[dropcap]M[/dropcap]it dem Ja zur Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei werden die Kompetenzen von Präsident Erdogan massiv ausgebaut. Doch das Resultat bedeutet keineswegs, dass der Möchtegern-Sultan jetzt fester im Sattel sitzt – im Gegenteil.

Sonntag, 16. April, 21:00 Uhr: Erdogan präsentiert sich den Medien und verkündet den Ausgang des Referendums – das letzte gemeldete Ergebnis der Wahlkommission ist ein knapper Sieg des «Ja»-Lagers mit 51,3%. Einen «historischen Sieg» nennt es der türkische Präsident, in dessen Händen sich nun dank dem Abstimmungsergebnis eine gewaltige Machtfülle konzentriert.

«Du bist nicht unser Präsident!» und «Mörder, Betrüger, Erdogan!» schallt es dagegen eine Stunde später durch die Strassen Istanbuls. Tausende von mehrheitlich jungen Leuten strömen wenige Stunden nach Verkündung des Ergebnisses auf die Strassen, mit Pfannen, Kochlöffeln und kämpferischen Slogans – es herrscht eine Stimmung, die an die Gezi-Park-Revolte von 2013 erinnerte.

Das Resultat anfechten
Die Oppositionsparteien CHP und HDP fechten das Abstimmungsresultat an – in einem Drittel aller Wahlbüros sei es zu Unregelmässigkeiten gekommen; 2 bis 2,5 Millionen ungültige Wahlzettel wurden zugelassen, Wahlbeobachter der Opposition wurden bei ihrer Arbeit behindert oder durch Sicherheitskräfte eingeschüchtert. Auf den sozialen Netzwerken kursierten ausserdem Videos, in denen UnterstützerInnen von Erdogan ganze Stapel von Wahlzetteln in die Urnen einwarfen. Das Ergebnis des Referendums wurde offensichtlich manipuliert.

Keine rechtmässige Abstimmung
Bereits die Abstimmungskampagne verlief alles andere als rechtens. Seit dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 befindet sich die Türkei im Ausnahmezustand – momentan bis Juli 2017. In der Folge wurden mittlerweile über 100’000 Beamte entlassen und mehrere Tausend angeklagt. Letzten November wurden schliesslich 29 Abgeordnete der Oppositionspartei HDP, darunter die Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, eingesperrt.

Nach Angaben der Partei wurden ausserdem während der Abstimmungskampagne (die HDP war bedeutender Bestandteil des „Nein“-Lagers) etwa 3000 ihrer AktivistInnen verhaftet. Ausserdem sind durch die Säuberungen regimekritische Medien in ihre Schranken gewiesen worden. So wurden Ende Oktober beispielsweise auch 19 MitarbeiterInnen der bürgerlichen Oppositions-Zeitung Cumhuriyet verhaftet.

Angesichts dieser Repressionswelle verwundert es nicht, dass die Berichterstattung über die Nein-Kampagne auf ein Minimum reduziert wurde. Während Erdogan alleine zwischen dem 1. und dem 10. März eine Sendezeit von 169 Stunden von den staatlichen und privaten Fernsehsendern erhielt, kam die CHP auf gerade nur 45,5 Stunden, während die HDP komplett ignoriert wurde.

Ein PyrrhusSieg für Erdogan
Die Abstimmung über die Einführung eines neuen Präsidialsystems sollte dazu dienen, die Bevölkerung hinter dem Präsidenten als „starkem Mann“ zu vereinen und damit die zunehmende Spaltung der türkischen Gesellschaft zu überbrücken. In bewusstem Kalkül wetterte Erdogan gegen Deutschland und die Niederlande und beschwor ein Klima der Angst und folglich des nationalen Schulterschlusses gegen Europa, den IS und die kurdische PKK.

Doch bewirkt wurde das Gegenteil: Die diktatorischen Ambitionen und die bereits zunehmend autoritäre Herrschaftsausübung hat in den letzten Monaten zusätzliche Schichten der türkischen Jugend und der ArbeiterInnenklasse von Erdogan entfremdet. In Istanbul lehnten 51,35% das Referendum ab – das erste Mal seit 23 Jahren hat Erdogan hier seine loyale Mehrheit verloren. Auch in den anderen grossen Städten wurde das Referendum deutlich abgelehnt – in Ankara mit 51,25%, in Antalya sogar mit 59,8%. Auch im kurdischen Südosten wurde das Referendum mehrheitlich mit 60 bis 70% abgelehnt. Nur das ländliche Zentralanatolien stand hinter Erdogan.

Erdogan brauchte den Sieg
Auch in Umfragen sinkt die Zustimmung zu Erdogan und seiner AKP. Im November 2015 erreichten die AKP und ihr faktischer Juniorpartner, die rechtsnationalistische MHP, gemeinsam 61,4%, während sie mittlerweile trotz Wahlmanipulationen noch 51,4% der Stimmen auf sich vereinen konnten. Deswegen brauchte Erdogan dieses Referendum. Deswegen brauchte er dringend einen Sieg. Seit Jahren befindet sich sein Regime in einer ernsthaften Krise, welche die Zustimmung zu seiner Herrschaft in der Bevölkerung erodieren lässt.

Die Legitimität Erdogans und der AKP beruhen auf dem Wirtschaftsaufschwung der 2000er Jahre. Grosse Infrastrukturprojekte, gerade in vernachlässigten Landesteilen, haben der AKP Rückhalt unter dem anatolischen Kleinbürgertum und von Teilen der Lohnabhängigen verschafft. Durch klientelhafte Netzwerke umgab sich Erdogan mit einer neu aufgestiegenen KapitalistInnenfraktion, wies das bis dahin dominante Militär in seine Schranken und spielte verschiedene Sektoren des Staatsapparats gegeneinander aus, um seine eigene Macht zu festigen.

Herrschaft auf bröckelndem Fundament
Doch trotz einem vierfach grösseren BIP und besserer Infrastruktur ist die Bevölkerung nicht zufrieden, denn die offizielle Arbeitslosenquote ist mit 12.7% so hoch wie seit sieben Jahren nicht mehr. Von den 25.5 Mio. Beschäftigten waren 2015 35% zum offiziellen Mindestlohn angestellt. Die Inflation hat Anfang 2017 mit 11.3% den höchsten Stand seit neun Jahren erreicht, was die Bevölkerung deutlich zu spüren bekommt.

Während die Preise durch die Inflation nach oben getrieben werden, stagnieren die Löhne, wodurch die Einkommen der Lohnabhängigen also faktisch sinken. Somit wird deutlich, dass der türkische Kapitalismus nicht in der Lage ist, den Lebensstandard der Bevölkerung weiter zu heben.

Der Aufschwung der Türkei wurde grösstenteils durch Kredit finanziert. Die Verschuldung der Haushalte und des Privatsektors beträgt mittlerweile 130% des BIP. Profitiert hat vom Wirtschaftswachstum vor allem das reichste Prozent der Bevölkerung, dessen Vermögen um 14% gestiegen ist.

Klassenkampf ist zurück
Der Ausbruch der Krise 2008 bedeutete auch für die Türkei den Anfang einer neuen Phase. Angesichts der hohen Inflation und der Arbeitslosigkeit ist es nun nicht mehr möglich, die Bevölkerung mit günstigen Krediten zufrieden zu stellen. Um seine Stellung und seinen Reichtum zu verteidigen, muss das reichste Prozent auf drastischere Massnahmen zurückgreifen.

Diese Situation befeuert den Klassenkampf in der Türkei. Die Zustimmung zu Erdogans Regime ist eng an sein Versprechen, den Lebensstandard der Massen zu heben, gebunden. Politisch hat sich die zunehmend kritische Stimmung in der Bevölkerung etwa 2013 in der Gezi-Bewegung manifestiert, der ersten grossen Massenbewegung gegen die Erdogan-Regierung. Dazu kam der Aufstieg der prokurdischen Linkspartei HDP, die im Juni 2015 ins Parlament einzog. Ihr Sprung über die 10%-Hürde kostete die AKP ihre absolute Mehrheit.

Die HDP schaffte mit 13% nicht nur in den kurdischen Gebieten den Wahlerfolg, sondern gewann zum ersten Mal auch in den Vororten Istanbuls und Ankaras unter der Jugend und der ArbeiterInnenklasse an Zustimmung.

Neuwahlen und Krieg
Erzürnt über den Verlust einer loyalen Parlamentsmehrheit und verängstigt über den Aufstieg einer linken Alternative, rief Erdogan Neuwahlen aus und zettelte einen einseitigen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung an. Auf dem Höhepunkt des Bürgerkrieges wurde die Stadt Cizre belagert und für mehrere Tage von Nahrung, Wasser, Strom und medizinischer Versorgung abgeschnitten. Gleichzeitig wurden Tausende linke AktivistInnen verhaftet. Im ganzen Land wurden Büros der HDP überfallen und teilweise in Brand gesetzt.

Kurzfristig konnte Erdogan damit zwar seine UnterstützerInnenbasis unter der ländlichen Bevölkerung Anatoliens ausbauen und mit einer reaktionären anti-kurdischen Kampagne die Neuwahlen im November 2015 gewinnen. Doch mittelfristig destabilisierten die Offensiven im türkischen Kurdistan das ganze Land zusätzlich.

Verlorene Stabilität
Die Grundlage für Erdogans diktatorische Ambitionen ist der Verlust der relativen ökonomischen, sozialen und politischen Stabilität. Diese stellte im vergangenen Jahrzehnt den Sockel seiner Herrschaft dar. Angesichts dessen kam es auch zu Rissen innerhalb der herrschenden Klasse und des türkischen Staatsapparats, was sich etwa im Bruch mit der Gülen-Bewegung 2013 oder dem Putschversuch vom Juli 2016 manifestierte.

Je mehr die Zustimmung zu Erdogans Herrschaft schwindet, desto mehr ist er auf eine autoritäre Form der Herrschaftsausübung angewiesen.

Die liberale CHP trat in ihrer „Nein“-Kampagne hauptsächlich mit rechtlichen und technischen Argumenten gegen die Einführung des Präsidialsystems ein. Währenddessen verband die HDP den Kampf gegen Erdogan mit dem Kampf für Demokratie, Frieden und Arbeitsrechten. Ihre Kampagne zeigte ein grösseres Potential für einen dauerhaften Widerstand gegen das Regime Erdogan.

Kurdische und türkische Linke vereinen
Die HDP kann aber nur zu einer wirklich linken Opposition werden, wenn sie eine Verbindung zwischen der kurdischen und der türkischen ArbeiterInnenklasse herstellt und deren jeweilige Kämpfe mit einem sozialistischen Programm verbindet. Die jüngsten Proteste gegen das Abstimmungsergebnis oder die Frauendemonstrationen vom 8.März mit 40‘000 Teilnehmenden zeigen das Potential für eine solche Strategie auf.

Die kommende Periode wird die Instabilität der Türkei vertiefen. Der knappe Ausgang des Referendums hat Erdogans Probleme nicht gelöst, sondern seine Schwäche vor aller Augen offenbart. Die weiter ansteigende Inflation und Arbeitslosigkeit wird zum Ausbrechen neuer und alter Klassenkämpfe führen.

Eine sozialistische Bewegung
Die HDP kann sich nicht nur auf den Kampf gegen Erdogans Diktatur beschränken. Sie muss darüber hinaus eine Bewegung der ArbeiterInnen und Jugendlichen gegen die türkischen Industriellen und Banker aufbauen, die hinter der Diktatur, der Ausbeutung und dem Krieg stehen. Nur durch den Sturz der herrschenden Klasse in der Türkei und international lässt sich eine Gesellschaft aufbauen, die wirklich demokratisch ist – eine sozialistische Gesellschaft.

Flo Degen
JUSO Baselland

Julian Scherler
JUSO Stadt Bern