Eine grosse Errungenschaft der ArbeiterInnenbewegung wird wieder angegriffen: die Officine im Tessin. Vor sieben Jahren wurde die Tessiner SBB-Industriewerkstätte besetzt, um Massenentlassungen zu verhindern. Im Zuge des Kampfes wurde die Officina von den ArbeiterInnen kontrolliert. Heute ist die Belegschaft wieder mit geplanten Massenentlassungen konfrontiert.

 

© Fondazione Pellegrini Canevascini

 

Mitte Oktober trafen sich die fünf führenden Köpfe des Streiks von 2008 und etwa 150 andere ArbeiterInnen der Tessiner SBB-Industriewerkstätte (Officina) mit Repräsentanten der Tessiner Regierung. Grund dafür war die schleichende Auslagerung der SBB-Werkstatt von Bellinzona nach Italien. Die Sorge ist, dass die SBB diese Werkstatt (wie schon 2008) schliessen will. Das wäre das Ende des Siegs von 2008 und der damit einhergehenden Errungenschaften.

Die Stimmung im Demonstrationszug und im vollbesetzten Grossratssaal war dieselbe wie während des damaligen Streiks. Etwa 150 IndustriewerkmitarbeiterInnen zogen mit den alten „giù le mani dalle officine“-Fahnen bis zum Regierungsgebäude durch die Strassen Bellinzonas und forderten die Erhaltung der etwa 130‘000 Arbeitsstunden, die die SBB durch die Auslagerung der Werkstatt für 2016 streichen will. Die Präsenz vor dem Regierungsgebäude war ein erster Schritt der Mobilisierung zur Verteidigung der Werkstatt.

Seit der Krise ist die konsequente Sparpolitik in der Schweiz nichts Neues; auch nicht beim öffentlichen Verkehr. Heute jedoch, da die Bahnen vom Bundesamt für Verkehr unter Druck gesetzt werden, indem von ihnen verlangt wird, mit immer weniger Abgeltungen zurecht zu kommen, ist es logisch, dass diese nach Lösungen suchen, um ihre Kosten zu senken. Unter diesem steigenden Kostendruck nutzen die ö.V-Unternehmen jede Gelegenheit, um ihre Abläufe zu „optimieren“ und Kosten zu sparen. Anstatt bei den hohen Direktionslöhnen zu sparen, wird bei den ArbeiterInnen gespart – vor allem bei der Officina, denn diese ist zusätzlich ein grosser, im Weg liegender Stein im Prozess der fortschreitenden Privatisierung der SBB.

Die SBB hat sich als Reaktion auf den Streik von 2008 verpflichtet, in den ersten Jahren der Gründung des „Kompetenzzentrums für nachhaltige Mobilität“, ihre Aufträge ans Industriewerk (IW) Bellinzona nicht zu reduzieren. Dieses Versprechen muss sie einhalten – tut sie aber nicht! Trotz vertraglicher Verpflichtung der SBB werden im IW kontinuierlich Arbeitsstunden reduziert. Die SBB hat bekanntgegeben, dass es seit 2013 eine Reduktion von 130‘000 Arbeitsstunden gegeben hat (von 430‘000 Arbeitsstunden im Jahr 2012). Ab nächstem Jahr sind im Industriewerk nur noch 300‘000 Arbeitsstunden geplant. Das ist eine Reduktion um etwa 20% innerhalb von drei Jahren. Eine Reduktion der Arbeitsstunden heisst nicht, die bestehenden Arbeitsstunden der jetzigen Angestellten zu reduzieren, um dabei mehr Menschen Arbeit zu geben, sondern einfach eine Reduktion der Arbeitsmasse, was zu Entlassungen führt.

Das Kompetenzzentrum, welches 2014 startete, war eine Idee des Regierungsrats Bellinzonas und bedeutete einen massiven Angriff der Herrschenden auf die Officina. Das Kompetenzzentrum sollte die Position der SBB im Konkurrenzkampf stärken, bedeutet jedoch unter anderem auch Stellenabbau. Die ArbeiterInnen der Officina wehrten sich 2008 gegen ähnliche Sparmassnahmen – mit Erfolg. Es wurde eine Volksinitiative eingereicht, nach der die SBB gesetzlich verpflichtet ist, die Arbeitszeiten der Officina-Mitarbeiter in den ersten Jahren des Kompetenzzentrums nicht zu reduzieren. Diese Initiative wurde im Tessin angenommen. Dass die SBB trotzdem Stellen streicht, ist das beste Beispiel dafür, wer in der bürgerlichen Demokratie die Oberhand behält. Die Interessen der herrschenden Klasse stehen vor den Interessen der ArbeiterInnen.

 

33 Tage Streik zur Erhaltung des Werks

Schon 2008 wurde gefordert: „Restrukturierungen und Garantien für den Erhalt des Industriewerkes in Bellinzona!“ Die SBB plante 2008 eine Streichung von 401 Stellen im Industriewerk von SBB Cargo in Bellinzona. Die MitarbeiterInnen nahmen dies nicht hin und streikten 33 Tage lang unter der Führung von Gianni Frizzo. Der ganze Streik stiess auf grosse Resonanz in der Bevölkerung im Tal selbst und über die Grenzen dessen hinaus.

Nach dem Streik hatte das Streikkomitee eine enorme Macht, die die der Direktion der Officine zeitweise übertraf. Selten hatte die Schweiz eine solch starke ArbeiterInnenmacht erlebt. Die Unterstützung des Komitees durch die KollegInnen und die BewohnerInnen des Tals war so gross, dass sie der Direktion einen Forderungskatalog vorlegen konnten, welchem diese bedingungslos zustimmen musste. Die wichtigsten Punkte waren:

Die Personalkommission wurde erweitert, sodass das ganze Streikkomitee ihr angehörte.

Die Direktion der Officine darf bei Fragen bezüglich Arbeitszeiten nicht mehr alleine entscheiden, sondern sie müssen vom Streikkomitee gutgeheissen werden. Das ging so weit, dass die ArbeiterInnen bei anstehenden Überstunden immer nachfragten, ob diese vom Komitee bewilligt sind.

Die Verhandlungen des Komitees und dafür eingesetzte Vorbereitungszeit sind Arbeitszeit und die Spesen werden bezahlt.

Den ArbeiterInnen war es erlaubt, während der Arbeitszeit Betriebsversammlungen abzuhalten. Dies war insofern wichtig, dass sämtliche Tätigkeiten des Streikkomitees demokratisch von der Basis, von allen ArbeiterInnen minutiös kontrolliert werden konnten.

Offensichtlich kontrollierten nach dem Streik 2008 die ArbeiterInnen vorübergehend die Officina. Es ging hier nicht nur um die Lohnfrage, Arbeitszeiten und Sicherheit, sondern auch um die Arbeit selbst. Die Direktion hat mehrmals versucht, das Streikkomitee aufzulösen, um die Macht zurückzugewinnen, scheiterte jedoch dank der Unterstützung der Bevölkerung im Tessin.

Mit dem restlichen Streikgeld von ca. 250‘000 Fr. hat das Streikkomitee einen Verein mit den ArbeiterInnen der Officina und den UnterstützerInnen gegründet, der der Verteidigung der Officine dient. Dieser wird jedoch von den Gewerkschaften misstrauisch beäugt. Anstatt den Verein zu unterstützen, stehen sie in Konkurrenzkampf zu diesem.

 

Der Wind dreht

Heute werden die Angriffe der Herrschenden Klasse immer harscher. Die Officina steht wieder, wie 2008, vor Massenentlassungen. Eine totale Auslagerung der SBB-Werkstätte nach Italien ist geplant. Für die SBB bedeutet dies nicht nur die Auslagerung von Arbeitsplätzen, sondern um die Beseitigung eines Problems: einer kämpferischen Belegschaft. Für die ArbeiterInnen bedeutet dies nicht nur eine Massenentlassung mehr, sondern auch den Verlust einer grossen Errungenschaft. Es kann nicht sein, dass mit der Begründung von Sparmassnahmen eine von der Basis demokratisch aufgebaute Werkstatt zerstört wird. Schon gar nicht, wenn der Lohn des SBB-Chefs Andreas Meyer von 2013 auf 2014 um 14% auf 1.072 Millionen Fr. stieg! Wieso aber steigt der Lohn des SBB-CEO, wenn anscheinend im grossen Masse gespart werden müsse? Einmal mehr wird gezeigt, dass nur die ArbeiterInnenklasse von Sparmassnahmen bedroht ist. Trotz der Krise des Kapitalismus bereichern sich die Kapitalisten auf Kosten der Lohnabhängigen. Somit erschaffen sie einen weiteren Widerspruch, der das Bewusstsein der ArbeiterInnen steigern wird. Das beste Beispiel dafür ist die Tessiner Officina selbst, die genau auf Grund dieser Widersprüche besetzt wurde.

Mit der vorübergehenden Arbeiterkontrolle konnte die Officina mit der bürgerlichen Idee der Verbilligung und der Rationalisierung zur Profitmaximierung brechen. Das Werk wurde auch nur dank der grossen Unterstützung erhalten, denn in der wirtschaftlich eher ruhigen Region ist dieses einer der grössten Arbeitgeber. Das einzigartige daran ist, dass nicht die Profitlogik, sondern die Bedürfnissen der Bevölkerung (Belegschaft und Tal-Gemeinschaft) im Zentrum standen.

Es werden noch weitere Angriffe kommen, denn für die Officina ist es ein dauerhafter Verteidigungskampf. Gianni Frizzo behauptet, die Officina wäre in der Lage die Angriffe der SBB abzuwehren. Der Vorfall Mitte Oktober gibt ihm Recht. Für den Moment bleibt die Officina bestehen. Die SBB hat jedoch bis 2020 anderenorts insgesamt 900 Stellenstreichungen geplant. Dass diese bekämpft werden können zeigen die Erfahrungen der Officina – das macht sie so wichtig. Wie in Bellinzona muss die Belegschaft die Einsicht in die Geschäftsbücher verlangen, damit die Argumentation der Geschäftsführung widerlegt werden kann. Dazu müssen ebenfalls demokratische Betriebsgruppen, wie das Streikkomitee der Officine, aufgebaut werden. Der SEV muss eine Rückverstaatlichung der SBB fordern. Die Aufgabe der Juso und der Gewerkschaften ist es, sich mit diesen Arbeitskämpfen zu solidarisieren und die ArbeiterInnen bei ihrer schwierigen Aufgabe unterstützen.

Für die Officina ist es wichtig, ihren Kampf weiterzuführen und nicht aufzugeben. Wir müssen jedoch aufzeigen, dass das Problem nicht nur bei der SBB liegt, sondern bei den herrschenden Verhältnissen. Die Officina hat vorbildlich aufgezeigt, wie wichtig es ist, sich nicht abzuschotten, sondern zu mobilisieren. Gianni Frizzo berichtete, das Streikkomitee habe über 15‘000 Telefonnummern von AktivistInnen, die jederzeit abrufbar seien. Die Frauen, die sich nicht direkt am Streik beteiligen konnten, haben eine Theaterkompanie aufgebaut, die sich der Verteidigung dieser Werkstatt widmet und auch wir aus der Deutschschweiz haben mitgeholfen, ein Solidaritäts-Komitee aufzubauen.

Um Verlagerungen und Stellenstreichungen zu bekämpfen, reicht es nicht aus für Reformen zu kämpfen, sondern, wie es die Officina gemacht hat, muss der Betrieb  von den ArbeiterInnen besetzt und kontrolliert werden. Nur dadurch kann ein Bruch mit der bestehenden kapitalistischen Ordnung erfolgen, wodurch die Interessen der ArbeiterInnenklasse im Zentrum rücken.

Wir stehen hinter den DemonstrantInnenen der Officina und solidarisieren uns mit ihnen. Sparmassnahmen müssen überall bekämpft werden. Die SBB soll rückverstaatlicht und unter die Kontrolle der ArbeiterInnen gestellt werden.

 

Compagni, issate la bandiera rossa contro la politica d’austerità, giù le mani dalle Officine!

GenossInnen, hisst die rote Fahne gegen die Sparpolitik, Hände weg von der Officine!

 

Tristan Parrat
Juso Basel-Stadt