[dropcap]F[/dropcap]ür die Präsidiumswahlen der Juso haben beide Kandidatinnen, Tamara Funiciello und Samira Marti jeweils ein politisches Programm erarbeitet. Dies hebt den wichtigen Wahlkampf auf eine politische Ebene, auf der die Kandidatinnen nach ihren Vorstellungen einer richtigen Juso-Politik bewertet werden können. Um den Kandidatinnen die Möglichkeit zu geben, ihr Programm vorzustellen, haben wir uns mit beiden eingehend unterhalten. Wir publizieren hier unser Interview mit Tamara Funiciello. In den nächsten Tagen folgt jenes mit Samira Marti.

Tamara, als Kandidatin für das Präsidium der JUSO Schweiz hast du gleich einige umsetzbare erste Schritte vorgeschlagen (hier). Was willst du damit erreichen?
Ich schlage kein neues Programm vor. Unsere Ideen müssen mehrheitlich von der Basis kommen. Ich werfe einige Ideen ein. Es sind Prototypen, die man dann hoffentlich weiterspinnen kann. Mir ist es wichtig, dass die Leute konkret wissen, was ich meine. Ich habe das Gefühl, wir diskutieren oft mit leeren Worten. Was meinen wir denn genau mit „Wirtschaftdemokratie“, jetzt ganz konkret? Da unterscheide ich mich im Bezug auf Samira. Ich bin mit ihrem Programm mehrheitlich einverstanden. Aber ich will einige konkrete Ideen aufzeigen.

Verbesserungen für die Mehrheit durchzubringen ist heute fast unmöglich. Wie schauen wir, dass wir die Illusionen in die Reformierbarkeit des Systems nicht unterstützen?
Es gibt die Idee, dass man die Verelendung der Bevölkerung vorantreiben sollte, damit auch dem Hinterletzten klar wird, dass der Kapitalismus schlecht ist. Der Kapitalismus basiert auf der Konkurrenz und dem Streben nach Profit.
Ich bin aber für eine solidarische Welt mit einer Wirtschaft für die Menschen statt für den Profit. Der Kapitalismus kann nie gerecht sein. Er kann also gar nie allen von Nutzen sein, es ist immer ein Konkurrenzgedanke da, ob jetzt zwischen Menschen, Konzernen oder Staaten. Ich will, dass wir genau das endlich klar und deutlich machen, und zwar indem wir sagen, was ist, und gleichzeitig Alternativen präsentieren. Dies können wir aber nicht auf dem Buckel der Arbeiter*innenschaft machen.
Die sozialen Errungenschaften in Europa gehen aufgrund des steigenden Konkurrenzdruckes verloren, aber deswegen dürfen wir nicht aufhören, für diese zu kämpfen. Aus diesem Grund finde ich die Sozialpartnerschaft etwas Wichtiges, etwas das es voranzutreiben gilt. Hingegen unterstütze ich den sozialen Frieden nicht unbedingt.

Du sagst, die Juso solle einen Zeh im Parlament behalten und mit dem Fuss auf der Strasse stehen. Was ist die Rolle der Juso-Parlamentarier*innen?
Im Parlament kann man, wie auch auf der Strasse, Projekte und Ideen lancieren. Aber man muss das gezielt und mit der Arbeit auf der Strasse koordiniert machen. Wir sollten nicht über irgendwelche Fussgänger*innenstreifen diskutieren. Wenn wir im Parlament sind, müssen wir die Machtverhältnisse aufdecken, indem wir Projekte vorschlagen, auch wenn sie bei den aktuellen Mehrheitsverhältnissen keine Chance haben. Nur so können wir die Menschen zum Denken anregen. Deshalb ist eine Vertretung im Parlament nicht per se schlecht.

Was sagst du denn zu den SP-Parlamentarier*innen, die immer noch meinen, man könne progressive Allianzen schmieden?
Progressive Allianzen sind nicht unmöglich, aber das ist wieder die Thematik der Reformen. Wie gesagt: wenn solche Allianzen möglich sind, und zu Verbesserungen führen, soll man das sicher machen. Gleichzeitig sollten wir einen linken Diskurs versuchen aufzubauen, Alternativen aufzeigen und auf der Strasse aktiv sein.

Das ist heute also nicht der Fall?
Nein, ist es nicht. Es fehlt unter anderem an Koordination, Zusammenarbeit und einer Vision. Deshalb ist der Oppositionskurs der SP eine Chance, wenn sie es dann richtig macht.

Und wie schauen wir, dass unsere Abgeordneten das auch so umsetzen?
Ich habe bei der Lancierung meiner Kandidatur bereits diese Idee eingebracht, basierend auf einem Antrag, den die JUSO Kanton Bern letztes Jahr zuhanden der SP Kanton Bern eingereicht hat. Es ist mir wichtig, dass wir einen direkten Draht zu unseren Parlamentarier*innen haben und dass sie einem Vertrauensvotum unterliegen. Wenn es hier keine enge Beziehung gibt, macht das ganze keinen Sinn.

Gilt das auch für die SP-Bundesräte?
Zum Beispiel. Wieso muss die SP bedingungslos hinter Entscheidungen von Sommaruga oder Berset stehen? Exekutivpolitiker*innen haben eine andere Rolle. Ich bin nicht grundsätzlich gegen die Regierungsbeteiligung – auch eine Minderheitsbeteiligung – wenn man die grossen Spielräume nutzt, indem man z.B. Informationen weitergibt, Abstimmungstermine gut platziert etc. Diesen Spielraum muss man dann aber auch ausnutzen. Wenn man eine Bürgerliche oder einen Bürgerlichen mit SP-Stempel in ein solches Amt wählt, um die Politik der FDP zu machen, hat das keinen Sinn. Wenn die Exekutive sich nicht an Entscheide hält, dann muss die Partei sie zurückpfeifen.

In Bern hatten wir das Beispiel eines SP-Regierungsrates, der sich erlaubt hat, zwei Wochen vor der Abstimmung zur Erbschaftssteuer auf einer Doppelseite im Bund zu erklären, dass es der falsche Moment für die Erbschaftssteuer sei. Da hätte ich gleich Lust, Sachen herumzuwerfen. Es war eine sehr wichtige Abstimmung, die er torpediert hat, das darf nicht passieren.

Initiativ-Idee

Du verteidigst einen Vorschlag, nämlich die Reduzierung der Wochenarbeitszeit auf 25 Stunden bei gleichbleibendem Lohn. Welche politischen Diskussionen willst du dabei anstossen?
Im Bezug auf die aktuellen technischen Entwicklungen sagen die Bürgerlichen, wir hätten die industrielle Revolution ja auch überstanden und dass der Markt sich ja wieder erholen werde. Dabei geht vergessen, dass in der ersten Industriellen Revolution fast eine Halbierung der Arbeitszeit stattfand. Das muss jetzt wieder passieren. Eine Reduktion der Arbeitszeit bei gleichem Lohn. Mehr Freizeit ist nämlich auch eine Art der Rückverteilung. Wir müssen uns bewusst sein, dass Zeit ein sehr wichtiger Wert ist in unserem Leben. Und zudem will ich einen Diskurs anregen, wieso wir eigentlich arbeiten und für wen eigentlich.

Um Initiativen nicht völlig sinnentfremdet umgesetzt zu sehen, braucht es griffige Begleitforderungen. Beim Mindestlohn war das die Höhe von 4000.- Franken. Diese stand nicht im Text, wurde aber immer zusammen genannt. Welche solche Forderungen schlägst du für die 25-Stunden-Initiative vor?
Eine meiner Begleitforderungen ist die Aufwertung der Care-Arbeit, die Vertretung der Nicht-Erwerbstätigen durch Gewerkschaften. Es gibt heute nämlich viele, deren Lebensmittelpunkt nicht die Arbeit ist. Mehrheitlich Frauen und gerade bei Teilzeitbeschäftigten. Darüber hinaus müssen wir auch die Frage stellen, was mit der Produktivitätssteigerung passiert. Wohin geht der Profit?

Bei einer solch radikalen Idee müssen wir mit einer krassen Reaktion der Bürgerlichen rechnen. Gerade von Seiten der Unternehmer*innen, für welche grosse Mehrkosten entstehen würden. Was antwortest du ihnen?
Genau deshalb ist die Forderung nicht rein gewerkschaftlich, sondern revolutionär. Es kann nicht sein, dass wir uns jedes Mal diesem Druck beugen müssen. Wir müssen anhand dieser Forderung aufzeigen, dass wir unter der Knechtschaft dieser Unternehmen stehen. Es kann nicht sein, dass sie entscheiden, wie lange und was wir arbeiten. Wir müssen dieser Erpressung entfliehen. Dieser Moment wird kommen.

Falls sie angenommen würde und die Kapitalist*innen nicht mehr Investieren und ihre Betriebe ins Ausland verschieben würden; was machen wir dann?
Zuerst einmal müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass man viele der heutigen Dienstleistungen gar nicht auslagern kann. Das Wichtigste müsste vorher beginnen – Betriebe müssen endlich demokratisch kontrolliert werden. Das kann aber nur gelingen, wenn wir diesen Kampf international führen.

Das Bewusstsein verändern

Wenn linke Parlamentsarbeit nicht zu Verbesserungen führt, schlägst du die Abkehr von «progressiven» Allianzen vor. In der Sozialpartnerschaft sehen wir eine ähnliche Situation. Wieso verteidigst du diese trotzdem?
Nein, ich schlage nicht die Abkehr von «progressiven» Allianzen vor. Ich sage lediglich, dass sie nur eingegangen werden sollen, wenn wir eine reale Verbesserung erwirken können, die einen Schritt in die Richtung demokratischer Sozialismus ist. Gleichzeitig müssen wir den Diskurs prägen. Bei der Sozialpartnerschaft ist das ähnlich. Ich sehe im Moment keine Alternative dazu. Man kann schon auf die Sozialpartnerschaft verzichten. Die Frage ist, was danach passieren würde. Und da sind wir wieder bei der Verelendungstheorie.
Jeden Tag spreche ich als Gewerkschaftssekretärin mit Angestellten im Detailhandel. Das Verständnis und das Bewusstsein für eine revolutionäre Bewegung sind nicht vorhanden. Im Moment verlaufen die Konfliktlinien zwischen In- und Ausländer*innen statt zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen. Solange wir es nicht schaffen, dieses Verständnis voranzutreiben, indem wir eben linke Diskurse aufbauen und Alternativen aufzeigen, und nicht diese Kraft haben, müssen wir halt die Sozialpartnerschaft mit ihren Kompromissen vorantreiben. Sozialpartnerschaft ist die am wenigsten schlechte Lösung.

Wie verändern wir denn dieses Bewusstsein? Du sagst, eines der aktuell wichtigsten Themen sind die Sparmassnahmen. Wie soll die Juso hier intervenieren?
Es reicht nicht, zu sagen: „Sparmassnahmen sind Scheisse“, sondern es gilt zu erklären, wer eigentlich sparen will und wieso. Dann kann man den Teufelskreis aus interkantonalem und internationalem Steuerwettbewerb aufzeigen und erklären, dass dieses Modell im Nationalismus endet.
Gleichzeitig ist es wichtig, nicht abseits zu stehen. Wir warten zu oft, bis etwas passiert und schreiben hinterher eine Medienmitteilung. Wir müssen aber agieren und nicht bloss reagieren. Wir sollten früher dabei sein und mithelfen, Strukturen aufzubauen. In Bewegungen wie z.B. rund um die Asylthematik werden unterschiedliche Leute politisiert. Wir müssen ein Gefäss für sie darstellen, worin sich diese Leute voll engagieren können.

Du schlägst vor, eine breite linke Bewegung aufzubauen. An wen denkst du dabei? Und wo sind die Grenzen?
In erster Linie sollten wir uns mit der SP, den Gewerkschaften und der ausserparlamentarisch aktiven Linken koordinieren und eine breite Strategie anstreben. Wenn die jSVP Lust dazu hat, für das BüPF-Referendum Unterschriften zu sammeln, sollen sie das machen. Wir müssen aber einen linken Diskurs führen. Wir dürfen uns diesen nicht von der jSVP stehlen lassen.

Wieso gibt es diese breite Bewegung heute noch nicht?
Unser Problem ist, dass wir keine gemeinsame Strategie haben. Schon innerhalb der JUSO ist es oft schwierig. Aber wir sind auch nicht in der Lage, uns mit den Gewerkschaften und der SP zu koordinieren. Dennoch ist es die die einzige Lösung, in den Parlamenten Dinge zu platzieren, sie auf der Strasse zu vertreten, sie laut in die Bevölkerung zu tragen und so eine gemeinsame Strategie zur Erreichung des Ziels zu fahren – die Verwirklichung eines demokratischen Sozialismus.

Und welche Rolle spielt dabei die Juso?
Die Rolle der JUSO dabei wäre, mit einer krassen, radikalen Forderung den Anfang zu machen. Damit die SP dann diese in einer gemässigteren Form in einem Parlament verteidigen und eine reale Veränderung bewirken kann.

 

Bild : Tamara bei einer Protestaktion gegen die neue Demo-Kosten-Regelung in Bern
© Juso Kanton Bern