Rund 400 Delegierte der grössten Schweizer Gewerkschaft treffen sich am 4. Dezember zu einem ausserordentlichen Kongress in Lausanne. Im Mittelpunkt der inhaltlichen Diskussionen steht ein Positionspapier, welches die Rolle der aktiven Mitglieder und Vertrauensleute (VL) der Unia stärken möchte.

Ein Kongress ist in einer Gewerkschaft immer ein aussergewöhnliches Ereignis, an welchem wegweisende Entscheidungen getroffen und die Weichen für die nächste Periode gestellt werden. Der ausserordentliche Unia-Kongress vom Dezember verspricht darum einige Spannung, auch wenn er vordergründig nur die übriggebliebenen Anträge zu den Statuten des letzten Kongresses behandelt. Die Diskussionen, welche am Kongress stattfinden werden, sind im Kontext der objektiven wirtschaftlichen Bedingungen und den stattfindenden politischen Ereignissen zu verstehen.
Die Gewerkschaften stehen europaweit an einem Wendepunkt: Seit dem Beginn der Krise wurde deutlich, dass es den Gewerkschaften ohne Kämpfe und Mobilisierungen nicht mehr gelingt, den Lebensstandard und die Errungenschaften der arbeitenden Bevölkerung gegen die Angriffe der besitzenden Klasse zu verteidigen, geschweige denn durch soziale Reformen auszubauen.

Die Wirtschaftskrise hat auch in der Schweiz unzählige Jobs vernichtet. Im letzten Jahr gingen alleine in der Maschinen-, Elektro und Metallindustrie über 21 000 Stellen verloren. Nach der Abstimmung über die Abbaurevision der Arbeitslosenversicherung im September gehen die Angriffe der Bürgerlichen auf die Sozialwerke munter weiter. So konnte die 11. AHV-Revision im Parlament nur dank einer unheiligen Allianz der Linken mit der Schweizerischen Volkspartei (SVP) im letzten Moment noch gebodigt werden. Als nächstes steht die Revision der Invalidenversicherung (IV) vor der Tür, welche vorsieht, das 12 000 – 15 000 IV-Renten mittelfristig gestrichen werden sollen.

Sozialabbau, Sparprogramme und Stellenvernichtung sind die Antworten der bürgerlichen Abzocker auf die Krise. Die leidtragenden sind die Lohnabhängigen und die sozial Schwachen in der Schweiz und in ganz Europa. Vor diesem Hintergrund ist die Gewerkschaftsbewegung gefordert, sich zu wehren und ihre Mitglieder zu mobilisieren, wie kürzlich auf beeindruckende Weise in der Bewegung gegen die asoziale Rentenreform in Frankreich geschehen.

Krisendemo 2009

Die Krise sind sie, die Lösung sind wir!
Bereits im letzten Jahr lancierte die Unia unter diesem Titel eine Bewegung gegen die Krise. Vorläufiger Höhepunkt dieser Kampagne war die grosse Anti-Krisendemonstration im September 2009, an welcher über 30 000 Menschen in Bern auf die Strasse gingen. Mit einem klaren Nein zu einem tieferen Rentenumwandlungsatz bei der 2. Säule konnten im Frühling die Gewerkschaften unter massgeblicher Beteiligung der Unia den Rentenklau verhindern. Seit diesem Erfolg stellt der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) die Frage der «Abzocker gegen das Volk», also Oben gegen Unten, konsequent in den Mittelpunkt im Kampf gegen den Sozialabbau. Dass vermehrt wieder die Klassenfrage gestellt wird, ist nicht zuletzt dem Einfluss der Unia zu verdanken. Sitzen doch in der Geschäftsleitung mittlerweile mehrheitlich Kollegen, welche traditionell dem linken Gewerkschaftsflügel angehören und zumindest in ihrer Jugend nichts weniger als die soziale Revolution gefordert haben. Es wird immer offensichtlicher, dass die Unia die dominante sozialpolitische Gegenkraft mit Massencharakter in der Schweiz ist. Das nicht nur wegen ihrer rein zahlenmässigen Stärke von rund 200 000 Mitgliedern.

Auch wenn die Unia somit zur schlagkräftigsten und fortschrittlichsten Organisation der Lohnabhängigen geworden ist, gibt es aus unserer Sicht einige wichtige Kritikpunkte: Die Schwachpunkte liegen einerseits in den inhaltlichen Positionen und andererseits in der kleinen Anzahl von wirklich bewussten und aktiven Basismitgliedern.

Inhaltlich zeigte sich die Unia seit dem Beginn der Krise nicht von ihrer kämpferischsten Seite. Konjunkturprogramme, Kaufkrafterhaltung, Kurzarbeit und eine diffuses Programm zum ökosozialen Umbau der Gesellschaft waren die ungenügenden keynesianistischen Antworten. Gegen Massenentlassungen in Betrieben wurde nicht konsequent gekämpft, sondern früher oder später der Kompromiss mit der Unternehmensleitung gesucht. Resultate waren bisher ausschliesslich Sozialpläne, welche die sozialen Härten abfedern. Stellenabbau oder Betriebsschliessungen konnten nicht verhindert werden, sogar wenn die Angestellten zum Kampf bereit waren. Dies zeigte auch das jüngste traurige Beispiel der Schliessung der Bierbrauerei Cardinal in Frybourg. Der Gewerkschaftsführung fehlt es noch an Mut und Ideen mit der Unternehmerklasse zu brechen und die Machtfrage in den Betrieben und der Gesellschaft zu stellen. Dies ist auch keine Entwicklung von heute auf morgen, aber die Gewerkschaften würden gut daran tun, die Auseinandersetzungen mit den Unternehmern zu suchen, statt in der Klassenzusammenarbeit lediglich den sozialen Frieden durch Kompromisse mit der herrschenden Klasse zu verteidigen.

Geschichte der Unia
Nach der Gewerkschaft der Hochkonjunktur die Gewerkschaft für raue Zeiten aufbauen – so beschrieb Vasco Pedrina, ehemaliger Präsident der Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI), die grosse Herausforderung, vor der die Gewerkschaftsbewegung in den Neunzigerjahren stand.
Der linke Gewerkschaftsflügel, der damals in der GBI an die Macht gekommen war, definierte zwei grundlegende Probleme, vor der die Gewerkschaftsbewegung stand: Die jahrzehntelange Politik des Arbeitsfriedens führte erstens zu einer verheerenden Schwächung der Kampffähigkeit. So war es ein Ding der Unmöglichkeit, die Errungenschaften der arbeitenden Bevölkerung gegen die zunehmenden Angriffe und gegen die neoliberale Offensive der Unternehmerklasse zu verteidigen. Die neoliberale Ideologie und der gewerkschaftsfeindliche Individualismus hinterliessen ihre Spuren bis tief in die Organisationen und Parteien der Arbeiterbewegung. Zweitens wurde die Wende zur Deindustrialisierung und zum massiven Ausbau des Dienstleistungssektors verpasst. Die Folge war, dass sich seit den 70er Jahren nicht nur die Zahl der Arbeitnehmenden in der verarbeitenden Industrie und im Gewerbe sondern auch die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften halbiert hatten. Die Schlussfolgerungen daraus waren, dass eine neue Art von Gewerkschaftsbewegung nötig war: Eine kämpferische, interprofessionelle Gewerkschaft, welche die Rolle als sozialpolitische Gegenmacht einnimmt.

Als Antwort folgte die Gründung der interprofessionellen, branchenübergreifenden Unia im Jahre 2004. Die GBI Führung überzeugte dabei den rechten Gewerkschaftsflügel, der traditionell im Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverband (SMUV) und im VHTL (Gewerkschaft Verkauf, Handel, Transport und Lebensmittel) stark war, vom neuen Projekt. Aufgrund des vernichtenden Mitgliederrückgangs blieb praktisch keine andere Wahl als die Fusion und somit die Flucht nach vorne.

Die Bilanz nach 6 Jahren Unia ist mehrheitlich positiv. Wie oben bereits ausgeführt, wurden einige Fortschritte auf dem Weg zu einer kämpferischen Gewerkschaftsbewegung erzielt. Die Unia ist mittlerweile die zweite Referendumskraft im Land. Zudem konnte 2009 erstmals seit über 30 Jahren eine ausgeglichene Mitgliederrechnung präsentiert werden. Desweiteren wurde die Präsenz in den Dienstleistungsbranchen verstärkt. Ein zusätzlicher Faktor, der von der Gewerkschaftsführung oft angeführt wird, ist der schlagkräftige professionelle Gewerkschaftsapparat. In der Unia arbeiten 900 Angestellte, wovon etwa 350 Gewerkschaftssekretäre und – sekretärinnen sind. Gerade dieser Punkt besitzt einen Doppelcharakter, da mehr Profis auch mehr Geld kosten, tendenziell die Bürokratie begünstigen und die Stellvertretungslogik fördern. Dies ist auch einer der negativen Aspekte der Unia, der im Zusammenhang mit der Schwäche der Verwurzelung in den Betrieben und der Schwächung des VL-Netzes steht.

Stärkung der Unia-Vertrauensleute – die grosse Herausforderung
Erklärtes Ziel des Positionspapiers ist die Stärkung der aktiven Mitglieder in der Gewerkschaft. Die Unia soll daher nicht mehr einfach „für die Lohnabhängigen, Arbeitslosen, RentnerInnen und Lehrlinge agieren, sondern mit Ihnen“, wie es im Positionspapier steht. Eine Abkehr also von der Stellvertretungslogik, welche die Gewerkschaften seit Jahrzehnten dominiert. Die Einsicht wächst, dass ein schlagkräftiger Profiapparat die AktivistInnen nicht ersetzt und eine weitere Stärkung der Unia damit nicht möglich ist. Eine weitere Stärkung ist nur möglich mit der Stärkung der Vertrauensleuten und der Verwurzelung auf dem Terrain. So sollen die Unia-Netzwerke in Betrieben, vor allem in mittleren und grösseren, innerhalb von Branchen mit Gesamtarbeitsverträgen, in Ballungszentren, wie Industriecluster und Einkaufszentren und in den Ausbildungsstätten verstärkt werden. Die Verwurzelung auf dem sozialen Terrain soll über Gruppen und soziale Netzwerken unter Frauen, Jugendlichen, MigrantInnen und RentnerInnen erfolgen. Zudem durch vermehrte Präsenz in Quartieren und Gemeinden. Die virtuellen Netzwerke wie Facebook oder das Internet allgemein sollen dabei genauso beachtet werden wie politische Netzwerke.

Um eine solche Wende zu schaffen, braucht es mehr als nur eine Willenserklärung. Das Positionspapier fordert daher, dass der Apparat die nötigen Ressourcen in dieses Projekt investiert, was bisher immer ein Hindernis darstellte für Funktionäre, welche bereits in diese Richtung gehen wollten. Ausserdem sollen die Schulung und die politische Bildung der Vertrauensleute ausgebaut und verstärkt werden. Zusätzlich sollen den VL auch die nötigen Instrumente in Form von Kommunikationsmitteln und Treffpunkten zur Verfügung stehen.

Protestaktion auf der Baustelle für mehr Lohn, 2010

Wachstum und Aufbau der aktiven Vertrauensleute bedeutet Verschiebung der Macht vom Apparat zu den Mitgliedern. Die Frage der internen Demokratie wird darum im Papier ausführlich behandelt. Entscheidungsprozesse sollen – im Rahmen der statuarisch festgelegten Ziele und des Leitbildes von Unia – ergebnisoffen sein. Dies umfasst die strategische Linie, die Zielsetzungen, die Wahlen von Leitungspersonen und gewerkschaftlich Delegierten, Entscheide der Lohnpolitik und das Abschliessen von Kollektivverträgen sowie die Entscheidungsmacht über das Budget. Eine weitere Stärkung der aktiven Basis soll über den Aufbau von Branchen- und Betriebsgruppen erreicht werden, wofür wiederum die benötigten Ressourcen und das Bildungsangebot auch auf der lokalen Ebene zur Verfügung gestellt werden müssen. Dies ist momentan noch nicht gegeben: In der alltäglichen Gewerkschaftsarbeit mussten wir oft erleben, dass der Aufbau der aktiven Gruppen und Gewerkschaftsmitglieder wegen den zu geringen Ressourcen, welche der Apparat zu investieren bereit war, gehemmt wurde. Dies betrifft vor allem die Zeit, welche die GewerkschaftsekretärInnen dafür aufwenden können, da die Mitgliederwerbung den grössten Teil ihrer Arbeitszeit beansprucht. Gerade in der Jugendarbeit, die ein Schwerpunkt der Stärkung der Unia sein muss, aber auch im Aufbau von Betriebsgruppen oder gewerkschaftlichen Vertrauensleuten in den Branchen. Hinzu kommt das fehlende Knowhow auf der Seite des Apparats, sowohl bei neuen und unerfahrenen Funktionären wie auch der führenden KollegInnen.
Auf der einen Seite führt die Angst vor Machtverlust, auf der anderen Seite die Zwänge der Alltagsarbeit zur Niedrighaltung des politischen Bewusstseins der Vertrauensleute. So fühlen sich viele AktivistInnen nicht gut betreut, zu wenig miteinbezogen und wertgeschätzt, was das Interesse, aktiv zu sein, nicht unbedingt begünstigt.

Schlussfolgerungen
Trotz den beschriebenen Schwächen bewegt sich die Unia als Gesamtes in eine gute Richtung. Sogar auf der europäischen Ebene hat sich die Unia mittlerweile den Respekt des linken und die Abneigung des rechten Flügels eingeholt: Vor kurzem wurde dem geistigen Schöpfer dieser kämpferischen und demokratischen Neuausrichtung, Vasco Pedrina, von bürokratischen Teilen des europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) Spaltungsabsichten und Linksradikalismus vorgeworfen.

Als in der Unia aktive marxistische Strömung stehen wir voll und ganz hinter dem Richtungswechsel, die Basis zu stärken, und unterstützen das Positionspapier. Absichtserklärungen und Konzepte sind eine gute Sache, nur müssen diese dann auch jeweils wirklich umgesetzt werden. Dies werden wir fordern und aktiv unterstützen. Die Basis der Unia drängt bereits seit einiger Zeit in diese Richtung. Nun gilt es die Strukturen entsprechend anzupassen und die Ressourcen dafür zur Verfügung zu stellen.

In einem zweiten Schritt wird es um die inhaltliche Neupositionierung der Unia in der Gesellschaft gehen. Die Herausforderung ist es, die konkreten Tagesforderungen der arbeitenden Klasse mit der Forderung nach einem alternativen Gesellschaftsmodell zu verbinden. Dabei geht es um Positionen, welche nicht nur die Errungenschaften der Lohnabhängigen verteidigen oder ein grösseres Stück vom Kuchen einfordern, sondern getreu der revolutionär-marxistischen Traditionen der Arbeiterbewegung die Machtfrage in der Gesellschaft stellen. Dass dabei die heutige, national orientierte Standortlogik durch eine internationalistische Ausrichtung der Gewerkschaften ersetzt werden muss, ist selbstverständlich. Diese Diskussionen werden dann aber hoffentlich nicht mehr von einem kleinen Kern von ProfigewerkschafterInnen und AktivistInnen geführt, sondern von einer wachsenden Anzahl an bewussten und fähigen Gewerkschaftsmitgliedern, so wie es das Positionspapier fordert.

Daniel Flückiger
Gewerkschaftssekretär Unia Winterthur

Bild: Unia-Kongress 2008