jobs geschaffen. Das heisst, Stellen die nicht Vollzeit mit Festanstellung sind, sondern Arbeit auf Abruf, Teilzeit, temporäre oder befristete Stellen. Ebenso wurden die Tarifverträge (GAV) merklich ausgedünnt. Heute sind noch 34% im Westen und 25% im Osten einem Tarifvertrag mit BetriebsrätInnen unterstellt, knapp 10% weniger als noch 2003 (Uni Duisburg). Das machte Deutschland letztlich zu einem Billiglohnland.

Auch die Zukunftsaussichten schwanken zwischen unsicher und düster. Einerseits zeigte der Börseneinbruch der Deutschen Bank, die ungefähr 1,8 Billion Euro schwer geschätzt wird, im September 2016 auf, dass Deutschland alles andere als ein safe space ist. Die starke Exportabhängigkeit ermöglichte über viele Jahre ein scheinbar solides und nachhaltiges – da realwirtschaftliches – Wirtschaftswachstum. Doch in der Krise fehlen die Absatzmärkte und die Verliererländer der Europäische Union müssen bei Stange gehalten werden, um den Erhalt des Binnenmarkts sicherzustellen. Unter den herrschenden Verhältnissen erscheint es naheliegend, dass die Lohnabhängigen aus Deutschland für die vorläufige Rettung Europas bezahlen. Boulevardblätter wie die Bild und bürgerliche EU-Kritiker wie die AfD schlachten das haltlos aus, ohne eine Lösung zu präsentieren.

Letztlich entlädt sich die Unsicherheit und die berechtigte Wut vieler Lohnabhängiger Deutschlands in der Unterstützung von Anti-Establishment-Politik, wie sie teils die AfD und die CSU zu verkörpern versuchen, aber auch in den gestiegenen Konflikten in den Betrieben (2015 war ein Streik-Rekordjahr) und grossen Mobilisierungen. Gegen die sogenannten Freihandelsabkommen TTIP und CETA kam es zu den grössten Demonstrationen seit dem Irakkrieg. Letztlich fehlt aber das Gefäss, die Organisation, um solche Bewegungen zu einen und weiterzuziehen. Im Parlamentarismus wird ihnen schwerlich eine Stimme verliehen, wobei DIE LINKE eine unrühmliche Rolle spielt.

Die Linkspartei
Seit ungefähr letztem Sommer war DIE LINKE vorrangig mit zwei Themen präsent: rot–rot–grüne Koalition (kurz: r2g) und rechten Entgleisungen des Parteieliten – Ehepaars Wagenknecht–Lafontaine. Wagenknechts selbstbestimmte Taktik, mit kontroversen, reaktionären Äusserungen AfD-Wählende für die Linke (zurück-) zu gewinnen, überzeugt keineswegs. Den immensen Mitgliederschwund und die sinkende Zustimmung der letzten Jahre hat und wird das nicht kompensieren. Und wenn, dann wären sie wohl kaum die richtige Basis für den Parteiaufbau.

Nicht besser ist das Anbiedern des rechten Parteiflügels um Gregor Gysi und Bernd Riexinger in Sachen r2g. Obschon sie vom linken Parteiflügel harsche Kritik ernten, drängen die r2g-BefürworterInnen auf Konzessionen im Austausch gegen Ministersessel. Notwendige Zugeständnisse in Kriegs- , Aussenhandels- und Bündnispolitik (TTIP/ CETA) würden die Partei wohl völlig diskreditieren und die Unterschiede zur SPD zur Unkenntlichkeit verwässern.

Offensichtlich gibt es in Deutschland keinen Corbyn und keine Podemos.. Wagenknecht hatte früher dazu geneigt, momentan entfernt sie sich aber von einer solchen Rolle. Die Vogelstrausstaktik nützt jedoch wenig, deshalb riet die deutsche Sektion der IMT zu einer «fortschrittlichen Alternative»:

«SPD und Grüne zur Bildung einer Minderheitsregierung auffordern und den Antritt dieser Regierung ermöglichen, damit sie zeigen was sie können. Aber als DIE LINKE auf keinen Fall in die Regierung gehen und sich der Koalitionsdisziplin unterwerfen, sondern vor allem ausserparlamentarische Mobilisierungen betreiben. Alles Fortschrittliche an dieser Politik unterstützen, und seien es auch noch so kleine Verbesserungen. Alles Reaktionäre offen, deutlich und scharf kritisieren. Und so vor allem eine klare Alternative jenseits des Kapitalismus aufzeigen.»

Michael Wepf
JUSO Waadt